Willibald Alexis
Ruhe ist die erste Bürgerpflicht
Willibald Alexis

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Zweites Buch

Erstes Kapitel.
Staub.

»Und wir behalten Frieden, und alles bleibt beim alten«, schloß der Geheimrat Lupinus, diesmal aber in der Jägerstraße, und schob den grünen Augenschirm zurecht.

Es lag eine sonntägliche Heimlichkeit über der geweihten Stube. Kein Dienstbote durfte sie aus freien Stücken betreten. Die Frau Geheimrätin besorgte selbst das Abstäuben der Bücher, und wenn sie der Hilfe einer gröberen Hand bedurfte, mußte der Fuß, der zu dieser Hand gehörte, die Schuhe zurücklassen. Aber das Abstäuben und Reinemachen war ein Festtag, zu dem man die günstige Stunde ablauschen mußte. Der Geheimrat behauptete, nichts sei so gefährlich der Gesundheit als der Staub; in demselben sammelten sich die Atome, die der organische Lebensprozeß nicht zu absorbieren vermöge, also das Tote, vielleicht das Tötende. Warum also das aufregen, künstlich in Bewegung setzen, was sich selbst bereits nach dem Gesetz der Schwere vom Leben abgesetzt hat?

Die Geheimrätin hatte dagegen nur zwei Einwendungen. Es sei doch besser, den Staub mit allen Vorsichtsmaßregeln für die Gesundheit, als da sind nasse Tücher, Handbesen, feuchter Sand und geöffnete Fenster, durch einen raschen, wohlgeleiteten Angriff zu bewältigen, als abzuwarten, bis eine zufällige Gelegenheit diesen Feind der Gesundheit von selbst in Aufruhr bringt. Demnächst, wenn er immer liegenbleibt, verderbe er die Bücher selbst, und darunter Raritäten, die unersetzlich wären.

Das letztere Argument hatte angeschlagen. Wenn Menschen sterben, werden andere dafür geboren; seltene Ausgaben, Inkunabeln, gehen unter, um nie wieder geboren zu werden.

Hinsichts des ersteren Argumentes hatte er manche Bedenken gehabt. Die Vorsicht, die man beim gefährlichen Ausstäuben anwende, könne besser darauf verwandt werden, daß man jeden Anlaß vermeide, der den Staub aufregt: wenn man leise gehe, leise spreche, sich jeder heftigen Bewegung enthalte, was überhaupt zur Konservation des Lebens zuträglich sei. Denn das eigentliche Gift des Lebensorganismus seien die Affekte, weit gefährlicher als üble Angewöhnungen, selbst als Laster. Deshalb hatte er an den Fenstern doppelte Reiber anbringen und Tuchecken an die Seiten anschlagen lassen, auch eine Doppeltür vor das Vorzimmer, und die gesteppte Tuchdecke verhinderte jede Erschütterung beim Gehen.

»Sie vergessen nur«, hatte die Geheimrätin erwidert, »daß Ihre Fußdecke mit dem Heu darunter selbst ein Staubreservoir ist und daß Sie beim leisesten Auftreten diese feinen Atome aufrühren, und gerade die, welche am gefährlichsten auf die Lunge fallen.«

Der Geheimrat sparte im Leben die lauten Worte, da ein Wortwechsel auch mit sich selbst zu Affekten führen kann, aber wenn ein Thema ihn angeregt, was ihn interessierte, oder andere es in ihm angeregt, ergossen sich auch die lang gesperrten Schleusen in langen Sermonen. Er erinnerte daran, daß die Müller und Steinsetzer ein verhältnismäßig kurzes Leben führten und gewöhnlich an der Auszehrung stürben, weil der feine Mehlstaub von den zerklopften und gefeilten Sandsteinen auf die Lunge falle. Es gebe auch einen Staub von gewissen Vegetabilien, Steinerden und Metallen, so feiner Art, daß ihn das unbewaffnete Auge nicht zu entdecken vermöge, und doch sei er höchst schädlich. So wirke der Arsenik in den Gruben. Gewöhnlich sage man, die Verbrecher, die dort arbeiten, stürben an der vergifteten Luft, das sei aber uneigentlich gesagt, denn sie kämen um an dem atomisierten Staub des Metalls. Im Mittelalter und aus den Höhlen des Jesuitismus seien daraus grauenhafte Künste hervorgegangen, man habe durch künstlich präparierte Stoffe einen Staub erzeugt, der plötzlich oder langsam nach einer gewissen Berechnung die dazu erwählten Opfer getötet. Dieser habe einen Brief eröffnet, und der Streusand, der ihm entgegenspritzte, sei Gift gewesen. Einem andern – und er nannte sogar einen Kaisernamen – habe man die Kerzen, die in seinem Zimmer brannten, mit Arsenik versetzt, und das aussprühende Licht habe allmählich den vergiftet, der nach der Meinung einer Hofpartei, die das Dunkel liebte, zu viel Licht geliebt hatte.

Die Geheimrätin hatte aufmerksam zugehört: »Und doch wollen Sie sich mit dem Staube vertragen?«

Er hatte gelächelt: »Das sind Ausnahmen, meine Liebe, aus den Zeiten der Barbarei und Finsternis. Feinde und Staub sind nur Produkte unruhiger Tätigkeit.«

»Dann wäre eigentlich das beste, sein ganzes Leben lang schlafen!« hatte seine Frau gedacht. Er aber hatte fortgefahren: »Wenn wir alles ruhen ließen, was liegt, wäre das Leben noch einmal so glücklich. Weil die Menschen alles besser machen wollen, rühren sie das auf, was die Vernunft und die Geschichte längst beseitigt hatte, und es kommt in neuer Form und Färbung zum Vorschein und quält uns aufs neue, was unsre Väter und Urgroßväter schon gequält hatte. Die Geschichte des Menschengeschlechts, meine Teure«, pflegte er lächelnd hinzuzusetzen, »ist in einem kleinen Buch geschrieben, wenn wir das immer und immer wieder läsen, kennten wir alle seine Bestrebungen in das vetitum nefas, alle seine eitlen Hoffnungen und Torheiten und die Lehre, welche der einzige Weg zum Glück ist, sich zu finden in das, was ist, und – nicht unnötig Staub aufrühren.«

Alsdann pflegte eine Lobrede auf den Horaz zu folgen, die aber von der Geheimrätin an einem bestimmten Wendepunkte mit einer praktischen Bemerkung auf etwas anderes übergeleitet ward. Der Geheimrat wußte es, lächelte, schwieg und war eigentlich zufrieden. In der Hauptsache aber waren sie zu einem Akkord gekommen. Seine Ausgaben des Horaz, die auf einer Reihe niedrigerer Regale wie eine Art Schirmwand um den Arbeitstisch standen, durfte die Frau wöchentlich einmal abstauben; aber nur sie selbst und mit einem weichen Pfauenwedel. Sie nahm jeden Band einzeln heraus, trug ihn in das Vorzimmer und fegte ihn am geöffneten Fenster. Da lächelte er zufrieden, die andern Bücher, die großen schweinsledernen Folianten, die hinten bis an die Decke die Zimmerwände füllten, sollten nur dann und wann und nur ganz oberflächlich abgestaubt werden. Auch sollten dazu sonnige Tage abgewartet werden, weil die Sonne den Staub niederdrückt. Die Horazregale sollten dabei mit Leinentüchern überdeckt und der Geheimrat selbst jedesmal vorher avertiert werden, um zu untersuchen, ob es nötig sei. – Ob diese Bedingungen streng innegehalten wurden, bleibt ein häusliches Geheimnis. Die letzte gewiß nicht, denn der Geheimrat hätte es nie für nötig gefunden.

Aber der Eifer der Geheimrätin mußte nachgelassen haben; die Luft verriet, daß die Fenster sehr lange nicht geöffnet worden. Der chromatische Farbenspiegel der Scheiben und die Spinneweben an den Fensterecken gaben den vollgültigsten Beweis dafür, daß, wie alle Passionen, auch die des Reinlichkeitssinnes einem Wechsel unterworfen sind. Oder es waren andere Gründe? Gerade diese Spinnen, der schillernde Glanz der Scheiben, der Duft des Unberührtseins war es, was dem Zimmer den Charakter sonntäglicher Heimlichkeit gab. Wohlverstanden der sonntäglichen Heimlichkeit einer alten deutschen Gelehrtenstube, in welche der Qualm des Tabaks noch nicht eingedrungen und den Büchergeruch noch nicht niedergedrückt hat. Und ganz zu dieser Stube, will man sagen, wie die Seele zum Körper oder die Spinne in ihrem Netze, paßte die Gestalt des Geheimrates, der, den Kopf im Ellenbogen und die Ellenbogen auf einem Folianten, in ihrer Mitte saß, wohlgefällig, zufrieden, schlau lächelnd.

So hatte er das Wort gesprochen: »Und wir behalten Frieden, und alles bleibt beim alten!«, als ein Seufzer aus der tiefen Stille des Zimmers ihm antwortete.

Der Geheimrat glaubte an keine Gespenster, er sah auch nach keinem, als sein schlauer Blick über das Regal, welches die Zweibrückner Horaze trug, auf die schweinslederne Hinterwand fiel, wo jemand auf der Leiter einen Folianten in der Hand wiegte.

»Gehören Sie auch zur Kriegspartei, mein Herr van Asten?«

»Ich bin ein stiller Zivilist, Herr Geheimrat«, war die Antwort.

»Wozu beschweren Sie sich denn aber da mit dem Hugo Grotius? Sein ›De jure gentium‹ gehört doch sonst nicht zu Ihren Studien.«

Wenn der Geheimrat so weit hätte sehen können, würde er eine leichte Röte auf des jungen Mannes Gesicht bemerkt haben.

»Nehmen Sie's nur runter«, fuhr er fort. »Sie können's auch mit nach Hause nehmen, wenn's Ihnen nicht zu schwer ist; die Edition ist nicht selten, man kann sie bei den Antiquaren bekommen. Der Montesquieu steht auch noch angeschrieben.«

Der junge Mann war von der Leiter gestiegen, den Folianten im Arm: »Wenn Sie mir also erlauben –«

»Aber nehmen Sie sich in acht, Ihr blauer Frack ist von dem Grotius ganz staubig. Der hat zwar auch mal in einer Kiste gesteckt, wenn ich mich recht entsinne, einer Bücherkiste, und da wird er noch staubiger rausgekrochen sein, aber er wollte nur in Freiheit kommen, nicht zu einer jungen schönen Demoiselle. Aber Sie wollen doch nicht der Mamsell Alltag aus dem Hugo Grotius Vorlesungen halten? Das Kind ist zwar gescheit, aber ich zweifle doch, daß ihr die Lektüre sehr pläsant sein wird.«

Der Geheimrat war in ungewöhnlich guter Laune, der junge Mann schien außer Gewohnheit befangen. Indessen hatte er sich schnell gesammelt, während er den Staub vom Rock abklopfte.

»Herr Geheimrat sind heiterer, seit Mamsell Alltag hier ist. Ihr Haus ward belebter. Stören Sie aber die vielen Gesellschaften nicht?«

»Au contraire! Was so jetzt die Menschen alarmiert und sonst auch wohl bis zu mir drang, bleibt nun außer meinem Rayon. Die Herrschaften können das nun bequemer unter sich und mit meiner Frau abmachen.«

»Sollte es nie in Ihren Rayon dringen!« sagte van Asten sehr ernst.

»Wenn ich mich einschließe, das wollte ich doch mal sehen. Aber ei, ei, Herr van Asten, will die Romantik Sie nicht verlassen! Sie sehen da wieder eine Geistererscheinung.«

»Die, welche ich sehe, Herr Geheimrat, sehen viele mit mir. Dieser Herbst wird die Fluren, wo fröhliche Saaten gereift, mit Leichen und Blut decken.«

»Sehn Sie mal«, sagte der Geheimrat, »was Sie nicht alles sehen!« und wischte mit dem Läppchen die Tinte aus der Feder, die er dann sorgsam vor sich auf das Papier legte. Sein Gesicht bekam dabei einen immer, was man nennt, graueren Ausdruck, wie ein kluger Mann, wenn er einen, der sich auch für klug hält, auf eine Sandbank abgesetzt zu haben glaubt. »Und diese vielen, die mit Ihnen diese erschreckliche Geistererscheinung sehen, sind, kurios genug, dieselben, die vor Freude damals zitterten, als der Herr General Bonaparte, wie sie es nannten, die Hydra der Revolution niedergetreten hatte. Da sollten wir andern mit ihnen hüpfen und springen vor Entzücken, denn sie sagten uns, er wäre ein Messias der neuen Weltordnung. Sehn Sie mal, wir taten das nun nicht, denn wir entsannen uns, daß dieselben spring- und hüpflustigen jungen und alten Herren ein Zehnjahr vorher ebenso gesprungen und gesungen hatten, als diese Hydra in Paris den Kopf erhob, und sie hatten damals auch darin einen neuen Messias und Weltbeglücker, und wer weiß was, entdeckt. Wir sprangen nicht, weil wir mit König Salomo wissen, es gibt nichts Neues unter der Sonne, aber wir ließen sie springen, weil wir wußten, sie werden schon müde werden. – Es ist mancher müde geworden, mehr als müde. Da ich nun nicht in Verzückungen geraten bin, nicht damals bei der ersten und nicht damals bei der zweiten Menschenbeglückung, warum soll ich denn jetzt in Ravissements des Zorns oder Patriotismus geraten, weil diese selben Herren in ihrem Götzen nun plötzlich das Tier der Apokalypse entdeckt haben! Was kümmert mich Hannover. Im Siebenjährigen Kriege waren die französischen Marschälle oft darin und brandschatzten, aber gerade nur so lange, als der große Friedrich Besseres zu tun hatte. Und wenn sie's ihm zu arg machten und er verdrießlich wurde, schickte er seinen Seydlitz oder einen Braunschweiger hinüber und ließ sie wieder fortjagen.«

»Es sind andere Zeiten. Wir haben keinen Friedrich mehr, und die Konstellationen sind furchtbar, Herr Geheimrat!«

»Und der alte Lupinus weiß nichts davon! Nicht wahr?« Der Geheimrat nahm mit großem Wohlgefallen eine lange Prise. »Der Mortier, oder wie sein General heißt, hat Hannover mir nichts, dir nichts besetzt, ohne uns zu fragen, und wir hatten es doch so halbwegs, noch vom Baseler Frieden her, garantiert. Und er hat es getan, um uns mit England aneinanderzubringen. Er sperrt die Flußhäfen gegen die Kolonialwaren, und die Engländer sperren sie uns, daß wir unser Holz und unsre Leinwand nicht rausschicken können. Das gibt nun viel Jammer und Geschrei, aber das ist alles nichts als das Strohfeuer, womit man die Bienen aus dem Baume und die Fische aus dem Wasser lockt. Die ganze deutsche Nation hat auf uns gewartet, daß wir doch nun losschlagen würden. Man kann's in allen Zeitungen lesen, daß alle Biedermänner auf uns warten. Aber es gibt noch viel ungeduldigere Leute. Der Schwedenkönig ist wie toll umhergelaufen und hat überall angeklingelt: ›Macht doch Krieg!‹ Der russische Kaiser rüstet: ›Krieg partout!‹ ruft er. Und ganz in der Stille rüstet Österreich. Darum sollen wir auch in die Falle gehn und auch rüsten. Aber wir gehn nicht in die Falle und rüsten nicht. Denn Rüsten kostet Geld, und der Krieg bringt nichts ein, und was geht's uns an. Sehn Sie, der alte Lupinus hat doch auch etwas in die Zeitungen geguckt.«

»Und wir, eingekeilt in diese Mitte! Ganz Europa in Waffen gegeneinander, und wir –«

»Sehen zu, wie sie sich schlagen und vertragen, und denken mit König Salomon: ›Alles ist eitel!‹«

Walters Brust hob sich; es waren ernste Gefühle, die heraus wollten, aber er überwand sich – es war hier nicht der Ort dazu. Nur ein Stoßseufzer brach es hervor: »Und der Brand in unsern eignen Eingeweiden!«

»Ein Eimer Wasser drauf, lieber Walter. Ist probat!« Hatte der Gelehrte heute ein Sonntagsgesicht? Er, der nichts sah, was um ihn vorging, blickte er heut in die Seelenzustände eines andern und fand sein Vergnügen darin, das Verborgene herauszuschöpfen? – »Da steht wieder auf Ihrem Gesicht: ›Ach Gott, der gute Geheimrat Lupinus! Er weiß, woran die Verfassungen in Rom und Athen zugrunde gingen, aber wie es im preußischen Staat gärt und stockt, das sind ihm böhmische Dörfer.‹ – Wer wird denn gleich einen verdammen, junger Herr, ohne daß er ein bißchen versucht hat, ihn zu bessern! – Oder zu untersuchen, ob denn nicht doch ein Lichtchen der Erkenntnis in ihm flackert! – Manche Fahne, die vor dem Heer des großen Königs flatterte, ist von den Motten zerfressen, das weiß ich, und die Monturen im Zeughause gehen in Plunder, wenn man sie ausklopft. Weiß auch noch mehr. Unsre Soldaten sind nicht Bonapartes Soldaten. Und unsre Offiziere – weiß ich auch, man muß aber nicht alles sagen, was man weiß. Die eisernen Ladstöcke, durch die wir bei Müllwitz siegten, sind jetzt Gemeingut geworden, die Räder von unserm Fuhrwesen gehen aber noch in dem Geleise von Anno ehemals. Unser Schatz ist ausgepumpt, das weiß ich auch, und das bißchen, was unser junger König durch Sparsamkeit wieder hineinfließen läßt, löscht noch nicht den Durst. Es sieht auch in den Finanzen ganz kurios aus; unter dem Schimmel werden wohl noch manche harte Taler liegen, aber man kratzt den Schimmel nicht ab, weil manches andre damit bloßgelegt würde. Ja, ja, die Blöße fürchtet man und hat daran ganz recht. Viele Schlösser sehn blank geputzt aus, schließen aber nicht mehr, und manche Mühlen klappern wohl, mahlen aber nicht mehr. Auch die große Staatsmühle macht noch dasselbe Geräusch, daß man's in weiter Ferne hört und wunders denkt, was sie mahlen muß, aber wer in die Mehlkammern sieht, merkt, daß es kaum zur Not hinreicht. Das kann nun von mancherlei herkommen. Etwa davon, daß man niemals vorher weiß, woher der Wind kommt, und wenn er da ist, erschrocken links und rechts rennt, und was links stehen soll, rechts stellt, und was rechts, links. Auch kann die Mühle von alter Konstruktion sein, und in Holland und Amerika haben sie seitdem bessere Gänge erfunden. Und dann spricht man auch von der großen Staatsuhr, deren Räderwerk erst gar quer und verkehrt wäre, denn wenn einer nicht täglich sie stellte, so zeigte sie nie die rechte Stunde an. Das käme aber daher, weil kein Rad mehr ins andre griffe, große und kleine, es ginge jedes für sich, die Räder der Minister, und kein Oberminister, der sie regulierte, und wenn sie auch mal regulär gingen, so hätten die Geheimen Kabinettsräte wieder ihren aparten Schlüssel, und die Oberpräsidenten in den Provinzen wohl auch; und wäre mal, rara avis, alles egal und konform, dann schöbe ein Finger ganz von oben den Zeiger um eine Viertelstunde zurück, wodurch denn das ganze Räderwerk in Unordnung geriete. Das ist nur etwas, es ist aber noch viel mehr.«

Walter hatte mit steigender Verwunderung zugehört.

»Und was ich nun tue? wollen Sie fragen. Da will ich Ihnen mit einem Dichter antworten, keinem alten, nein, einem allerneuesten, den ich auf meiner Frau Tisch fand, das ist der Herr Bürde aus Schlesien. Da lesen Sie es:

Glücklich, wer im engbegrenzten Raume
Seiner Heimat tiefe Wurzeln schlägt
Und, gleich einem wohlgediehnen Baume,
Fest steht und die Äste nur bewegt!

Der die Lebensnotdurft nur begehret
Und, allein auf Gegenwart beschränkt,
Was er heut erworben, heut verzehret,
Und sich weder heftig freut noch kränkt;

Den die Welt zu sehen nicht gelüstet,
Der mit Besserm Gutes nicht vergleicht
Und, zur letzten Reise stets gerüstet,
Sich geräuschlos aus dem Leben schleicht.

Nur umsonst verdoppeln wir die Schritte;
Nie erreichen wir das Ziel der Bahn!
Immer stehn wir in des Zirkels Mitte,
Und der Umkreis weicht, sowie wir nahn!

Das sind noch Gefühle eines Dichters«, sprach er, das Buch fortlegend.

»Der einer ersterbenden Welt angehört wie sein Horaz«, sprach

Walter für sich. Er nahm die Vorlesung als Zeichen zum Abschied, der Geheimrat hatte es aber nicht so gemeint:

»Wenn eine Mühle ins Stocken gerät, glauben Sie, daß wir darum kein Brot mehr zu essen bekommen, und wenn alle Uhren unrichtig gingen, daß die Sonne sich darum auch einmal verspätet, aufzugehen?«

Walter meinte, es sei doch eines jeden Pflicht, dafür zu sorgen, daß seine Uhr richtig gehe.

»Für seine eigne mag er sorgen, lieber Herr van Asten, aber nicht um die Rathausuhr.«

Lupinus sah ihn dabei sehr pfiffig an. Walter errötete wieder: »Sie möchten unsern Staat wieder auf die Beine bringen.«

»Wer wünscht das nicht.«

»Warum denn nicht! Wer jung ist! Einer sammelt Schmetterlinge, der andre Mineralien, Wappen. Mancher möchte auch gern ein Taschenspieler werden. Alles unschädlich, solange wir jung sind. Die Welt liegt ja vor uns wie ein Feld mit Blumen. Weil wir noch nicht dran denken, wie sauer es uns wird, bis ans Ende zu kommen, flattern wir von einer zur andern. Warum denn da nicht auch Kollektaneen machen aus den Maximen großer Staatsmänner, warum nicht auch aus eigenen Gedanken etwas einflicken! Die Klassiker haben auch Lücken. Hatte schon Homer, als sie ihn in Alexandria herausgaben, und wie haben sie den Livius geflickt! Wo's Ganze Flickarbeit, merkten sie oft gar nicht die eignen Lumpen der Editoren. Apropos! Da ließen Sie neulich einen Zettel fallen – warten Sie, wo hab ich ihn gleich hingelegt? – Hier! Das ist wohl kein Exzerpt, so mit frischer Tinte, recht frisch aus dem Herzen geschrieben: ›Daß ein Staat, der bestehen will, der Sitten, oder, wo diese fehlen, kräftiger Männer zur Ausführung kräftiger Maßregeln bedürfe, gewahrt niemand. Die Augen gehn erst in der Not auf.‹«

Walter steckte hastig den Zettel in die Brusttasche: »Zu einem Briefe –«

»So, also ein Brief! Da wollte ich Sie nur bitten, sich an den zu erinnern, welchen der junge Herr Gentz bei der Thronbesteigung an Seine Majestät den König schrieb. Das war mal genial! Wie riß man sich darum! Da lag's doch klar, wie ein umgestürzter Pudding auf der Schüssel, wo's bei uns mankierte, was anders, besser nun gemacht werden sollte. Man brauchte nur zuzugreifen, gar keine Mühe sich zu geben, nur zu tun, zu dekretieren, wie's der junge Herr Gentz den Ministern wies. – Haben sie's getan? Haben sie zugegriffen? Nichts angerührt, 's ist alles beim alten geblieben. Und Herr Gentz? Ist er Minister, Kabinettsrat, Präsident geworden? Er blieb Kriegs- und Domänenrat, hatte niemals Geld, aber immer Schulden. Bis es ihm hier zu langweilig ward und er fortlief nach Österreich. Seine Sachen brauchte er nicht zu verkaufen, dafür sorgten schon seine Gläubiger; aber seine Grundsätze, die waren lange vorher schon versilbert. Na, an wen ist denn Ihr Brief gerichtet?«

Da lag sein Geheimnis trocken an der Luft. Walter hatte bis da nur einen Stolz, als freier Mann unter den drängenden Verhältnissen zu stehen. Mußte ihm der, von dem er es am wenigsten vermutete, ablauschen, was er sich selbst noch nicht vollkommen eingestand!

Lupinus mußte seine innersten Bewegungen verstanden haben.

»Junger Freund! Warum denn gegen sich selbst unwahr sein! Was die Freiheit ist, hat weder Plato noch Seneca erklärt, gewiß ist aber, sie gibt nichts zu beißen und zu brechen. Ein Dichter wollen Sie nicht werden und ein Kaufmann auch nicht. Ganz recht, der eine kann Bankerott machen, und der andere verhungert, wenn nicht ganz, doch beinah. Also, was bleibt Ihnen, als eine Anstellung suchen. Den Staat verbessern wollen ist aber der schlechteste Anfang von einer Karriere.«

Walter hatte sich wieder gesammelt: »Wenn ich aber nun doch so töricht wäre, anmaßend, geben Sie meinem Willen einen Namen, welchen Sie wollen, ich protestiere nicht dagegen, aber wenn ich denn doch in mir den Ruf fühlte, nach diesem Ziele zu streben, warum nicht anfangen, wie ich enden will?«

Der Gelehrte sah ihn scharf an: »Weil Sie dann nicht zum Ziele kommen«, hub er nach einer Pause an. »Ein Mann, der seine Frau erziehen will, muß es ihr ja nicht sagen, so sagt man wenigstens, und wer den Staat verbessern will, muß es ja nicht merken lassen. Wollen Sie mein Rezept wissen? 's ist kein neues, uralt wie die Welt. Wenn man groß ist, muß man sich klein ducken, sich anschlängeln an das, was gilt. Meistens an Personen, zuweilen an Gedanken. Wenn's auch recht dumm ist und man von Herzen drüber lacht oder sich ärgert! – Lachen Sie immer und ärgern sich nur bei zugeschlossenen Türen! – Ohr und Auge aufhaben, aufgepaßt auf alle Falten und Fältchen, und da bei guter Zeit ein Zeichen zwischengelegt! Was kann man nicht in schwachen Stunden belauschen, und hat man erst die Schwächen eines großen Mannes weg, dann mit einiger Klugheit wird man ihm bald notwendig. Und ist man ihm erst notwendig, so ist man auch sein Herr. Vor dem Brausewind, der alles besser wissen, alles wegfegen will, verschließen sich solche Herren, auch wenn ihnen seine Ansichten gefallen. Sie denken, der kann dich mal selbst fortfegen. – Und die Herren am Ruder hier sind so affabel. An Protektionen sollt's Ihnen nicht fehlen. Schreiben Sie eine Verteidigung der Politik der Herren Kabinettsräte.«

»Ich!«

»Liebster Herr van Asten, wie vieles hat Cicero verteidigt, was er im Grund der Seele verdammte. Ganz parteilos, versteht sich, und sehr patriotisch müssen Sie schreiben: Eine Stimme aus dem Volke! oder so was. So recht biedermännisch, daß man glaubt, es kommt aus dem Herzen, daß es den Herren wie Honig beim Frühstück herunterläuft. Wenn sie mal einen recht dummen Streich gemacht, daß sie sich selbst schämen und alles tun möchten, ihn ungeschehen zu machen, dann dreist los auf die Gegner, aus der Defensive in die Offensive, gefragt sie: ›Was würdet ihr denn getan haben?‹ Werden wieder schimpfen. Schadet nichts. Kriegen vielleicht einen Hacks ab. Schadet noch weniger. Ober den Spektakel ist am Ende vergessen, um was es losging, die Herren Räte haben freie Luft bekommen, und –«

»Und was ist das Ziel?«

»Na, man wird Sie nicht gleich zum Kriegs- und Domänenrat machen, aber ein kleines Pöstchen gibt's schon, vielleicht ein besseres als mit einem Titel, so ein Sekretär in secretis –«

»Und wohin führt das?«

»Warten Sie doch! Ein klein bißchen Geduld nur und ein bißchen mehr noch. Haben Sie erst Posto gefaßt, Ihre Fühlfäden ausgestreckt, kennen Sie die Menschen und ihre Gedanken, was sich anzieht und was sich abstößt, wissen Sie, was noch fest steht und was schwankt, dann ist ja noch immer Zeit.«

»Wozu?«

»Was Sie wollen. Meinethalben, Sie werden schon was Gutes gewollt haben. Sind Sie der Mann am Steuer, und an Kapazitäten fehlt es Ihnen nicht, und ästimiere auch Ihren Charakter, aufrichtig, dann – einen Schub, einen Fußstoß! Wie Sie's anfangen, daß der alte Plunder zusammenbricht, darum ist mir nicht bange. Nicht wie Coriolan und Catilina muß man anfangen. Cicero wußte, wo er sich bücken mußte und wo er grad aufrecht stehen durfte.«

Walter hatte seinen Hut ergriffen: »Daß Ciceros Name auf der Proskriptionsliste stand und sein Kopf aus der Portechaise fiel, würde mich vielleicht nicht abhalten, wie Cicero zu handeln, aber – mein Herr Geheimrat, ich habe ein anderes Vorbild aus dem Altertume, von dem Ihr großer Horaz gesungen hat: Integer vitae –«

»Scelerisque purus«, fiel der Gelehrte ein und nahm wieder eine lange Prise. »Auch ein schönes Vorbild. Gar nichts dagegen zu sagen. Au contraire, aber dieser Integer vitae war nicht verliebt.«

Das war abermals ein zweites Geheimnis, und von den poesielosesten Lippen trocken in die Luft gesetzt, ein so still in der Brust gehütetes, kaum sich selbst gestandenes, ein so zartes Kind, daß es in dieser rauhen Luft erstarren konnte. War dieser Bücherwurm heute ein Magier!

»Sie sind in die Mamsell Alltag verliebt«, fuhr er fort. »Verdenk's Ihnen gar nicht. Ein hübsches und gescheites Mädchen. Sie möchten sie einmal heiraten. Noch besser. Zum Heiraten braucht man Brot, sicheres Brot, und sicheres Brot gibt nur eine Anstellung. Darum wollen Sie Ihre Freiheit hingeben und Karriere machen.«

In dem Augenblick öffnete sich die Tür, und der Kopf der Geheimrätin blickte herein: »Ehe Sie gehen, Herr van Asten, auf ein Wörtchen!«

Die Türe ging wieder zu. Der Blick mußte eine eigentümliche Wirkung haben. Ihr Gespräch war unterbrochen, aber auch die sonntägliche Stille des Zimmers war gestört. Der Kater hatte sich knurrend aufgerichtet, und Staub wirbelte durch den Sonnenschein. Es blieb noch eine Weile still. Es war, als ob der Gelehrte sich schämte. Dem Eindringling hätte er nicht zurufen können: »Noli turbare circulos meos!« Er selbst war ja aus seinen Kreisen getreten; das machte ihn befangen.

Walter war es auch. Vor dem alten, freundlichen Manne, der mit der Wünschelrute seinen verborgenen Schatz berührte, hätte er sprechen mögen, wie ihm zum Herzen war. Es lag schon auf der Zunge. Da war es plötzlich erstarrt vor dem stechenden Blicke, das süße Geheimnis schien ihm vergiftet, ein Nebelschauer hatte einen Mehltau auf die Blüten gelagert. Er besann sich und sprach schöne Worte, die nicht der Ausdruck seines Gefühls waren:

»Seine Träume gehören nicht dem Menschen allein, es sind gaukelnde Kinder aus anderen Welten. Sie haben einen berührt, der, lieblich gaukelnd, Einlaß forderte. Aber – auch die süßesten Träume muß der Mann verscheuchen können, wo die Pflicht gebietet. Ich glaube meinen Gönner nicht versichern zu dürfen, daß dies schöne Mädchen, dem Sie gastlich Ihr Haus geöffnet, dem Ihre Gattin Muttersorge widmet, ihres Unglücks wegen mir heilig ist. Sie und ich, das ist ein langer Weg, den wir zu gehen hätten, bis wir uns träfen, und sie selbst ahnt vielleicht noch nicht –« Der Geheimrat wehrte mit beiden Händen: »Ist nicht mein Departement. Ist meiner Frau ihres. Da sprechen Sie, da schweigen Sie, wie Sie's für gut finden.« Er faßte seine Hand und sah ihn vertraulich, fast bittend an: »Lieber Walter, schweigen Sie lieber, es ist besser, daß niemand etwas davon erfährt. Wir haben hier vielerlei Allotria getrieben. Gott weiß, wie ich mich fortreißen ließ. So ist's mit unsrer Stärke und unsern Entschlüssen! Rühmte mich, nichts solle in meine Kreise dringen, wenn ich meine Tür verschlösse, und plötzlich stand drinnen der Bonaparte, unsre Monturen, Finanzen und gar eine Liebschaft von Ihnen und rannten mich beinahe um unter meinen Büchern. – Vergessen Sie, daß Sie einen alten Mann in einer schwachen Stunde betroffen haben!«

»Also das bleibt alles unter uns«, schien das letzte Wort, als er Waltern gleichsam an die Türe gedrängt, aus Besorgnis, daß von den Allotriis doch noch etwas über die Lippen kommen könnte. Aber dort legte er die Hand ihm noch einmal auf die Schulter:

»Lieber Herr van Asten, um Sie ist mir nicht bange. So oder so, aus Ihnen wird was. Bleiben Sie ein vir integer. Rühren Sie nicht mehr Staub auf, als absolut nötig ist. Aber das kann ich Ihnen wohl sagen: Wer nie in Italien war, nie das Albanergebirge gesehen hat, mit keinem Fußtritt am See gestanden und doch wie Sie den Traktus von Albalonga, die alte Latinerstadt in dem länglichen Bergrücken herausfand, der ist auch zu mehr berufen. Heyne und Wolf und alle, im Grunde genommen, was sind sie uns! Graeca sunt, non leguntur; es hat etwas für sich. Aber Latium! Rom ist ewig. Und nun will ich's Ihnen sagen, habe Ihre Dissertation an Herrn Niebuhr geschickt. Er findet Sentiment darin – ästimiert Ihre Konjekturalkritik, wird einmal selbst an Ort und Stelle untersuchen – jetzt kommt er her und wird wahrscheinlich Bankodirektor. Ist das, dann können Sie auf eine Anstellung bei der Bank rechnen, und Ihr Schicksal ist gemacht.«


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