Willibald Alexis
Ruhe ist die erste Bürgerpflicht
Willibald Alexis

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Sechzehntes Kapitel.
Am Altar des Vaterlandes.

Was bis hier geschehen, davon finden wir die Hauptzüge wenigstens in den öffentlich gewordenen Berichten. Die Zeitungen gedenken des denkwürdigen Abends; aus ihnen sind jene Züge schon in die Geschichtsbücher übergegangen. Es fiel aber an dem Abende noch manches vor, wovon sie schweigen.

Ein großer Teil des Publikums hatte sich bereits entfernt. Die Begeistertsten empfanden noch das Bedürfnis, sich Mut und Hoffnung zuzureden. Hier schüttelte man sich die Hände; hier schloß man sich in die Arme; hier unterhielt man sich von Vorteilen, welche die Österreicher errungen haben sollten, von dem und jenem französischen General, der verwundet sei; dort von einem Volksaufstande, der sich irgendwo vorbereite, von dem ungeheuren russischen Heere, aus dem Innern Asiens heranwälze. In bewegten, bangen Zeiten knüpft die Hoffnung aus den Sonnenstäubchen, aus den Spinnfäden in der Herbstluft Taue für ihre Anker!

Da lief schon längst ein Gerücht durch die entfernten Gruppen, daß ein Kurier mit wichtigen Nachrichten angekommen sei, aber er und sein Pferd, gleich erschöpft, seien auf dem Markt gestürzt. Der Kommandant, welcher des Weges gekommen, habe ihn auf der Straße vernommen und sei mit den Depeschen sogleich nach dem Palais geeilt. Ein kleiner Mann mit sehr wichtiger Miene, den man früher schon bei allen Gruppierungen bemerken konnte, schwang sich jetzt auf eine Logenbrüstung und schrie: »Es ist richtig, meine Herren, der Kurier ist da! Er hat sich beim Fall den Fuß verstaucht – er kommt direkt vom Schlachtfelde – ich sah ihn selbst – sie führen ihn jetzt am Schauspielhaus vorbei.«

Sogleich war an der Tür ein Gedräng; man wollte hinaus, um sich von der Wahrheit zu überzeugen. Die Entfernteren riefen: »Holt ihn herein!« – Was er auf der Straße aussagen dürfe, könne er doch auch dem Publikum erzählen.

»Wenn uns Merkel nicht wieder eine Flinte aufbindet!« sagte ein Mann in mittleren Jahren, mit lebhaften dunkeln Augen, der, seiner Kleidung nach, dem geistlichen Stande anzugehören schien; der Bleistift und das Pergament in seiner Hand deutete aber auf einen Berichterstatter für eine Zeitung, was er auch wirklich war, der französische Prediger und Professor Catel, damals und noch lange nachher Redakteur der »Vossischen Zeitung«. – »Diesmal hat Merkel die Wahrheit gesagt, liebster Catel«, bemerkte sein Nachbar. »Der Kurier ist da, auch ich sah ihn, und was ich durch das Gedränge gehört, sind so wunderbare Dinge, daß Sie Ihre Zeitung übermorgen damit füllen können.« – »Sie verlangen doch nicht von mir, daß ich Mirakel schreiben soll!« entgegnete Catel. »Das ist weder meines Metiers noch meiner Zeitung. Aequam memento rebus in arduis servare mentem

»Ist zwar ein schöner Wahlspruch«, entgegnete der andere, »aber es gibt doch Ausnahmen.«

»Die sich doch wieder auf eine Regel zurückführen lassen. Alle Bewegung sinkt auf ihr Niveau oder Maß zurück, und die Gesetze dieses Maßes sind die Kunst. Und das sahen wir an diesem Abend. Iffland hat sich wieder selbst übertroffen. Sehen Sie – sehen Sie ihn da, Feuer und Flamme für den Krieg, er ist der Soldat, den er vorhin gespielt, ich glaube, wenn ihn Seine Majestät der König in die Linie beriefe, so würde er auch da vor den Rotten wie ein Meister der Kriegskunst dastehen. Und nun betrachten Sie, mit welcher klassischen Ruhe er auch dieses Feuer menagiert! Und vorhin im ›Puls‹, das war kein Spiel, das war wieder ein Ernst, eine Wahrheit, eine Kunst, die uns an der menschlichen Natur irremachen könnte. Ohne Zweifel war er von den Auftritten, die nun folgen sollten, nicht allein unterrichtet, sondern er hat sie mit arrangiert, er lebte in dem Gedanken, und wo merkte man es ihm an! Ich habe ihn genau beobachtet. Da war jedes Fältchen der Weste, jeder Knopf wie sonst. Wie er mit der Rechten den Puls des Patienten fühlte, zählte er mit den Fingern der Linken auf dem Rücken die Schläge. Das werden wenige bemerkt haben. Er tat es auch nicht fürs Publikum, für sich, um sich selbst zu genügen. Diese Ruhe, diese Herrschaft über Leidenschaft und Welt ist es, was den Künstler macht. Ich hätte nur einen Wunsch jetzt –«

»Doch nicht, daß Iffland selbst ins Feld ziehen soll!«

»Nein, ich möchte ihn Talma gegenüber sehen. Jeder, bin ich überzeugt, würde den andern bewundern, jeder vom andern lernen wollen.«

»Französisches Feuer und ein Klassiker im Blute!« bemerkte ein dritter. »Von der Kolonie!« sagte der andre. »Die besten Preußen und gute Deutsche, und doch alle ein Tendre für Bonaparte.«

Ein Jubel und Hallo kündigte hier an, daß der Kurier ins Theater gezogen war. Noch sahen ihn die wenigsten, aber Stimmen schrien schon: »Viktoria! Ein Sieg, ein ungeheurer Sieg! Hoch lebe der König! Hoch Preußen!«

Umsonst sträubte sich der junge, staubbedeckte Mann, dem man die äußerste Erschöpfung von einem angestrengten Ritte ansah. Sein Gesicht war blaß, nur zuweilen von einer flammenden Röte überflogen. Er sprach lebhaft, aber mit Anstrengung zu den um ihn Stehenden.

»Meine Herren, es ist ein Irrtum, ich bin nicht selbst der Träger der erwünschten Nachrichten. Ich habe vergebens draußen schon gegen die Auszeichnung protestiert, aber man hört mich ja nicht. Meine Depeschen vom Minister Haugwitz enthalten nichts, noch können sie etwas von der Nachricht enthalten, die Sie, die wir alle wünschen, daß sie auf Wahrheit beruhe. Meine Depeschen, wie meine eigne Kenntnis der Dinge, sind von Wien, von weit älterem Datum. Ich wußte mich, um nicht aufgefangen zu werden, auf Nebenwegen durchzuschlagen. Ich mußte weite Umwege machen, und ich wiederhole Ihnen, daß es nur ein Gerücht ist, was ich an der sächsischen Grenze zuerst hörte. Was verlangen Sie von mir, daß ich es hier öffentlich mache! Ich kann nichts sagen, als daß ich von andern gehört, was diese wieder gehört.«

Die in den Logen und dem hintern Parterre hatten natürlich nichts von dieser Protestation gehört. Unisono schrie, tobte, forderte man, daß der Kurier laut spreche; was hier gut sei, müsse es für alle sein. »Hier sind keine Verräter! Keine Spione!« – »Auf das Proszenium!« – »Sie müssen jetzt, Bovillard«, rief jemand, der ihn kannte, »Oder man läßt es uns entgelten.«

Der Erschöpfte ward von zwei Männern unter den Arm gefaßt und fast auf die Bretter hinaufgerissen. Übrigens herrschte kaum ein Unterschied mehr zwischen der Bühne und dem Zuschauerraum. Selbst von den angesehensten Damen standen schon mehrere auf der ersteren. Schauspieler hatten einen Altar herangetragen, der vielleicht aus der vorigen Operndarstellung noch hinter den Kulissen stand. Er diente dem Erschöpften, der sich von seinen Begleitern losgemacht, zur Stütze. Sein Auge rollte, als suche er in der Luft nach Worten, während es den Umstehenden nicht entging, daß seine Glieder fieberhaft zitterten. Jetzt fuhr er mit der Hand über die Stirn; um die Erinnerung zu sammeln, glaubten einige, andre versicherten nachher, er sei gestanden, als habe er ein Gespenst gesehen. Da rief er plötzlich aus voller Brust: »Sieg, Sieg verlangen Sie aus meinem Munde. – Wenn wir an uns selbst glauben, deutsche Männer, müssen wir ja siegen! Warum nicht dort!« – Ein Händeklatschen, ein brüllender Applaus: »Sieg! Ein Sieg! – Weiter! – Wo?« – »In Mähren, hinter Brünn – eine Schlacht, sagen sie, ist geliefert, blutig, wie keine seit Menschengedenken – drei Tage hätte sie gewütet – drei Kaiser standen sich gegenüber – dreimal ging die Sonne blutrot auf – am dritten –« Alles hörte bang, mit angehaltenem Atem, während der Sprecher nach Luft zu schnappen schien. – »Am dritten hat man ihn gesehen – Bonaparte – in der Mitte von nur drei Reiterregimentern, die ihn mit ihren Leibern schützten – sich durchschlagend nach Bayern – sein Heer, sein großes Heer –«

»Was ist ihm?« riefen die Nächststehenden. Bovillard beugte und stützte sich, wie um sich zu halten oder etwas zurückzudrängen, auf den Altar. Durch die weiten Räume aber brauste es: »Hurra! – Viktoria!« – »Kränzt den Siegesboten!« rief die Fürstin, die Treppe heraufsteigend. »Kränzt ihn!« wiederholten weibliche Stimmen.

Die Kränze waren da, aber das Publikum wollte vorher den ganzen Freudenbecher ausgeschüttet wissen: »Sein Heer – wo ist sein Heer?«

»Fragt die Erinnyen! – Eine Blutlache –«

Diese Worte konnte man auf dem entferntesten Amphitheater verstehen, so scharf schnitten sie durch die Luft, doch ohne den sonoren Metallklang von vorhin. Dann hörte man einen Fall, einen Schrei der Umstehenden, Töne des Jammers, einige wollten ein Auflachen gehört haben. Sehen, was vorgefallen, konnten natürlich nur die Nächststehenden; indem man, um zu sehen, herandrängte, verbarg man die betreffenden Personen. Von Mund zu Munde ging es, der Bote der Siegeskunde war am Altar des Vaterlandes niedergesunken, aber mit voller Ehre. Ein junges Mädchen, schön wie keine, in Fieberglut, hatte sich mit dem Kranz über ihn erhoben, aber als sie ihm denselben auf die Stirn drückte, als er ihre Hand ergriff, stürzte es ihm aus dem Munde, ein roter Blutquell, und er war hingesunken, ohne die Hand loszulassen.


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