Willibald Alexis
Ruhe ist die erste Bürgerpflicht
Willibald Alexis

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Zwölftes Kapitel.
Präpariertes Gift.

Charlotte war fort. Ihr Geheimrat hatte sie zur Mittagsstunde erwartet, und »wir haben heut sein Lieblingsgericht«, hatte Charlotte sich entschuldigt. Die Geheimrätin stand im Krankenzimmer. Es war ein eigenes Lächeln, mit welchem sie die schlafenden Kinder betrachtete. Nicht das des Wohlgefallens, es war nichts Wohlgefälliges in dem Anblick. Es war eine Wißbegier, die, je länger sie über das Mädchen sich beugte, zu einer wollüstigen Empfindung ward. Der Knabe hatte sie weniger interessiert. Auf seinem Gesichte las sie nur rohen Trotz und sinnliche Tücke. In Malwinens Lineamenten schien sie zu studieren. »Sonderbar!« lispelten ihre Lippen, »welche schalkhafte Ruhe über dem Kindesgesichte! und doch aus allen Grübchen der Schelm vorschießend, der Zerstörungstrieb – in Kindern! So schickt vielleicht die Natur jeden fertig auf die Welt, es ist alles Prädestination, und wir verfehlen nur unsere Bestimmung, wenn –«

Sie tippte mit dem Finger über Malwinens Stirn, wie um durch das Gefühl sich zu vergewissern, ob das Auge nicht getäuscht. Die Probe mußte mit der Rechnung stimmen; ihr Lächeln ward intensiver, als plötzlich doch ein Schatten über ihre Stirn flog. Der Schlaf ist ja ein Verräter! Lag nicht der ganze dunkle Trieb für das Auge des Kundigen auf dem Kindesgesicht ausgedrückt! Wenn das mit den Erwachsenen derselbe Fall wäre! Wenn jeder sich einschließen müßte, vor nichts mehr besorgt, als daß ein Fremder ihm im Schlaf ins Gesicht sähe! – Erschreckt vor dem Gedanken, blickte sie um sich, und – die stille Krankenstube barg den Verräter. Hinter der Fenstergardine saß Adelheid und stickte an der Fahne, mit welcher die Geheimrätin, sie wußte noch nicht wie, das Gouvernement überraschen wollte.

»Spielen wir hier die Lauscherin?« – »Was sollte ich belauschen! Ich arbeite an Ihrem Auftrage.«

»Mit verweintem Gesicht? Ich meinte, eine Patriotin wie du sollte nicht Tränen in die Fahne ihres Königs sticken.«

»Die armen Kinder litten aber wieder so sehr.«

»Und da ist es ein süßes Gefühl, als Schutzengel über die Unschuld zu wachen! Man mag sich für gewisse Leute interessant machen, wenn man immer die Leidende spielt; es gibt aber andere, die durch die Maske sehen.«

Adelheid ward rot und senkte ihr Auge nieder, das entrüstet aufgeblickt. Von der Rede kamen nur die Worte heraus: »Meine Mutter –«

»Das Wort wird dir wohl täglich schwerer. Aber solange du dich bewogen findest, in diesem Verhältnis zu bleiben, ist es doch gut, daß du dich vor den andern bezwingst, Liebe gegen mich zu zeigen.«

»Meine Mutter, Sie martern mich.«

»Das ist unser aller Los. Wir alle werden gemartert von den Verhältnissen, vom Urteil der Menschen; bis wir gleichgültig werden, sagen die Leute. Das ist nicht wahr, man wird nicht gleichgültig, wenn man sich nicht schon aufgegeben hat. Nur wer so weit ist, daß er alle Hoffnung fahrenließ, nimmt die Tritte und spitzen Stiche ruhig hin. Wer sich noch fühlt, ruht nicht, bis er andre wieder martern kann. Sieh mich immerhin verwundert an; es ist so, es ist das Gesetz der Welt.«

»Das Gesetz der Rache!«

»Nenne es, wie du willst. Es gibt nur zwei Gattungen Wesen, Unterdrücker und Unterdrückte. Wo du hinsiehst, so ist es. Das ist eine Phantasie aus der Vorzeit, daß es freie Menschen gäbe; sie sind von unserer Kultur so ausgerottet wie die wilden Tiergeschlechter. Denn die noch da sind, sind doch schon unterworfene Geschöpfe. Der Mensch hegt und erhält sie, um sie zu fangen, schießen, je wie es ihm beliebt. Der Hirsch, der Hase ist so sein Eigentum, daß er schon unverbrüchliche Gesetze für ihn gegeben hat, wie lange man ihn schonen, wann der Vertilgungskrieg losgehn soll. Nach eben solchen Gesetzen schont ein kluger Herr die von ihm abhängig, nicht aus Liebe, nur um seines Vorteils willen. Er spart ihre Kräfte auf, um sie am besten zu nutzen. Der Wurm und der Hirsch lehnen sich vergeblich gegen ihre Überwinder auf; unter den Menschen glückt es unterweilen dem einen und dem andern, durch List, Ausdauer, frei und Herr zu werden über seine Unterdrücker, und dieser Prozeß ist unsere Geschichte. Aber wenn sie es sind, dann machen die Sieger es nicht besser und anders; sie unterdrücken, quälen und martern wieder, wie sie gemartert wurden. Das ist auch Geschichte, mein Kind. Findest du es so unnatürlich, daß man lieber sticht als gestochen wird?«

»Ich freue mich, daß ein harmloses Mädchen nicht in Verlegenheit kommt, wählen zu müssen.«

Die Lupinus lächelte: »Warum unser Verhältnis durch Unwahrheit erschweren, mein Kind. Zwischen uns muß Wahrheit sein. Ich ertrage sie, du kannst es auch. Du wirst noch mehr ertragen müssen.«

»Mein Gott, was ist denn zwischen uns Wahrheit?« rief Adelheid und erschrak, als es über ihre Lippen war.

»Du sprichst es eben aus. Wir sind zusammengewürfelt und passen nicht zueinander. Wir gefallen uns nicht und müssen doch vor den Menschen die Miene annehmen, als wenn wir uns liebten. Auf deinen Lippen zittert die trotzige Bemerkung, ich könnte dich ja verstoßen, dir die Tür weisen. Nein, Adelheid, das kann ich nicht, ich darf es nicht. Die Welt, die mich gestern noch liebkoste, hat sich über Nacht von mir gewandt. Daß ich dich damals gerettet, ist längst vergessen, so wie du es vergessen hast. Still, still, ich zürne dir darum nicht, ich finde es ganz natürlich. Sie sinnen mir an, daß ich dich nur aufgenommen, um mit dem schönen Mädchen Staat zu machen, du solltest der Lockvogel sein für eine Gesellschaft, die sonst nicht über die Schwelle der Lupinus gekommen wäre! Nun sei es anders! Man hat sich satt gesehen, man gafft andere Sterne an. Man vernachlässigt mich, spottet meiner hinter meinem Rücken. Wer so einsam dasteht wie ich, von dem wenden sich auch die treuesten Freunde. Merke dir das, es gibt keine Treue, als wer sich selbst treu ist, und das ist schwer. Die Schule ist lang und hart, ich habe sie durchgemacht. Ich kenne die Welt; einer nach dem andern ihrer bunten, flimmernden Lappenvorhänge fiel nieder, auch einer, der fest schien wie das diamantene Firmament – aber das Firmament ist ja auch eine Illusion! Wenn ich dir jetzt den Stuhl vor die Tür setzte, hieße es, das sei aus Verdruß, weil du meine Erwartungen nicht erfüllt, ich wäre deiner satt. Daß man mich dann tadelte, haßte, ertrüge ich – ich hasse sie ja auch; aber man würde mich auslachen, und – ausgelacht mag ich nicht sein.«

Die Tränen, die aus der wunden Brust, ein heißer Strom, vorbrechen wollten, gerannen durch die Eiskälte der Rede zu Eis: »Sie haben mir erklärt, warum die Bande, welche Sie an mich fesseln, von Ihnen nicht gelöst werden können, Frau Geheimrätin; aber warum ich sie nicht lösen darf, wenn ich weiß, daß meine Gegenwart für Sie eine störende ist –«

»Das habe ich dir allerdings nicht gesagt«, fiel die Lupinus ein, »weil ich es nicht für nötig hielt. Die Sache ist so einfach. Kann man Liebe erzwingen? Du liebst mich nicht und hast mich nie geliebt. Das glänzende Leben in meinem Hause ist dir nicht mehr neu oder nicht mehr glänzend; es zieht dich nicht mehr an. Die Huldigungen, die du empfängst, würden dir auch sonstwo nicht entgehen. Hättest du dich klug von Anfang an benommen, so wäre deine Stellung jetzt gesichert, vielleicht eine so glänzende, daß du auf die mit stillem Mitleid herabsehen könntest, die du noch jetzt so gütig bist, deine Wohltäterin zu nennen. Dein übler Stern hat es anders gewollt. Du folgtest einer sentimentalen Regung, und aus einem Gefühl, das du Dankbarkeit nennst, gabst du dich dem Manne zu eigen, an den dich eine doppelte Täuschung knüpft. Du glaubst ihm deine geistige Ausbildung zu verdanken, und du glaubst, ihn zu lieben. Mein Kind, wer der Dankbarkeit huldigt, ist schon verloren; die Undankbaren sind die Glücklichsten, weil sie die Freiesten sind. Gutes tun ist nichts als eine Berechnung; die einen tun es, um einst im Himmel belohnt zu werden, die andern, um hier einen Vorteil zu haben, mit einem kleinen Einsatz spekulieren sie auf einen großen Treffer. Auch sie sind Toren! Sie täuschen sich immer in dieser Berechnung; wenn die Undankbarkeit des Geschöpfes sie längst belehrt haben sollte, hegen sie dafür noch immer ein Interesse und meinen in einer Art stillen Wahnsinns, ihr Geschöpf werde doch noch einmal in sich gehen und es ihnen lohnen, was sie dafür getan.«

Die Geheimrätin hielt einen Augenblick inne, es schien, als wolle sie sich an der Wirkung ihrer Rede erfreuen; aber Adelheid stand wie ein Steinbild vor ihr. Darauf hatte sie nichts zu sagen. Dann fuhr sie fort: »Über diese Illusion, mein Kind, bin ich wenigstens längst hinaus. Auch du stehst auf einem Wendepunkt. Du bist selbst so klug, daß du fühlst, wie dein Herr van Asten eben nur tat, was ein geschickter Lehrer soll, den man dafür bezahlt. Er erkannte dein Talent und führte dich auf den rechten Weg. Du hättest ihn, auch ohne Walter, vielleicht später, vielleicht besser gefunden. Deine Bildung ist nicht sein Werk, und noch weniger bis du sein Geschöpf. Das siehst du jetzt mit jedem Tage mehr ein, und um deswillen fängst du dich an zu schämen über das Übermaß von Dankbarkeit, mit dem du dich ihm in die Arme warfst. Du liebst ihn auch nicht. Das aber gestehst du dir noch nicht ein und lullst dich vielmehr immer tiefer in die Selbsttäuschung, daß du ihn lieben müßtest. Etwas Berechnung ist indes auch dabei. Du möchtest gern von mir loskommen, aber zu deinen Eltern willst du auch nicht zurück. In der vornehmeren Stellung, in welche sie gerückt sind und welche dir allenfalls den äußern Glanz bietet, an den du dich nun gewöhnt hast, würdest du dich noch weniger behagen; ihre neuen Kreise sprechen dein ästhetisches Gefühl nicht an. Du bemerkst vielleicht schon manches Lächerliche in den Prätensionen, die sie machen. Als gutes Kind gibst du dir Mühe, diese Regung zu unterdrücken; aber du würdest sehr unglücklich sein, sowohl in den alten beschränkten Verhältnissen als in den ausstaffierten neuen. Um aus diesem Dilemma zu kommen, von mir los, und nicht zu deinen Eltern zurück, drängt es dich, und du drängst vielleicht auch ihn, daß Walter eine Stellung bekomme, wo er dich heiraten kann. Mit einer fieberhaften Angst hast du dich auf dies Thema geworfen und machst ihm immer neue Vorschläge, wie er es anfangen soll. Du quälst dich, ihn, deine Eltern, seinen Vater, uns alle. Das weißt du auch recht gut, denn du weißt, daß Walter an ganz anderes denkt als an dich und sich, aber du tust es doch, weil du in einer Art Fieber bist. Du betrachtest es als eine Destination, dich als ein Opferlamm, und mit allerhand hochherzigen Vorspiegelungen schilderst du dann als ein erhabenes Ziel der Selbstverleugnung, was doch nichts ist als der Nothafen, wohin der Schiffer in seiner letzten Verzweiflung steuert. Und wenn du ihn nun geheiratet hast –«

»So getraue ich mir zu, ihm eine gute, treue Frau zu sein.«

»Daran zweifle ich nicht. Aber du wirst es ihn doch fühlen lassen, welche Opfer du ihm gebracht. Du wirst ihm nicht täglich sagen: das und das hätte ich sein können, wenn ich dich nicht geheiratet, ihr werdet euch nicht immer zanken, noch wird er dich abends und morgens mit verweinten Augen sehen; aber du kannst dich nicht enthalten, es ihn empfinden zu lassen, was du empfindest. Augenblicke werden kommen, wo du Reue fühlst. Je länger du dich anstrengst, es zu verbergen, je stärker bricht es einmal unwillkürlich heraus. Er ist ein guter Mensch, aber wenn er empfindlich wird, was ich ihm nicht verdenke, bricht es wohl los, nicht ästhetisch, sondern recht irdisch materiell. Hast du dann Tränen, so ist das noch das beste. Hast du keine, so schraubst du dich zurück in deine Resignation, du verschließest dich in die Burg deines Selbstgefühls. Bist du erst da isoliert, mein Kind, so begnügst du dich bald nicht mehr mit der Verteidigung, sondern du machst Ausfälle. Keine Festung hält sich auf die Dauer, wenn der Kommandant nicht die Gelegenheit benutzt, die sich ihm zur Offensive bietet, und dann – dann ist der Kriegszustand gegen alle erklärt – du stehst wie ich. Täusche dich doch nicht, als ob du nicht jetzt schon darin lebtest! Auf Walter bist du ungehalten, daß er nicht ernstere Anstalten trifft; da fliegt manches spitze Wort, das durch den süßen Händedruck nicht verwischt wird. Ich hörte schon geschraubte Redensarten zwischen der Mutter und dir; ihr vergöttert Kind will nicht mehr das flügge Vöglein im Neste sein; sie begreift dich nicht, aber du begreifst sie nur zu sehr. Und führst du nicht etwa gegen mich einen täglichen Krieg? Irgendwie mußt du es mir doch vergelten, daß dir mein Anblick zuwider ist. Da begnügst du dich, ein harmlos Mädchen, meine häuslichen Anordnungen zu kontrekarieren, du soulagierst meinen Gatten in seinen Wünschen, die ich für seinen Gesundheitszustand nicht angemessen finde, du vertuschest die Unarten der Kinder hier und bist ihnen wohl selbst behilflich bei Näschereien, wenn sie auch den Kindern schädlich sind. Wenn ich mit dem Gesinde zanke, wirkst du begütigend hinter meinem Rücken und umgehst auf unmerkliche Weise, was ich bestimmte. Oh, es ist ein angenehmes Gefühl, von Kindern und Dienstboten als ihr Schutzengel betrachtet zu werden, und während man ihre Liebe einkassiert, ihren Haß gegen andre zu lenken, die nicht so gütig sind und es nicht sein dürfen, weil sie ihre Pflicht dadurch verletzten. Und wie klug es von dir ist, es so heimlich zu tun, daß ich keinen Verdruß davon habe! Die chinesische Vase dort ist mir ein teures Andenken aus meinem elterlichen Hause. Wie geschickt hast du sie auf die Kante des Schrankes gestellt, damit ich nicht täglich den Verdruß habe, zu sehen, wie die unartigen Kinder sie zerbrochen haben.«

»Geheimrätin!« rief Adelheid erblassend, »das ist zuviel!«

»Ich mache dir keinen Vorwurf; im Gegenteil, ich lobe dich, daß du zur Besinnung kommst. Kann ich fordern, daß mich jemand lieben soll, und gar um der Kleinigkeit willen, wo auch ich mir gestehe, daß ich es nicht aus Liebe zu dir getan, sondern wirklich, weil es mich amüsierte, mein Haus durch ein so schönes Mädchen lebendig zu machen. Vieles, was ich aus Liebe getan, ward mir schlechter vergolten. Unsre Naturen haben nun einmal keine Sympathie. Du bist mir gleichgültig, ich bin dir vielleicht widerwärtig. Kannst du oder ich dafür? Wie ich die angeheuchelten Gefühle der Dankbarkeit betrachte, hast du eben gehört. Du hast nun schon gelernt, dich geistig von mir frei zu machen. Das ist ein Fortschritt. Du mokierst dich über mich, komplottierst im kleinen gegen mich. So wird dir mein Haus eine gute Schule werden fürs Leben. Fahre fort; so nur lernst du, wie man mit den Menschen umgehen muß, um – was die andern nennen, frei zu werden. Ich bin die Ältere und sah es zu spät ein. Übe dich an mir, du hast ein langes Leben vor dir.«

Adelheid stand sprachlos da, als die Geheimrätin langsam nach der Türe sich entfernte. Sie wandte sich noch einmal um: »Noch eins, was ich von dir fordern kann. Wir sind nun einmal aneinandergekettet. Wir müssen es tragen, bis der Zufall die Kette zerreißt. Hüte dich vor jedem Impuls. Wenn du etwa auf die Straße stürztest – echauffiert, halb nackt wie damals – du verstehst mich – würde es an mitleidigen Seelen nicht fehlen, die dich wieder aufnähmen. Auch in Sammet und Seide würden sie dich kleiden, aber nicht aus Liebe zu dir, nur aus Feindschaft gegen mich, mir einen Possen zu spielen. Nimm deine ganze Vernunft zusammen, Adelheid. Mir spielten sie den Possen, aber du müßtest zuletzt doch bezahlen. Wer sooft eine Rolle spielt und mit sich spielen läßt, hat den Kredit verloren.«

Die Tür klinkte hinter ihr zu. Adelheid stand eine Weite regungslos: »Das Weib! Das Weib!« rief sie. »Das Weib vergiftet mich!« und warf sich schluchzend auf das Bett.


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