Arthur Achleitner
Geschichten aus den Bergen
Arthur Achleitner

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Winterfahrten auf österreichischen Alpenbahnen.

Die Hunderttausende, die zur Reisesaison zusammengepfercht auf Schienen durch die österreichischen Alpen hasten, sie haben keine Ahnung, wie das Reisen sich im tiefsten Winter im Berglande gestaltet und welche Anforderungen der unerbittliche Dienst an das opferwillige Personal stellt. Möge mich der Leser auf einer Eisenbahnfahrt ins österreichische Alpenland begleiten.

Wer von München im behaglich eleganten Wagen der bayerischen Staatsbahn der Grenze zueilt, ergötzt sich im Sommer an den mächtig aufragenden Felskolossen des Untersberges und seiner blauen Nachbarn und freut sich, nun bald im Herzen Salzburgs zu sein, welche Stadt Humboldt mit Neapel und Stambul die schönstgelegene der Erde nennt. Wenn es Flocken wirbelt, daß man meinen könnte, Sankt Peter schüttle die ganze Himmelsdecke just über das Gebiet der alten Bischofsstadt aus, dann kann man die Berechtigung des Humboldtschen Ausspruches einigermaßen bezweifeln. Von dem entzückenden Bergrahmen Salzburgs sieht man kein Steinchen, der Nebelschleier verdeckt selbst die Burg und düster verdrießlich ragen die Kuppen der vielen Kirchen des deutschen Rom in die sturmgepeitschte Höhe auf. Es schneit »barbarisch« und das ist immerhin eine erfreuliche Abwechslung gegenüber dem gefürchteten Salzburger Schnürlregen im Sommer. Der bayerische Kurierzug donnert über die lange Salzachbrücke, menschenleer zeigen sich die Quais des zusammengeschrumpften Bergflusses, eine öde Langweile gähnt aus den Mauern der zur Saison so lebhaften Stadt.

61 »Salzburg, alles aussteigen, Zollrevision, Ausgang durch die Revisionshalle!« ruft der gutgenährte österreichische Portier, der im vorsorglich dicken Dienstmantel schier verschwindet. Die wenigen Passagiere klettern vorsichtig über die verschneiten Trittbretter auf den nassen Perron und werden wie Schafe in den schmalen Revisionsraum getrieben. Kühl, der eigenen Würde wohl bewußt, stehen die österreichischen Grenzer an ihren Posten und forschenden Blickes wird der Reisende gemustert: »Haben Sie Cigarren und Tabak?«

Bald ist's Zeit, den Zug der Gebirgsbahn zu besteigen. Ein ander Bild! Vorne eine ungeheuere Lokomotive, groß und kraftvoll genug, um dem Scheine nach einen mittleren Berg umzurennen, daran der in österreichischer Gemütlichkeit »Packlwagen« genannte Dienst- und Gepäckswagen, daran einige Wagen III. Klasse verschiedener Systeme, auch solche ehrwürdigen Alters mit dem Kohlenofen darunter, daran zwei Wagen I. und II. Klasse, System Ringhofer-Smichow.

»Wohin, bitte?« fragen die Kondukteure. Das ist höflich, kommt aber dem italienischen »favorisca« nicht gleich. Warum nur Abgeordneter Baron Stauffenberg diese österreichischen Korridorwagen so grimmig haßt, daß er im bayerischen Landtag sogar deren Ausschließung aus bayerischen Zügen verlangte! Der Sitzraum der einzelnen Coupés ist allerdings beschränkt, weil der Platz für den Korridor gewonnen werden mußte, aber dafür bieten diese Wagen der österreichischen Staatsbahnen für alle Insassen die Möglichkeit einer etwas freieren Bewegung, die Annehmlichkeit einer Toilette und sichern dem Kondukteur ein gefahrloseres Amtieren von Wagen zu Wagen, indem das Trittbrettlaufen beseitigt ist. Die Ausstattung bis auf den Lederüberzug, der nicht nach jedermanns Geschmack ist, gleicht dem Komfort anderer Bahnen und neue Wagen haben die gleich gute Federung wie anderswo.

Bergeinwärts geht die rasche Fahrt. Draußen wirbelt es in tollem Reigen, als müßte die Landschaft bis zum Abend 62 ersticken im Schnee. Dazu heult der Bergwind und jagt Schneehosen vor sich her, der Wehwind, den die Eisenbahner fürchten. Sind wir in Rußland? Dort am Stationshäuschen steht ein Bahnwart im kolossalen Schafspelz, die Wolle nach innen, die Haut in undefinierbarer Farbe gegen den wütenden Sturmwind gekehrt und eine riesige schwarze Lammfellmütze tief in das verwitterte Gesicht gezogen. Die ganze Beamtenschaft ist gestiefelt und trägt Schafpelze oder doch mit Lammfell verbrämte Mäntel und ärarische Pelzmützen. So lang der polternde Zug im breiten Flachgau fährt, hat's keine Gefahr mit dem Schneesturm. Drinnen wird es toller, d. h. nach dem Paß Lueg, dessen Einfahrtsloch ganz erschreckend entgegenstarrt, einem Ungetümsrachen gleichend. Aber alles in Ordnung zeigen die Signale, der letzte Bahnwärter vor dem großen Tunnel steht ordnungsgemäß auf seinem Posten, donnernd fährt der Zug in dem Bergesleib, um den Speckbacher einst gekämpft für die Freiheit seines Landes.

Jetzt rücken die Berge zusammen, als wollten sie den Eingang in ihre Wunderwelt verwehren, muß doch selbst die wildtosende Salzach den Felsen den schmalen Raum für ihr Bett abtrotzen. Und die österreichischen Ingenieure haben kühn den Kampf gegen Fels und Wasser aufgenommen, um der Schiene den Pfad zu ebnen. Eine interessante Fahrt in dieser Felsenwirrnis zu fröhlicher Sommerszeit; jetzt aber blickt man fragend die Platten und Schrofen empor, ob wohl die Schneewächten so lange halten werden, bis der Zug vorüber ist. Ganz geheuer scheint die Lage nicht, dort liegen Schneeklumpen von einigen Centnern Gewicht, die als kleine Ballen abgerutscht von schmalen Felsbändern und im lustigen Abfall sich rapid vergrößernd thalwärts gestürzt sind. Doch so lange nur Ballen von der Größe der Münchener Bavaria als Gruß der Berggeister herabfliegen, hat es nicht viel zu sagen, gefürchtet und gefährlich sind nur die kompletten Lawinen und Bergstürze, die sich aber zur Freude der 63 Bahnverwaltung auf gewisse Gegenden und auf ein so ziemlich bekanntes Programm beschränken.

Es schneit immerfort, von den Bergen sind kaum mehr die Vorhügel in ihren Konturen erkenntlich. Schwarz zeigt sich die gurgelnde Salzach, einen kleinen weißen Schimmer tragen die Wellenkämme, ab und zu sinkt auch ein Eisstück zischend unter, um weiter oben wieder knisternd aufzutauchen. Jetzt im tiefsten Winter stehen nur vermummte Gestalten an den einsamen Bahnhöfen, der jourhabende Stationsbeamte mit Kapuze, der lebendige Schafpelz mit der in einem Fäustling steckenden Hand an der Glocke, und ein paar Bauern, deren grobe Lodenkleidung die Spuren einer tiefen Schneewanderung trägt bis oft an die Achseln reichend. Wie zu Zeiten sommerlichen Sprühregens sieht man jetzt im Schneegestöber gleichfalls rote Unterröcke aus dickem Flanell, da die Weiber den Oberrock schützend über den Kopf geschlagen haben. So die Leute mitfahren wollen, heißt es eilen, »eine Minute!« ist bloß Aufenthalt in den meisten Stationen; der rückwärtige Schaffner ruft laut seine Meldung: »Fertig«, der Schaffner der II. und I. Klasse kürzt das Wort bereits um eine Silbe und meldet in schrillem Rufe: »Fert!« und die Stationsglocke giebt das Abfahrtssignal, im selben Augenblick ertönt auf der Blechpfeife des Zugführers das Signal: Weiter! Ein dumpfer Dampfpfiff, ein Ruck und der Zug wühlt weiter im Schnee.

In Bischofshofen, das im Sommer das bunte Bild eines internationalen Reiseknotenpunktes bildet, laufen auch im Winter drei Züge des Nachmittags zusammen und entwickelt sich gleichfalls reger Verkehr, aber doch in anderen Verhältnissen. Keine wehenden Schleier und keine karrierten Engländer, die Touristik fehlt und das Berliner Geheimratsviertel auf Reisen. Nichts als Landvolk, ab und zu ein zum Konsistorium fahrender Geistlicher, ein Bettelmönch, vielleicht auch ein nach Innsbruck versetzter Offizier und schnatternd das Häuflein Handlungsreisender, pelzbewaffnet, mit 64 Fußsäcken, Handwärmern, Gummischuhen und Gamaschen, als gälte es einer arktischen Expedition. Wo sonst stark mit Surrogaten gewürzter Nachmittagskaffee gereicht wird zur Erquickung verschmachtender Lippen, tragen Kellnerjungens »Haße Würsteln« herum.

Die Kondukteure der drei korrespondierenden Züge tauschen ihre Ansichten aus; die vom Zug 12 sind schön heraus, sie haben ab Wörgl die schlimmste Strecke hinter sich und freuen sich auf Salzburgs gastliche Mauern. Dagegen fragen die 103er, wie's wohl sei mit dem Malefizschnee? Und die Passagiere, die mit der Selzthalbahn in die »grüne« Steiermark wollen, suchen ihre Schaffner auf, um über Fahren oder Nichtfahren informiert zu werden.

»O! Gfahren wird! Freilich ist der 2224er mit dem Schneepflug nüber, aber wir dermachen's schon!« Und richtig, im selben Augenblick ertönt die Kunde, offiziell vom Munde des Bahnhofsportiers, dessen Deutsch mir seit Jahren die größte Bewunderung abringt. Die Gebrüder Grimm müßten ihre Freude an dem Manne haben, wenn er verkündet: »Einschteiggen nach Sankt Joohannn, Lend-Gasteinn, Wergl, Inschbruckk, Bregénzz, Buks – pitte Blatz zu nemmen!« Uns fordert er zum Einsteigen nach »Hittau, Radstattt, Schladming, Selzthal, Sankt Michöhl, Graaaz« auf.

Auf der Selzthalbahn soll im tiefen Winter Baron Stauffenberg fahren, dort findet er bei den Lokalzügen die verhaßten Korridorwagen nicht mehr. Leider! sagen wir. Es schneit so intensiv, daß die Wagenfenster undurchsichtig werden. Der Zug kriecht die starke Steigung aufwärts ins Thal der Fritz, windet sich durch eine Reihe von Tunnels und schleicht dann durch die ungeheuere Schneewüste weiter. Rasch ist's Nacht geworden, wie wohl die Uhr kaum die fünfte Stunde zeigt.

Was ist los? Dort vorne Fackelschein, der Zug hält, rasch das Fenster auf: Arbeiter schaufeln die Bahn frei, es 65 wär' grad vorhin, »a Bröckai« Schnee herunter von der Berghalde und dieses »Bröckai« hat den Bahndamm auf circa achtzig Meter völlig überschüttet.

Die österreichischen Staatsbahnkondukteure haben eine besonders glückliche Gabe zu beruhigen und ihrer Versicherung, der Zug käme schon durch, glaubt jeder Hoffende so lange, bis die Räder der Maschine laufen ohne einzugreifen. Das dienstliche »Fertig« ist jetzt außerdienstlich geworden, der Führer fragt nach vorne: »Geht's?« und der Maschinist probiert es. Die Bahn ist notdürftig ausgeschaufelt, sodaß eine hohe Schneemauer links und rechts des Geleises aufragt, es kann gehen. Und richtig, die Kondukteure klettern schneebedeckt schwerfällig in ihre Bremshäuschen und der Zug humpelt weiter. Noch einigemale dieselbe Scene, dann auf steierischem Boden im Ennsthale scheint es besser zu werden, da die Bahn weniger an Berghängen läuft.

Ich steige an einer sibirischen Station aus, ein Haus, ein Schupfen, auf einen Büchsenschuß entfernt ein kleines Wirtshaus mit beleuchteten roten Fenstervorhängen und die rabenschwarze stürmische Winternacht im Hochland, das ist alles. Was ist ein einsamer Mensch in solcher Schneewüste? Nichts! Wenn der bestellte Schlitten nicht hinter der Station wartet, dann heißt es eine Winternacht in einem ungeheizten Wartezimmerchen verbringen, oder auf den zurückfahrenden Nachtzug warten viele Stunden lang oder einen Bergmarsch nach dem am Hochplateau gelegenen einsamen Marktflecken – meiner Sommerfrische – anzutreten. Der Schlitten ist da, also aufwärts! Und wahrhaftig bald wäre der Ort für längere Zeit eine Winterfrische geworden. Schon die während der Nacht abgehenden Lawinen des Kammgebirges ließen ahnen, welch furchtbaren Ernst die Jahreszeit des Spätwinters zum Vorfrühling in sich birgt. Die Fenster klirren, die Erde zittert, weil oben über die Platten und Reuschen die Schneewächten abgehen und dumpf krachend verheerend zu Thal stürzen.

66 Ein Sonntagsmorgen im tiefverschneiten Bergdorf! Wie sonst läuten die Glocken zum Gottesdienste, aber nur spärlich kommen die Andächtigen, der Schnee ist zu tief; die braven Bergler waten bis an die Achseln herab zur Kirche und mancher kann über die vereiste Halde überhaupt nur mit den spitzen Steigeisen an den Schuhen kommen. Aber sie kommen, wenn auch nicht zur ersten Messe, sicher zum »Neuni-Amt«, so lange es eben möglich ist, die ungeheueren Schneefelder zu durchqueren.

Es schneit auch an Sonntagen in der »weißen« Steiermark. Ich muß gestehen, daß mir bei aller Vertrautheit mit den Verhältnissen der Hochgebirgswelt angesichts der kolossalen Schneemassen doch etwas beklommen zu Mute wurde, denn wie leicht könnte der Schnee Betriebseinsteller werden und dann sitze ich in veritabler Winterfrische vielleicht auf Wochen fest, ein Gefangener aus Unvorsichtigkeit. Und richtig, die Gefahr ist schon da; eben meldet der Draht: »Linie Steinach–Attnang unterbrochen, bei Aussee ungeheuerer Schneefall, Lawinenabgang, vier Meter hoch verschneit.«

Welchen Heiligen ich in diesem Augenblick angerufen habe vor Schreck, weiß ich nicht mehr. Unser liebenswürdiger Herr von Schnorr war es nicht und Baron Czedik war nicht mehr Generaldirektor der österreichischen Staatsbahnen, um die es sich jetzt zu einem und für mich wichtigsten Teile handelt. Das italienische »presto«, »subito«, »prestissimo« in das kräftige Steierisch: »Schlaun Di Hansl!« übersetzend, damit der Postschlitten rascher die Bahn erreiche, verließ ich ohne Abschied die in holder Sommerszeit so segensreiche, paradiesische Gegend. Was für den Syrier die »Guta«, die Gärten von Damaskus, sind und der hyrkanische Turkmene die »Königin der Welt« nennt, darunter das elende Zeltlager von Merw meinend, und wenn der ägyptische Beduine auf dem Felsenscheitel des Mokattam angesichts des weißen Häusermeeres von Kairo ausruft: »Mâ fî ahsan minno!« (es giebt nichts Schöneres!), so entzückend war für mich auf 67 der Station die Kunde: »Der Zug kommt herauf von Selzthal!« Freilich heißt es warten, in Geduld warten, von welcher Goethe nicht viel wissen will und darum im Faust sagt: »Drum Fluch vor allem der Geduld.« Ich preise die Geduld, so sie mit der wirklichen Ankunft eines sehnsüchtig erwarteten halbverschneiten Bahnzuges belohnt wird. Goethe war ebensowenig wie Schiller Eisenbahner, ersterer weil er die bei der Eisenbahn so notwendige Geduld verflucht und Schiller nicht, weil er sonst in Hochachtung vor den Schneeverhältnissen auf alpinen Bahnstrecken hätte schreiben müssen: »Im Schnee (statt im Felde), da ist der Mann noch was wert.«

Und wir rollen weiter, jeder Reisende die bange Hoffnung im Herzen, es möge die Flucht durch die Bergwelt noch einmal gelingen. Und knapp vor dem letzten, freiheitbietenden Tunnel, da drohte das Verhängnis. Mit nicht geringem Entsetzen besah ich mir die Gegend – wir saßen einen Büchsenschuß vor der wegen ihrer Restaurationslosigkeit und Armut an Häusern scherzweise benannten sogen. »homöopathischen Station«, deren Vorstand einmal zwei verhungerte Tauben erworben und sie derart am Küchenfenster aufgehängt haben soll, daß der Taubenschatten in einen zehn Kannen fassenden Krug fallen konnte. Dieses Wasser mit dem Taubenschatten kochte die Frau des Stationsvorstandes langsam zehn Stunden lang und der Gatte und Generalissimus seiner Station nahm an besonders stärkungsbedürftigen Tagen immer einen Tropfen »Taubenschatten« in einem Viertelliter Wasser.

Schöne Aussichten das, mit knurrendem Magen an der Hungerstation festzuliegen! Die Räder an der verschneiten Maschine laufen wohl, aber sie greifen nicht und so müssen zunächst das Gestänge ausgeschaufelt und alle Kunstgriffe der Eisenbahntechnik angewendet werden, um den Zug wieder flott zu bringen. Und vor- und rückwärts schiebt sich das eiserne Ungetüm, bis die Maschine wieder Herr ihrer 68 Gliedmaßen ist und die Fahrt fortgesetzt werden kann. Diesmal haben auch die Kondukteure mit einiger Spannung der Entwickelung der Situation vorne an der Maschine entgegengesehen, offenbar war auch ihnen ein gezwungener Aufenthalt in der »homöopathischen Station«, fern von den Fleischtöpfen Bischofshofens nicht geheuer. Aber flink kletterten sie empor, als die ersten »Gehversuche« der Lokomotive gelangen. Noch nie aber schmeckte das Mittagessen so gut, wie an jenem Wintertage zu Bischofshofen und abends nach glücklicher Heimkehr der heimische Gerstensaft aus der kgl. bayer. Staatsbierfabrik. 69

 


 


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