Arthur Achleitner
Geschichten aus den Bergen
Arthur Achleitner

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Eine gefährliche Bergfahrt.

Vergnügt saßen wir, ich mit meinem wackeren Wandergenossen Seyfried, dem Specialisten der Karwendelgruppe im reizenden »Postgarten« zu Mittenwald und labten die durstigen Kehlen mit Neuners prächtigem Stoff. So oft die Zenzl die Humpen wegnahm zur frischen Füllung, guckten wir in ihre schwarzen Augen, die früher die Nacht der Münchener Wurstkuchl erhellten, dann aber richtete der Blick sich gleichsam fragend auf den gewaltigen Gebirgsblock des Karwendels,Die deutsche Nationalsage kennt die beiden Riesen Kerwentil und Orentil, die Namen scheinen (nach Dr. Sepp) von dem Gebirgsstock Karwendel und Orteles (Ortler) hergenommen. der sich vor der »sächsischen Kolonie« Mittenwald aufbaut in einer niederdrückenden Wucht und dem unser Besuch für morgen zugemutet ist. Der Felsenkoloß scheint etwas dergleichen zu ahnen, er grollt ab und zu wie sein Nachbar drüben im Westen, der grausame Wetterstein, von dem die Mittenwalder im Leben noch nichts Gutes erfahren, weil er eben der Wettermacher ist und zwar Schlechtwetterfabrikant.

Schwarz ballen sich im Wetterloch die Wolken zusammen, es brummt ab und zu verdächtig und die Karwendelspitze trägt eine Wolkenhaube, die eine verdammte Ähnlichkeit mit Geßlers Hut hat. Bauvolk-Kaspar, der junge, kräftige Bergführer, kratzt sich hinter den Ohren, gerade so, wie zu seiner Militärzeit, wenn die fünfte Kompagnie des ersten Infanterieregiments recht »damischen« Hunger verspürte und der Koch die Knödel impertinent klein gemacht hatte. Er, 77 d. h. der Kaspar mit dem soldatischen Schnauzer, meint uns zu Liebe, »es thät ihm nichts,« sagt aber nach der erneuten Wettersteinbeäugung. »es thuat eahm do' was.« Schöne Aussichten das, wenn man gegen vier Uhr morgens steigeisenbewaffnet aufbrechen möchte.

So geht es im Zweifel hin und her, die feiertäglich beim Bier sitzenden Dörfler versichern hoch und teuer, morgen würde es schön, »wennst a Maß zahlst,« eine Aufforderung, die bekanntlich nach reichsgerichtlicher Entscheidung mit einer Anzahl von Tagen Gefängnis belegt werden kann. Aber was kümmern wir uns heute um das Reichsgericht! Wenn uns Exzellenz Simson für morgen einen richtigen Karwendeltag geben würde, dann, ja dann wäre Exzellenz unser Mann!

Die fünfte »Halbe« kommt und gerade wünscht die liebenswürdigste Posthalterin des bayerischen Oberlandes, Frau Neuner, einen »guten Abend«, weils Licht angesteckt wird. Das ist so Brauch bei uns und weil eine Höflichkeit die andere erfordert, so verzapfen auch wir eine Portion gebirglerischer Höflichkeit mit dem Vierzeiligen:

»Schön war die Welserin
Von Augsburg am Lech,
Aber d' Posthalterin von Mittenwald
Is aa net von – Blech.«

Wenn der Mensch um drei Uhr aufstehen muß, marschiert er frühzeitig ins Bett. Und unsere Betten standen – eine erneute Liebenswürdigkeit der Frau Posthalterin – gar im Fürstenzimmer. Der Herzog von Nassau hat's nicht besser, wenn er im »Gasthof zur Post« absteigt.

Um drei Uhr soll der Kaspar wecken, wenn er glaubt, daß es der Karwendel erlaubt. Richtig klopft es gegen Morgen, rasch wird nach der Uhr gegriffen. Sechs schlägt es vom Kirchturm. Nanu? Der Kaspar meint: Um drei Uhr war's zu schlecht zum Aufwecken und jetzt sollen die Herren selbst entscheiden. Gehen oder nicht gehen, das ist 78 jetzt die Frage. Nach scharfem Auslug hinüber auf den Wetterstein heißt es: »Nein« und trübselig schleicht der Kaspar die Treppe hinab. Doch plötzlich reißt der Nebel auf, ein Stückchen Himmel blaut dazwischen, unter der Hausthür gluckst Kaspar eben die erhaltene überflüssig gewordene Weinflasche aus, da ruft mein Wandergenosse Seyfried aus »Halt! Der Wind wendet! Wir gehen!«

Zu spät, die Flasche unten ist leer. Doch das macht nichts, eine halbe Stunde später sind wir fix und fertig in der »kurzen Wichs« unterwegs. Schön ist's gerade nicht, aber schlecht auch nicht. Im echten Bergsteigerschritt geht es langsam aufwärts; nicht lang, so perlt von der Stirne heiß der Schweiß.

Die erste Bergfahrt im »Auswärts« gilt dem Karwendel, meine letzte zu Virgili und Eligi galt dem Wendelstein. Welch ein Abstand in der Natur! Vor einem halben Jahre die Starre des Todes auf Flur und Feld, auf Berg und Thal, jetzt ein Blühen überall, selbst der Almenrausch streckt dort die lieblichen Dolden neugierig in die Welt, wo Menschenhände ihn nicht zu erreichen vermögen. Wo es möglich ist, freilich, da wird die Blume der Berge geknickt, ehe sie erblühte.

Immer aufwärts im langen Zickzack auf schmalen Felssteigen, die die Alpenvereinssektion Mittenwald mit großen Opfern dem Bergkoloß abgerungen mit Dynamit und Meißel. Ein jährlich Opfer dies, denn böse haust der Winter auf solcher Höhe. Drahtseile liegen zerrissen am Pfade, die Stifte geknickt, als wären es Zahnstocher gewesen. Das bißchen Erdreich ist weggeschwemmt, die Runsen ausgefüllt mit tiefem Schnee, an dem die Sonne wohl gierig leckt, den sie aber nicht wegbringen kann in seiner zähen Gänze. Längst sind wir in der Zone, wo Fels und Schnee Alleinherrscher sind.

79 Wir müssen aufwärts durch den Schnee. Zwei Bergarbeiter der Sektion Mittenwald, wetterharte Gestalten, die im Winter Geigen machen, die übrige Zeit aber arbeiten, wo es was zu verdienen giebt, sind mit der Wegreparatur beschäftigt. Sie kommen mir gerade recht, mit Pickel und Schaufel bahnen sie den Pfad hinauf ins Klamml, der bösesten Stelle unter dem Karwendelgrate. Dann noch eine saure Viertelstunde, die der inzwischen eingefallene Nebel nicht versüßt. Nicht daß er gefährlich würde, aber fatal ist er doch. Über der Westseite liegt ein dichter Nebelschleier, durch den das Trauergeläute für unsere heimgegangene Königinmutter herausklingt. Landestrauer im weiten bayerischen Reich künden die Glocken herauf zur Höhe der Karwendelspitze. Trauer jetzt wie vor drei Jahren, als das liebliche Pfingstfest Thränen entlockte dem braven, treuen bayerischen Volke. –

Die Südostseite ist frei – welch ein Ausblick auf ein Meer von Felsenspitzen, Steinwüsten, Schuttfeldern. Abgrund ringsum und Grabesstille, die ab und zu der Westwind stört. Tiefer Schnee liegt eingebettet in den Mulden, gezackte Mauern türmen sich auf, immer mehr Felsenspitzen, dann hinten im schimmernden Weißblau die Innthaler Berge, die Gewaltigen von Stubai und Ötz, die Ortlergruppe in ihrer hehren Majestät. Wer sich je satt sehen könnte an dieser Bergeinsamkeit! Was ist der Mensch, der in diese gigantische Welt blickt! Nichts, das fühlt die Menschenbrust und des Menschen Gedanken streben himmelwärts zum Schöpfer des Weltalls. Wie schweigsam die Menschen werden auf solcher Höhe! Die wahre Andacht durchzieht die Seele! –

Dann beginnt der Kampf von Sonne, Wind und Nebel. Tückisch schleicht der letztere um die Zacken und Zinnen, er umhüllt auch uns, um in Fetzen zerrissen von dannen zu weichen, wenn durch das Wetterloch stoßweise der Sturm herüberbläst auf unsere Spitze. Dazu glotzt die Sonne durch 80 die dicke Nebelschicht, als wäre sie blind, machtlos, sie, die die Welt regiert, wenn Jupiter nichts dagegen hat. Ruckweise erweitert sich die Aussicht, auf Sekunden grüßt die östliche Karwendelspitze herüber, dann aber fällt mit einer Präcision, wie wir Münchener sie vom Hoftheater gewöhnt sind, der Vorhang. Vorbei!

Aber nach unten ist ja der Blick noch frei, auf Wiesenmatten tief, tief unten, auf Schuttfelder, Kare und Schneereuschen. Das Glas vor dem Auge, entdeckt man bald reges Leben auf den Schneeflächen, die Gazellen der Alpen, herzoglich nassauische Gemsen (d. h. wenn sie nicht von tirolischen und bayerischen Wilderern weggeschossen werden) spielen im allerliebsten Reigen Fangemännchen, bald wie rasend im Kreise auf der Schneemulde, bald in gewaltigen Sprüngen aufwärts auf Felswände, eines das andere verfolgend, bis das Leittier sichert und plötzlich das ganze Rudel abwärts stürmt und im tollen Wechsel das Spiel erneuert. Für den Touristen ein Schandwind, der vom Westen herbläst, aber für den Jäger Gold wert zum Anpirschen. Ein Stündchen emsigen Abwärtskletterns und das Rudel wäre vor dem Rohr. Unsere zwei Geigenmacher fühlen mit, mit weitaufgerissenen Lichtern folgen sie den Bewegungen der Gemsen, die von unserer Spitze aus gesehen nicht größer wie die bekannten blutsaugenden Schmarotzer diesseits und jenseits des Rheins und der Leitha u. s. w. auf dem Schnee hüpfen. Ich kann mir nicht helfen, wer mit solchem Interesse auf Gemsen blickt, kennt sie nicht bloß durch das Bilderbuch. Aber ich will den braven Leutchen nicht nahe getreten sein. Am allerwenigsten dem Anderl (Andreas) mit den klugen Augen. Ein kleiner Knirps, aber zum Staunen findig, von dem eine Stunde später Menschenleben abhingen.

Wie der Nebel vollends unsere Spitze umhüllte, ward das Menu bereitet. Eine Alpenmahlzeit auf der Höhe von 2382 Metern, bestehend aus Bouillon von Quaglios vortrefflichen Bouillonkapseln, den ausgezeichneten amerikanischen 81 Fleischkonserven der Armour-Kompagnie Chicago (Vertreter für Deutschland P. Wohl-Frankfurt am Main), kalten Fruchtomlettes (die ich, weil Hunger und Durst zugleich befriedigend, nicht genug bei Hochtouren, wo es an Wasser mangelt, empfehlen kann), Semmeln und Thee nebst Äpfeln. Wie das mundete!

Kaum waren wir fertig mit der Mahlzeit, so erschollen durch den Nebel Stimmen, doch war nicht zu unterscheiden, was gerufen wurde. Wir in der Meinung, es käme eine neue Gesellschaft auf der Spitze angerückt, brachen auf, um Platz zu machen. Zu sehen war ja ohnedies nichts mehr, kaum noch die Kreuzspitze. Rasch war der Plan über den Abstieg fertig; den alten Weg wollte ich nicht mehr machen, die anderen zwei Abstiege erklärte der Führer des vielen Schnees wegen für unpassierbar. Den vierten hatte unser Kaspar wohl einmal im Leben gemacht, trug aber Bedenken, ihn als Führer zum zweiten Male zu machen. Da indes der listige Anderl versicherte, »der Weg wäre zu machen« und ihm gut bekannt, so entschieden wir uns zum Abstieg über die Lindlahnscharte unter der Sulzklammspitze. Waren wir doch ferme, erprobte Bergsteiger!

Unten am Grat kamen die Stimmen von früher näher, im Nebel war fast nichts zu sehen, bis wir die Menschen vor der Nase hatten. Die alte Geschichte! Studenten der Anfangssemester auf der Thalwanderung, vom Übermut und Leichtsinn gepackt, auch 'mal 'ne »schneidige« Bergtour im Vorbeigehen mitzumachen. Zwei Kandidaten der Medizin – sie rochen wenigstens nach Jodoform, ohne verbundene Schmisse zu haben – verirrt im Nebel, ratlos, ängstlich, die richtige Stimmung zur späteren Verzweiflung – zum Unglück. Ich muß meine Empörung eingestehen, die mich erfaßte, als ich die beiden jungen Herren erblickte. Der eine, jüngere, trug omnia mea mecum porto dünne Stadtkleidung, einen Überzieher und ein Bergstöckchen, auf das sich keine Fliege ohne Schaden zu nehmen stützen darf. Der 82 etwas ältere Studiosus mit blondem Schnurrbart trug sommerliche Kleidung, Stiefelchen für Ballparkett, ein niedliches Ränzlein am Rücken, durch das eine Reitgerte gesteckt war. In dieser »Ausrüstung« waren die jungen Herren auf die Karwendelspitze »gelaufen«. Ein beispielloses Glück, überhaupt so weit heraufgekommen zu sein.

Nun aber im Nebel begann das zweite Kapitel der »schneidigen« Tour. Ob sie uns »nachgehen« dürften? fragten die verzagt gewordenen Studenten. Das ist eine heikle Frage. Wir in voller Bergausrüstung, vertraut mit den Gefahren einer Hochtour, begleitet von autorisierten Führern konnten einen Abstieg a la chamois wohl riskieren, aber ob die zwei »Nachgeher« glücklich die von der jungen Isar durchflossene Thalsohle erreichen würden, das war zweifelhaft. Sie aber hier oben im wirren Nebel allein zu lassen, schien noch gefährlicher. Unter Ablehnung jedweder Verantwortung für die Konsequenzen des »Nachgehens« und nach rascher Belehrung über die notwendigsten Handgriffe ward denn der Marsch angetreten, der Anderl voraus als Pfadsucher, zum Schluß nach alter Gewohnheit meine Wenigkeit mit dem Führer.

Recht winterlich sah sich diese Expedition an, eingehüllt im Nebel, daß man kaum hundert Schritte vor sich sah, links zur Seite die schneeerfüllte Karwendelgrube, die vielen Schneemulden auf den Karen, ein wüstes Bild hochalpiner Unwirtlichkeit. Es empfinden dies auch die Schafe, die ihr karges Futter hier oben suchen, weil es ihnen zu Thale bereits zu warm geworden. Blökend eilt die Herde heran, zudringlich schnuppert sie nach Salz, daß man sie schließlich mit den Stöcken von dannen jagen muß.

Ein kleines Stück weiter über eine breite, grasbewachsene Sinke, auf die das Schafvolk viel Geröll geworfen. Dann geht es scharf auf den Linderspitz zu, an dessen Wandabsturz auf Tiroler Seite wir hinüberklimmen sollen, um auf bayerischer Seite die Lindlahnscharte unter der 83 Sulzlklammspitze zu gewinnen. Plötzlich stockt der Marsch, Anderl an der Spitze löst sich ab und eilt in mächtigen Sprüngen dem Halbrondell der Wandung zu. Katzengleich, dann wieder mit der Leichtigkeit der Gemse überklettert er einen starren Felsvorsprung und läuft dann auf kaum handbreitem Steig die Rundung aus. Schlecht sieht dieser Schafsteig aus, allein er ist passierbar und wenn der Anderl hinüberkommt, können wir es auch. Ich vergaß in diesem Moment die zwei Studenten, sollte aber an ihre Existenz recht bald erinnert werden. Über losen Felsschutt und echtes Karwendelkleingeröll, das keinen festen Tritt gestattet, daher größte Vorsicht verlangt in scharfem Gefäll hinab, gelangt der Trupp an eine Schneezunge, die sich in der Rinse festgelagert hatte, hoch genug, um dem Wanderer hinderlich zu sein. Anderl tritt Stufen in den Schnee und stellt sich am andern Schneeufer auf, um Hilfe zu leisten für den jähen Anstieg der Felsschrofe. Während Kaspar und ich uns der Zunge nähern, schreitet Freund Seyfried vorsichtig über den Schnee, dann der kleine Student mit dem Fliegenbergstock kommt, wenn auch mit schlotternden Knieen, hinüber. Jetzt wenige Schritte vor mir trifft die Reihe den ränzelbewaffneten Studenten; ich rufe ihm zu: »Aufpassen, Schrittprüfen, langsam!« Doch hört der Mann nicht mehr vor Angst, ist er momentan blind oder geistesgestört, er zappelt zwei, drei ängstliche Schritte, noch ein falscher Tritt auf den Schneerand, ein Rutsch, ein gellender Schrei – – – der Student fährt mit fürchterlicher Schnelligkeit über die Schneemulde, dann erreicht der willenlose Körper den Geröllrand, über welchen er mit ungeheurer Kraft hinwegfliegt. Noch sind die Beine voraus, dann aber wirft es den Körper seitlings in raschen Drehungen, wenige Schritte vor einer kleinen Felswand. Fliegt der Ärmste mit dem Kopf an dieselbe, so ist es um ihn geschehen, fliegt er über dieselbe hinaus, so fährt er über den etwa tausend Fuß tiefen Steilabsturz in das Karwendelthal. Das ist alles viel rascher passiert, als erzählt, das Werk weniger 84 Sekunden! Noch einmal wirft es den Studenten, da hemmt das Lederränzel den Sturz, einige große Geröllsteine sind zwischen Rücken und Ranzen geraten, und diese bremsen, bis knapp vor der todbringenden Wand der Körper liegen bleibt.

Leichenblaß hängen wir, Fliegen gleich, an der Wand, vor Schrecken stumm. Der Kamerad des Abgestürzten zappelt, das unterwaschene Gestein bröckelt ab, ein Steinregen saust über den Schnee auf das Karfeld: Still halten um Gottes willen! Die Steine erschlagen sonst den Abgestürzten! Eben weicht unter mir der Boden, der schotterbesäete Rasen rutscht, rasch ein Seitentritt und noch rechtzeitig erwische ich den Flüchtling mit der Bergstockspitze und halte ihn fest. Der Nächste zur Unglücksstätte bin ich. Wie gelähmt stehe ich vor ihr, unfähig, die Gedanken zu sammeln. Es ist entsetzlich, einen Menschen abstürzen zu sehen in die Tiefe, ohne helfen zu können. »Jeß', Maria und Josef!« jammert neben mir der Kaspar, er, der eisenfeste Bergführer, ist erschüttert.

Von der Felswand drüben löst sich auf schier unfaßliche Art der Anderl ab, er rutscht und springt und kriecht über das Kar, es ist unmöglich für Menschenfüße da hinab zu kommen, ohne das eigene Leben zu verlieren. Aber der brave Anderl wagt das Unmögliche, er folgt einem inneren Drange, er muß; im weiten Bogen springt er im Kar abwärts, um zu verhindern, daß die absausenden Steine den Abgestürzten treffen. Von der Seite kommt er immer näher, noch ein Griff, er hat ihn erfaßt. Doch jetzt rasch hinweg, der Geröllfleck gerät ins Rutschen – mit einem Ruck bringt der Anderl den Studentenkörper auf die feste Felswand herauf. Er stellt den Mann auf, die Beine versagen den Dienst, er untersucht den Kopf, Arme und Beine und deutet dann zu uns herauf: Nichts geschehen! Gott sei gedankt! Also nur ohnmächtig. Heroisch klettert der brave Anderl nochmal weg von der sicheren Wand, holt etwas Schnee über das Geröll und reibt dem Ohnmächtigen die Schläfe, bis er erwacht zum Leben. Es gelingt und bald darauf steht der junge 85 Mensch wieder auf den Beinen, die ihm allerdings heftig schlottern. Daß die Kleider in Fetzen, die Arme gequetscht und in die Beine ganze Striemen gerissen sind, hat nichts zu sagen, wenn nur das Leben gerettet ist im fürchterlichen Absturz. Mit unendlicher Mühe gelingt es dem wackeren Anderl den völlig verzagten Studenten in die Höhe zu bringen auf den schmalen Schafsteig.

Jetzt erst kann ich mich entschließen, den Übergang über die Unglücksstätte zu wagen. Ein Gefühl der Depression vermag ich aber nicht zu unterdrücken, vor dem geistigen Auge erscheinen mir plötzlich Frau und die zwei Kinderchen, die den Ernährer verlieren, wenn ich jetzt hinabsause in die gräßliche Tiefe. Aber was dann, wenn ich den Übergang nicht wage? Retour wird es nicht besser als was vor mir liegt. Darum Mut! Der Führer schlägt für uns neue Stufen in den Schnee, er tritt sie aus, geht über die Lahne, kehrt zurück und versichert: Es geht! Er reicht mir die Hand, auch er ist erregt, die sonst so feste Hand zittert merklich. In Gottes Namen sei's gewagt! – – –

Es ist gelungen, wir sind hinüber.

Was nun folgte, darf getrost mit einer Hochtour schlimmer Art verglichen werden. Kaum oben am Grat des Wandabsturzes muß ein Pfad längs der jäh abfallenden Wände des Linderspitzes gesucht werden, dann wieder über Geröllfelder, Schneerunsen, Felsblöcke, Plattenhügel, Terrassenabsätze, oft hart am Abgrund auf kaum einige Zoll breiter zerwaschener Wegspur, die sich dann wieder im Schutt verliert. Ständig giebt der Boden nach, schier nach jedem Tritt rollen Steintrümmer zur Tiefe, Kare müssen durchquert werden auf Dimensionen, die sich der Städter kaum denken kann. Noch einigemal erwuchs die »Annehmlichkeit« der Überschreitung breiter Schneezungen, die selbst uns recht bedenklich erschienen. Den einmal abgefahrenen Studenten hinüber zu bringen wurde zu einer höchst beschwerlichen Arbeit, der Verzagte jammerte jedesmal beim Anblick einer Schneerunse: »Das 86 ist wieder was für mich.« Drei volle Stunden dauerte diese Wanderung, bis sich endlich die ersten Anfänge der Latschenregion (Krummholz) zeigten, die uns von der ärgsten Sorge befreiten. Durch die Latschen ging es, wiewohl beispiellos steil abwärts, doch verhältnismäßig gut, weil das Krummholz dem weniger geübten Wanderer doch einige Erleichterung durch Anklammern an die Äste bot.

Wie sich dann auf dem letzten Vorsprung des gewaltigen Blockes die ersten Fichten auf steinigem Grasboden zeigten, da erst winkte die Befreiung, das Gehänge durch Fichten- und Föhrendickung, in der die Hütte eines Schafhirten versteckt liegt, bot keine Gefahren mehr. Dann noch ein Stündchen raschen Abstieges im Bergbachbett und gegen sieben Uhr abends stehen wir auf der Landstraße zwischen Scharnitz und Mittenwald. Wie auf Kommando dreht sich alles um und blickt empor zu dem ungeheuren Bergkoloß, dessen Zinnen und Wände uns heute so oft die Zähne gezeigt haben. Jetzt erst durchschüttelt es einen mit Grauen, die Gefahr der Wanderung über diese furchtbaren Wände läßt sich von unten aus in ihrer Größe ermessen. »Allmächtiger Gott! Dem Tode entronnen!« riefen die Studenten aus in tiefer Bewegung, dann dankten sie aus vollem Herzen hauptsächlich dem braven Anderl, der solchen Dank wahrlich vollauf verdiente.

Während die Mediziner, so rasch es ging, der nahen Scharnitz zustapften, wanderten wir der »Post« in Mittenwald zu, auch recht von Herzen froh, daß diese Bergfahrt noch so glücklich abgelaufen.

Die Moral von dieser wahren Geschichte kann jeder selbst herausfinden: Es bleibe der Ungeübte solchen Bergen fern und nie und nimmer unternehme er ohne Führer und ohne Ausrüstung gefährliche Bergfahrten. 87

 


 


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