Arthur Achleitner
Geschichten aus den Bergen
Arthur Achleitner

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Diensttreu!

In den sechziger Jahren hatte es in den Hochrevieren des Oberlandes, namentlich gegen die österreichische Grenze (Pinzgau) zu, infolge des kleinen Personalstandes zum Jagdschutz enorme Schwierigkeiten, dem Wildererunwesen nur einigermaßen Herr zu werden und in den weiten Revieren etwas Ordnung halten. Wo heute das Personal verdreifacht ist, mußte damals ein einziger Jagdgehilfe genügen.

Gerade gegen die Pinzgauer Grenze zu, wo am Hirschbichl die schwarzgelben und weißblauen Pfähle aneinanderrücken und Berg und Thal geschieden wird in bayerisches und österreichisches Land, wurde höllisch frech gewildert, wiewohl gerade der dortige Jagdgehilfe ein wahrer Teufelskerl, flink wie die Gemse, schlau wie der Fuchs und pflichttreu sondersgleichen war.

Freilich hexen, überall zu gleicher Zeit in dem ungeheuren Revier zu sein, das konnte auch der Jäger R. nicht, aber was schnelle Beine, ein sicheres Auge, Mut und Waghalsigkeit vermögen, das brachte der Sylvester jederzeit fertig. Ein kleiner Knirps ist der Vestl von Statur, aber dafür rinnt ihm Quecksilber in den Adern, der Bursche ist aalglatt und rutscht einem aus der Hand, wenn man glaubt, ihn eben zu haben. Wenn ein anderer infolge zwölf- oder vierzehnstündiger Felswanderung todmüde umsinken würde, steigt der Vestl noch einer Alm zu und tanzt die halbe Nacht durch, wenn just Sennerinnen tanzerisch da sind. Allein trotz dieser beispiellosen Behendigkeit konnte der flinke Vestl es nicht verhindern, daß auch in seinem zu ausgedehnten Reviere gewildert wurde. Zwar fing er die 14 Spitzbuben oft sogar paarweise ab unter Gefahr des eigenen Lebens, allein weniger wurden die Wildschützen deswegen doch nicht. Vermehrt wurde aber nur der Haß auf beiden Seiten und es griff eine Erbitterung Platz, daß jeder Kampf bis zur äußersten Konsequenz mit grausamer Rücksichtslosigkeit geführt wurde.

Für das Leben des Vestl gaben die Bäuerinnen und Sendrinnen hüben und drüben keinen Kreuzer, er muß noch das Opfer seines Berufes und seiner Waghalsigkeit werden, denn die Weiberleute kennen die Schwüre und Flüche ihrer wildernden Männer, Geliebten und Brüder. Wer mit jeder Stunde des ausgeübten Dienstes in treuerfüllter Pflicht sein Leben riskiert und in jedem Augenblick eines bleiernes Grußes aus heimtückischem Hinterhalt gewärtig sein muß, der behandelt die ihm unter die Fäuste kommenden Gauner und Wilddiebe auch nicht wie Hofräte und Vestl hatte es sich selber zugeschworen, dem nächsten Wilddieb schon durch körperliche Züchtigung die Lust zum Gamsstehlen fürder etwas zu verleiden.

Es war um Mitte Oktober des Jahres 1868 und Vestl hatte just einen Pinzgauer Burschen auf dem Korn und beobachtete den verdächtigen Kameraden mit größter Sorgfalt. Vestl war daher nicht besonders erbaut, als plötzlich vom Forstamt die Meldung kam, daß ein hoher Jagdgast auf Gemsen geführt werden solle. Richtig, tags darauf war der noble Herr auch schon da und Vestl mußte ihn ins Gemsrevier führen. Er that dies schweigend, Pflicht ist Pflicht, aber wo er ging, machte Vestl den miserablen Schützen durch schwierige Dauermärsche mürb und trieb ihm dadurch den Heißhunger auf das Gamsschießen aus. So kamen die beiden an einem Oktobernachmittage von den Schründen des Kleineises herab zum Hirschbichl, der Jagdgast mit einem veritablen »Knieschnackler« (mit vor Übermüdung schlotternden Knien), müde, daß man ihm hätte die Augendeckeln mit Zündhölzern stützen mögen; vergnügt bloß 15 der Vestl, an dem der furchtbare Marsch spurlos vorübergegangen. Wie der erste Schluck Wein drunten war, wurde der Jagdgast auch wieder etwas lebendiger, aber umso rascher kam die Reaktion, besonders da die Zimmerwärme das ihre zum völligen Einschläfern that. Vestl sprach nichts und trank nicht, er rauchte lediglich sein Pfeiflein und besah sich die wenigen Gäste in der Stube des einsam gelegenen Wirtshauses. Weiß der Kuckuck, wo die Kerle her sind, die hinten am Ofen sitzen, dachte sich Vestl und prägte sich deren Gesichter ins Gedächtnis. Daß es Wilderer sind, die jetzt in Gegenwart des Todfeindes mäuschenstill sitzen, das unterliegt für den Vestl gar keinem Zweifel. Wenn nur jetzt sein Begleiter keine Dummheiten macht! Ja da hast den Salat!

»Vestl, ich bin todmüde, wir gehen jetzt heim!« sagte der gähnende Herr.

»Wie S' wollen gnädiger Herr!«

Die kleine Zeche ist bald bezahlt; die Büchse umgehangen und Herr und Jäger trollen sich die einsame Hochstraße weiter. Vestl hat in dem Augenblick, in welchem der Herr zum Heimgehen aufforderte, die Burschen hinten im Eck scharf ins Auge genommen und ihre Blicke erfaßt. Jetzt, etwa eine Viertelstunde vom Wirtshaus entfernt, bittet Vestl den Herrn um Überlassung seines Kugelzwillings und empfiehlt dem Herrn den Heimmarsch auf der begonnenen Straße. Er, der Vestl, müsse zur Mooswand hinauf.

»Wie, was, warum?«

Aber der Vestl hat bereits den herrschaftlichen Kugelzwilling und springt in den Wald, um die Felsenhöhe zu gewinnen. Es ist natürlich bloß Vermutung vom Vestl, daß er die Lumpen vom Wirtshause heroben an der Mooswand finden wird, aber möglich wäre es und zwar aus dem Grunde, weil sich auf so kurze Entfernung vom Hirschbichl nur hier oben ein Gemseneinstand befindet und es schon zu spät an der Zeit wäre, höher einsteigen zu wollen. Zu 16 genieren brauchen sich die Wilderer auch gar nicht, der müde Jagdherr und der dumme Jagdgehilfe sind heimgegangen, also ist das Revier rein.

Vestl sucht mit dem Glase die Wände und Schrofen sorglich ab und nach etwa einstündigem Spekulieren sieht er zwei Gestalten sitzen. Also doch! Wie Katze und Schlange zugleich beschleicht der Vestl sein Menschenwild, er pirscht sich den vermummten Gestalten auf einige Meter an und wie er eben anrufen will, geben die Lumpen auf anspringende Gemsen Feuer. Jetzt ist für den Vestl gar kein Halten mehr, er springt auf die Wilderer los und schlägt mit dem Kolben des kostbaren Gewehres zu, daß die Hähne dem älteren der Vermummten das Genick zerfleischen und es rot aufgeht.

Im ersten Schrecken über den plötzlichen Überfall flüchtet der jüngere Wilderer abwärts, doch wendet er vor einer etwa zimmerhohen Wand und macht Anstalten, dem Teufelsjäger wieder an den Leib zu rücken. Im Nu aber hat auch Vestl begriffen und wie die Windsbraut stürmt er jetzt abwärts und springt dem auf so etwas gar nicht vorbereiteten Wilderer mit beiden Füßen auf die Brust.

Ein furchtbarer Schrei ertönt in die einbrechende Nacht.

Wie vom Bogen geschnellt, fliegt der Wilderer hinaus in die Luft, infolge des wuchtigen Anpralles des Jägers, aber auch der Vestl vermag des Sprunges Macht nicht zu dämmen, auch er stürzt über den Felsen, unten an den Kanten mit dem Kopf auffallend, sodaß die Hirnschale eingeschlagen wurde und der arme Jäger sich außerdem die rechte Achsel auswarf. Einem anderen hätte der vehemente Sturz über die Felswand das Lebenslicht völlig ausgeblasen, Vestl jedoch schleppte sich weiter, erhob mühsam den Oberkörper und spähte hinaus, wo denn der Lump hingefallen ist.

Was so ein Kerl für ein Glück hat?

Der Gauner fällt auf behaglichen Sand in eine Reuschen, 17 kann also nur leicht verletzt sein, der pflichttreue Jäger aber schlägt sich den Schädel ein.

Mit Aufgebot aller Kräfte, die stark im Schwinden begriffen sind, kriecht Vestl abwärts auf den Wilderer zu, den er trotz der eigenen fürchterlichen Verwundung einliefern will und muß. Wohl heißt es die Zähne aufeinanderbeißen vor Schmerz, aber Vestl zieht mit seinem warmen Blute die Fährte über Geröll und Sand bis zu der Rinne, in welcher der Wilderer liegt. Eben will dieser sich erheben, erwachend aus der Betäubung des weiten Sturzes, aber schon ist Vestl an ihm, gerade noch zum rechten Augenblick. Waffe hat Vestl keine mehr, oben bei dem niedergeschlagenen älteren Lumpen liegt der zweifellos ruinierte Zwilling, den »Knicker« hat er im Sturz verloren, rasch entschlossen greift er nach dem nächstliegenden Stein – Aug um Aug, Zahn um Zahn! – und schlägt dem Wilderer damit auf den Kopf, bis er wieder in Ohnmacht sinkt. Recht weit vom ohnmächtig werden ist auch Vestl nicht, der entsetzliche Schmerzen erleidet, aber bevor er niedersinkt, will er den Wildschützen noch fesseln. Er nimmt seinen Leibriemen ab und schnürt dem Gefangenen Hände und Füße bis zur Unbeweglichkeit.

Kaum damit fertig, verläßt den Jäger das Bewußtsein. Die Nacht senkt sich herab, eine frostige Oktobernacht, mit ihrem Schleier den ohnmächtigen Jäger und seinen bewußtlosen Gefangenen in den Felsen umfangend.

Wer am frühen Morgen mit Schrecken zuerst erwachte, war der gefesselte Wilddieb, der lange nachsinnieren mußte, bis er begriff, wie er in diese Lage kommen konnte. Nun liegt neben ihm der Jäger in seinem Blute, ohnmächtig, wenn nicht gar schon tot. Allmächtiger Gott! Wenn der Vestl tot ist, dann ist's ja auch um den Burschen gefehlt, der an Händen und Füßen gefesselt, unmöglich von seinem Platze sich fortbewegen kann. Sein Kamerad liegt oben wahrscheinlich ebenfalls schwer verwundet, vielleicht verblutet, 18 sonst weiß kein Mensch, daß die zwei herauf ins Gamsgebirg sind. Also Rettung unmöglich, der Tod durch Verhungern und Erfrieren zweifellos. Wenn nur der Jäger wieder zum Bewußtsein käme! Der Wilderer will sich ja gerne »geben«, nur fort hinunter, das Leben retten aus furchtbarer Not! Der Wilderer wirft sich auf die Seile herum, wo der Vestl mit eingefallenen Wangen und geschlossenen Augen totenbleich liegt. Das Blut ist gestockt, in wirren Büscheln klebt das Kopfhaar zusammen, wo die Hirnschale eingeschlagen ist. Ein schrecklicher Anblick selbst für den rauhen Bergmenschen! Ob der Jäger noch lebt? Der Wilderer rutscht hart an den Körper des Todfeindes und sucht seinen Kopf an das Herz desselben zu bringen. Gott sei Dank und der heiligen Maria! Ganz schwach schlägt es noch im Herzen! Zum Teufel, wenn der Wildschütz die Arme frei hätte, könnte er die Schnapsflasche aus der Tasche nehmen, den Ohnmächtigen laben – und dann durchbrennen. »Na, sell waar hundsgemein!« Ist übrigens ganz gleich, was der Bursch thäte, die Fesseln verhindern ja alles, selbst die Gedanken, denn dem Wilderer fällt jetzt nichts mehr ein, was beitragen könnte, den Jäger zum Leben zu erwecken.

So bricht denn vollends der Morgen an, neblig, kalt, der Wind in kurzen Stößen durchs Geschröff heulend, oben am Firmament jagt der Oktobersturm schwere Wolken umher, einzelne Flinserln fallen herab, es will sich zum Schneien einrichten.

Himmelkruzifix! Das auch noch! Den wachen Wilderer durchschauert es, die Finger wie die Zehen sind zu Eis erstarrt, die Kälte dringt zum Herzen, es ist zum Verzweifeln! Ha! Was thut ein Hund, der seinen Herrn zum Wiedererwachen bringen will? Er schleckt ihm die Schläfe.

»Ich bin kein Hund und der Vestl ist nicht mein Herr, wohl aber mein Todfeind, der mich nausg'sprungen hat über 19 die Felswand! Aber wenn ich'n nicht zum Leben bring, bin i und er verloren!« – – – –

»I probier's!« Und wieder rutschte der gefesselte Wilddieb an den Jäger heran, drückte seinen Kopf an die kalte wachsbleiche Wange des Jägers und leckte ihm mit der Zunge die Schläfe.

Kein Erfolg. Nur nicht auslassen! Es giebt keine andere Rettung aus Todesgefahr!

Es schneit in dichten Wirbeln, schon liegt eine dünne Schneeschicht über dem leblosen Jäger und dem gefesselten Wildschützen. Wie lange noch und die Schneedecke wird zum Leichentuch. Wenn es so fort schneit, ist bis abends das Grab fertig.

Ha, ein Gedanke! Wenn der Pinzgauer versuchte etwas Schnee an die Schläfe des Jägers zu bringen und zu verreiben, vielleicht erweckt das den Vestl zum Leben? Aber wie machen?


Wau, wau!

Hierher, Hilfe!

Gott sei Dank, hier liegt er! ruft der Jagdgast und winkt seinen Begleiter vom Forstamt herbei.

»Ja, was ist denn das? Ein gefesselter lebendiger Wilddieb neben dem toten Jäger!«

»Der Jaager lebet noch, i hab alles versuacht, ihn wach zu bringen!« ruft der Wildschütz durch den heulenden Sturm.

Rasch wird der Jäger emporgehoben, mit Schnaps gelabt, mit Schnee an die Schläfen gerieben und bald zeigt sich ein Erfolg, der Vestl schlägt die Augen auf und sein erster Blick gilt dem gefesselten Wilddieb.

»Laßt's mir nur den nicht aus!«

»Na, einen Schluck Enzian wird er wohl verdienen für die Totenwache.«

Und so ward auch der halberfrorene Wilderer gelabt und von den Fesseln befreit, da eine Flucht jetzt ausgeschlossen erscheint.

20 Der Forstwart nahm den Wilddieb in Eskorte, der Jagdherr und ein Knecht nahmen den schwerverwundeten Jäger in die Mitte und so ging's abwärts zum Zollhaus am Hirschbichl, wo die österreichischen Zollaufseher nach Reinigung des Gesichtes in dem gefangenen Wilderer einen weit und breit berüchtigten Gauner erkannten und sofort seine Einlieferung nach dem nächsten Bezirksgerichte veranlaßten.

Vestl aber wurde schwer krank und konnte noch zu Ostern des darauffolgenden Jahres keinen Finger bewegen. Der ausgefallene Arm wurde falsch eingerichtet, dann wieder gewaltsam »ausgerissen« und abermals eingerichtet, was dem schneidigen Jäger Thränen entlockte, wiewohl er selbst diesen größten Schmerz seines Lebens verbeißen wollte. Der Sturz über die Felswand brachte ihm aber noch ein Augenleiden, das ihn alle drei bis vier Jahre zwingt, eine Klinik aufzusuchen.

Die klaffende Wunde im Schädel verharschte mit der Zeit und wie die Zeit der Gamsbrunst anbrach, war der Vestl wieder stramm und munter im Dienst. Das Gericht sprach ihm zweiundvierzig Gulden Schadenersatz zu, die der Wilderer bezahlen mußte, der Jagdherr aber nahm den gründlich verhauenen, verbogenen Kugelzwilling, den man oben am Gamseinstand fand, als »Andenken« mit heim. Der verhauene ältere Wilddieb war eben froh, ohne Gewehr auf allen Vieren unbehelligt abwärts in die heimatlichen Fluren kriechen zu können.

Treu und unentwegt übt aber der unermüdliche Vestl seinen Dienst auch heute noch aus zum Schrecken aller Wilddiebe. 21

 


 


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