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Die Nacht im Harem

Es war zur Zeit des ersten Balkankrieges. Der junge Amadeo von Trecroce, den seine Wiener Freunde Dixel nannten, hatte noch immer keine rechte Klarheit darüber gewonnen, warum er eigentlich als Freiwilliger auf der bulgarischen Seite gegen die Türken kämpfte. Man wußte damals noch wenig vom Kriege, eine verruchte Leichtfertigkeit stand über der Welt, wie Nero über Rom stand, da er es anzündete.

Amadeo von Trecroce entstammte einer alten Mailänder Familie, die, vom Vater auf den Sohn, im österreichischen Staatsdienste es zu Ansehen gebracht hatte. Auch Amadeos Laufbahn schien wolkenlos und schnurgerade vorgezeichnet, als seine Braut, die Tochter eines vermögenden Industriellen, mit der ihn gleich nach Vollendung des juristischen Studiums die Umsicht seines Vaters zusammengeführt hatte, auf den ebenso abenteuerlichen wie ehrgeizigen Gedanken geriet, er solle sein Freiwilligenjahr, statt in Breitensee, wo die Einjährigen der Kavallerie in Friedenszeiten ausgebildet wurden, lieber bei einer richtigen Armee im Felde abdienen, wo es, wie sie meinte, Neues und Großes zu erleben und überdies einigen Ruhm zu gewinnen gebe.

Man beneidete Amadeo, weil es ihm gelungen war, die Zustimmung seiner vorgesetzten militärischen Behörde zu erhalten, man beglückwünschte seine Braut und seinen Vater. Amadeo zog in den Krieg, wie auf eine Ferienreise. Er wußte von Bulgarien nichts, er verstand nicht die Sprache seiner neuen Kameraden und half sich mit seinem Armeeslawisch fort, das er von den Dienern des Großvaters, eines alten Hofbeamten, erlernt hatte.

Zu ernstlichen Waffentaten fand er zunächst keine Gelegenheit, man zeigte sich mißtrauisch gegen ihn, schien auch gar nicht das Opfer seines Lebens zu verlangen, das er selbst kaum zu bringen gedachte, hielt ihn längere Zeit zur Ausbildung in einer Kaserne von Stara-Zagora fest und teilte ihn dann endlich einem Regimente zu, das gegen Adrianopel zog.

Wie ein Strom, der über seine Ufer getreten ist, ergoß sich die bulgarische Armee in das offene Becken des türkischen Landes. Am Eingang des kleinen Fleckens Mustafa-Pascha stauten sich die Büffelwagen vor einer Brücke, deren Pfeiler in der Mitte geborsten war; man konnte die Eisensplitter der Bomben sehen, die sich in das Mauerwerk gefressen hatten. Diese Brücke war über die Maritza gespannt, unweit des Postamtes, auf dessen Briefkasten in seltsam verschlungenen Schriftzügen das Datum der nächsten Aushebung und daneben in französischer Übertragung – Samedi – vermerkt war.

Nun saß ein bulgarischer Beamter aus Sofia hinter dem Postschalter und reichte Amadeo einen Brief seiner Braut, der allen vorhergegangenen in seiner gesellschaftlichen, flüssigen Art glich. Zum ersten Male aber bemerkte Amadeo, wie leer und gewichtlos er war.

Ein anderer Freiwilliger, der bei derselben Kompagnie diente wie Amadeo, kam des Weges vorüber, ein Russe, der es viel besser verstand, mit der bulgarischen Mannschaft umzugehen. Er schlug Amadeo auf die Schulter und lud ihn zu einem Glase ein, indem er zugleich von schlüpfrigen Abenteuern zu erzählen begann, die er des Nachmittags schon bestanden haben wollte. Als Amadeo ablehnte, verschwand er, die Faust ballend.

Es war völlig Nacht geworden … Amadeo fühlte sich verhaßt und ausgestoßen. Man hatte ihm einen Quartierzettel eingehändigt, aber es war nicht leicht, sich zurechtzufinden. Zwischen den Häusern der angesiedelten Bulgaren, die mit weißer Kreide unbeholfene Kreuze an die Tore gemalt hatten, gab es vereinsamte Türkenhäuser genug, ohne Türen und Fenster, ganz leer und nackt und bloß, wie Menschen, die man ihrer Kleidung beraubt hatte.

Als nun Amadeo, mit seiner Taschenlampe vorausleuchtend, durch diese winkeligen Straßen irrte, geriet er an ein Haus, das ihm schon am Nachmittage aufgefallen war. Das zerschmetterte Eingangstor lag quer über der Straße, aber die vergitterten Fensterluken schienen noch jetzt irgendein Geheimnis zu behüten.

Ein Harem war es, und Amadeo, der unwillkürlich in seiner Wanderung innehielt, glaubte in einiger Erregtheit das Bild zu sehen, wie die Frauen kreischend und schreiend vor den anrückenden bulgarischen Vorhuten geflohen waren, ihren Schleier in aller Hast um das Haupt geschlungen, mit nutzlosem Tand beladen, von den türkischen Wachen zu den eilig bereitgestellten Büffelwagen gedrängt.

Amadeo verspürte gar keine Lust mehr, das ihm zugewiesene Quartier aufzusuchen. Morgen war ja Rasttag, und wenn man des Nachts sein Fehlen bemerkte, so dachte man wohl, er habe sich eben verlaufen und werde beim Morgengrauen schon wiederkommen. Er beschloß also, in der Einsamkeit des verlassenen türkischen Frauenhauses sein Nachtquartier aufzuschlagen.

Befangen trat er ein, tastete sich von einem Holzpfeiler zum andern; der süßliche Duft von Toilettewasser und guter Seife schlug ihm entgegen, von Frauenwäsche und Frauenkleidern. Dies alles verwirrte ihn, der seit langem nur noch den Geruch von Pferdesätteln, von Bauernstiefeln und von braunem, feuchtem Erdreich in der Nase gespürt. Seidene Polster lagen hier und dort verstreut, zerrissen und verbrannt, Zigarettenhülsen und zierliche, türkische Büchlein, aus ihrem Einband gezerrt.

Amadeo entsann sich, daß ihm einmal ein Schulkollege ein verbotenes Buch in die Hand geschmuggelt hatte. »Die Geheimnisse des Harems«, mit einem Titelblatt in Dreifarbendruck, das irgendeine Nacktheit darstellte. Amadeo hatte sich geschämt, es vor den andern zu betrachten. An den Inhalt des Buches erinnerte er sich nicht mehr. Nur diese Nacktheit war ihm vor Augen, plump gemalt und doch innerlich erregend.

Mit einem Male hörte Amadeo ein leises, winselndes Klagen, wie von einem Kinde. Er schrak zusammen, aber es war nur eine schwarze Katze, mit grünen, stechenden Augen, die zischend und fauchend von einem Gesimse sprang. Amadeo breitete seinen Mantel aus, schob das zerschlissene Seidenkissen einer fernen, unbekannten Herrin unter den Kopf, zog noch einmal den verwirrenden, frauenhaften Duft ein, der von ihr zurückgeblieben war, griff dann mit den Armen ins Leere, dachte ganz kurz an seine Braut, wie an etwas Fernes, Unwirkliches, und schlief sogleich ein, denn er war redlich müde.

Mitten in der Nacht erwachte er, ohne sich zuerst Rechenschaft darüber zu geben, was ihn aus dem Schlafe gescheucht habe. Dann hörte er wieder das leise, winselnde Klagen der Katze, das jetzt aus einiger Entfernung zu ihm herüberklang und wie das Seufzen einer menschlichen Stimme anzuhören war.

Zuerst versuchte Amadeo, sich im Schlafe festzuhalten und einen Traum fortzusetzen, der kein deutliches Bild gab, aber weich und lockend auf seinen, Gliedern lag. Doch eindringlich klang das ferne Winseln, als ob ihn jemand riefe, so daß er gar nicht anders konnte, als aufzustehen und dem seltsamen, klagenden Ton nachzuforschen, der ihn nicht zur Ruhe kommen ließ.

Wie sorglich indessen Amadeo mit seiner Taschenlampe ringsumher leuchtete, er vermochte den Störenfried nicht aufzuspüren, und so von der Stimme immer weiter im Kreise geführt, klomm er über Holztreppen, die unter seinem Fuße knackten, und geriet in eine Art Mansarde, wo er, über alten Hausrat strauchelnd, schon mit einem Fluche die törichte Jagd endgültig abbrechen wollte, fest entschlossen, durch keinerlei Stimmen, und wenn sie aus dem Grabe kämen, sich mehr im Schlafe stören zu lassen, als er plötzlich aus einer Ecke der niedrigen Kammer einen unterdrückten Schrei vernahm, der nun sicherlich von keinerlei Getier, noch von einem Geiste, sondern ganz bestimmt von einem menschlichen Wesen herrührte.

Und da Amadeo rechtzeitig bedachte, daß er sich im Feindesland befand und somit wohl auch mit einem Hinterhalt und tückischen Anschlag zu rechnen habe, rief er laut in die verdächtige Ecke: »Hände hoch, oder ich schieße.« Zugleich schleuderte er einen Stuhl, in dessen schadhaftes Strohgeflecht mit grüner Wolle türkische Arabesken gezogen waren, und der ihm die Aussicht versperrte, wild entschlossen zur Seite.

Da lag aber eine Frauensperson auf der Erde, die, an allen Gliedern wie Espenlaub zitternd, lange, türkische Beschwörungsformeln hersprach, die Amadeo nicht verstand, die aber, nach dem verzweifelten Ringen der Hände und dem Ausdrucke des Entsetzens in dem jugendlichen und, wie Amadeo mit einiger Genugtuung feststellte, ungemein lieblichen Antlitze, nichts andres bedeuten konnten als ein Flehen um Gnade.

Amadeo, der sich darauf vorbereitet hatte, mit Anstand sein Leben zu verteidigen, war durch den unerwarteten, wenn auch so erfreulichen Anblick, der sich ihm bot, keineswegs minder betroffen als die junge Frau selbst, die auf den Knien zu ihm hingerutscht war und angstvoll seine bewaffnete Hand niederzog.

Wie entgeistert starrten die beiden einander an, bis Amadeo, das Komische seiner drohenden Haltung einsehend, laut zu lachen begann und den Revolver verwahrte, worauf die junge Türkin, noch mehr erschreckt, wenngleich jetzt in anderer Weise, sich auf dem Lager verkroch, das in jener Ecke der Kammer für sie bereitet war, und schnell eine Decke über die entblößten Schultern und das Antlitz zog.

Amadeo begann ein langes Kreuzverhör, zuerst auf deutsch, dann auf armeeslawisch, das den Gebrauch des Bulgarischen vortäuschen sollte: woher die Fremde komme, oder wieso sie zurückgeblieben sei, als die anderen flohen; wie lange sie sich in dieser Kammer schon verborgen halte und Ähnliches mehr. Aber die junge Türkin zog die Beine unter der Decke zusammen und rührte sich nicht, stellte sich scheintot, wie ein Marienkäferchen vor dem Verfolger.

Amadeo versicherte in wohlgesetzten Worten, daß er ihr gewiß nichts zuleide tun wolle und auch sonst kein böser Mensch sei, und es werde ihm zur Ehre gereichen, wenn die Dame ihm in der Halle unten, die er nun einmal als Quartier bezogen habe, ein wenig Gesellschaft leisten wolle. Die junge Türkin lüftete ein klein wenig die Decke, gerade nur so weit, daß die Augen frei wurden, und blickte Amadeo scheu und verwundert auf die Lippen. Es war deutlich, daß sie ihn nicht verstand.

Amadeo aber ließ sich nicht beirren und versuchte es noch hintereinander mit dem Französischen und Englischen, soweit die Sprachkenntnisse, die er sich in der Schule erworben hatte, für eine derart besondere Unterredung ausreichen wollten. Er stellte sich korrekt vor, erzählte der Unbekannten sogar, um einigermaßen ihr Zutrauen zu gewinnen, daß er verlobt sei, und spann immer weiter den Faden fort, bis die Türkin nun ihrerseits unter der Decke ein glucksendes Lachen hervorstieß, das den guten Amadeo vollständig aus dem Konzept brachte.

Er wurde rot und verlegen, aber gerade durch die sich einstellende Schüchternheit unternehmend gemacht, hob er in einem plötzlichen Entschlusse das ganze Bündelchen von Wäsche und Decken, mit der jungen Frauensperson darin, auf seine Schulter und bettete sie drunten in der Halle behutsam auf die Kissen, die ihm vorher selbst als Lager gedient hatten, ob sich die Fremde auch wehrte und ihn mit scharfen Zähnen empfindlich an der Hand verletzte.

Auch die schwarze Katze mit den grünen Augen, die wieder herbeigekommen war, fauchte ihn böse und gehässig an.

Amadeo mußte das Vergebliche seiner Bemühungen einsehen; unwillig wandte er sich ab und begann über seine eigentümliche Lage nachzudenken. Da er sich für die widerspenstige Fremde aller Kissen und auch seines, eigenen Mantels entäußert hatte, fühlte er grimmig die kalte Nachtluft an den Knochen nagen; er trug also auf einem Feuerplatz, den er schon vorher bemerkt hatte, hölzernes Gerümpel zusammen und gewann seine Ruhe erst wieder, als er die Flamme hell emporprasseln sah. Nun spürte er auch einigen Hunger sich regen, und er holte kostbare Vorräte aus seiner Tasche.

Der Speisengeruch lockte die Katze an, die, voller Falschheit, so als habe sie niemals sich feindlich gegen Amadeo gestellt, ihr schwarzes Fell an seinem Knie rieb. Zornig stieß Amadeo das Tier von sich, doch als er bei der raschen Bewegung sich umwandte, bemerkte er zu seinem nicht geringen Erstaunen, daß auch der Blick der jungen Türkin demütig bittend ihm entgegenkam; sie hatte sich halb aufgerichtet und folgte mit lebhafter Neugierde jeder Bewegung des jungen Mannes.

Eine ungemein rührende, schmerzhafte Begierde war in ihre Züge geschrieben, so daß sich Amadeo von tiefem Mitleid ergriffen fühlte. Die Ärmste hat, weiß Gott wie lange schon, hungern müssen, dachte er, aber er richtete nicht mehr das Wort an sie, sondern wies nur mit einladender Handbewegung auf die lecker ausgebreiteten Speisen. Zögernd, langsam, bei jedem Schritt vorsichtig in den Hüften sich wiegend, mit den leichten Bewegungen einer Tänzerin, kam die Fremde herbei, die Decke in natürlichem Wurfe um den Körper geschlungen. Sie kapitulierte.

Beinahe feierlich, als ob sie Großes vollbringe, ließ sie sich, Amadeo gegenüber, nahe der Flamme, auf dem Polster nieder, das dieser schnell für sie geholt hatte, und begann schweigend zu essen, mit einer Anmut der Bewegungen, die Amadeo, der ebenso ausgehungert nach Frauenschönheit war, wie die Fremde nach Speise und Trank, auf das höchste entzücken mußte.

Sie betrieb dies Alltägliche, wie sie nach den Speisen langte und die Hand zum Munde führte, mit so viel Würde, als handelte es sich hier nicht um die Befriedigung eines gemeinen von der Natur über die Menschen gesetzten Dranges, sondern um die Vollführung fremder und geheimnisvoller Riten, und Amadeo fühlte sich von dem edlen Zuge ihrer Bewegungen so hingerissen, daß er kaum gewahr wurde, wie die schöne Unbekannte in der kürzesten Zeit das Mahl beendet hatte, und zwar so gründlich, daß für ihn selbst nicht das Geringste mehr übrig blieb. Nur der Katze wurden mit nachlässiger Gebärde einige Abfälle zugebilligt. Sie war ins feindliche Lager übergegangen und schnurrte behaglich.

Als die junge Türkin nun solchermaßen den ganzen Vorrat erschöpft sah, griff sie nach einem Päckchen Kaffee, das Amadeo abseits auf ein Tischchen gelegt hatte, stieß die Bohnen, als müsse es so sein, in einem Mörser, den sie aus der dunkeln Tiefe des Hauses herbeischaffte, und begann in kleinen Bechern, die sie ebenfalls mitgebracht, auf türkische Art den Kaffee zu bereiten, all dies wieder unter den anmutigsten Gebärden, indem sie die Arbeit, während die Becher in der glühenden Asche standen, zeitweilig unterbrach, um mit der schwarzen Katze zu spielen, die sie von sich scheuchend und dann wieder mit schmeichelnden Lauten an sich lockend, im rotflackernden Bereiche des Feuers hielt.

Bis zu diesem Augenblicke hatte die Fremde sich nur wenig um den jungen Mann bekümmert, dem sie auf so ungewöhnliche Art im eigenen Hause Bewirtung verdankte, nun aber, in der Freude des Sattseins, wurde sie allmählich zutraulicher, und während sie, in einer Reihe, sechs kleine Becher vor ihn hinstellte, gewann sie, selbst bewirtend, schnell ihr Gleichgewicht zurück, sah ihm geradeaus in die Augen, mit einem Blicke, der schalkhaftes Verstehen für die Sonderbarkeit ihrer Lage mit einer ergreifenden, beinahe hündischen Dankbarkeit verband, und begrüßte ihn feierlich auf türkische Art, die Hand vom Herzen zum Munde und zur Stirne führend.

Gestern erst hatte der russische Freiwillige Amadeo über den tieferen Sinn dieses Grußes belehrt, daß er nämlich symbolisch alles Gefühl, alle Worte, alle Gedanken zum Geschenke darbringe. Und Amadeo überlegte, daß er sich solches von der schönen Unbekannten hätte wohl gefallen lassen mögen.

Für sein Leben gern hätte Amadeo, während er entzückt den köstlichen Mokka schlürfte, mit der jungen Türkin, die ihm lächelnd mit untergeschlagenen Beinen gegenübersaß, doch endlich ein richtiges Gespräch angefangen. Aber es fiel ihm keine andere türkische Vokabel ein als »Salem aleikum«, was er obendrein nur fehlerhaft auszusprechen verstand. Sein Gegenüber schüttelte sich vor Lachen und sagte ihm die beiden Worte, in Verbindung mit anderen, ein paarmal vor, bis er die richtige Betonung traf.

Gleichwohl schien seiner Ungeduld diese Art von Unterweisung allzu beschwerlich. Es gab doch immer Pausen, in denen sich die beiden jungen Leute stumm gegenübersaßen und nur ihre Blicke reden lassen konnten, die bei jeder neuen Bewegung länger und willfähriger aneinander haftenblieben.

So riß Amadeo wieder die Führung des Gespräches an sich, indem er, auf die eigene Brust weisend, seinen Namen aussprach: »Amadeo.«

Die junge Türkin begriff und wiederholte: »Amadeo.« Niemals war ihm sein Name so wohllautend erschienen.

Dann, Höflichkeit mit Höflichkeit vergeltend, stellte sich die Fremde in freundschaftlicher Verneigung selber vor: »Budur,« sagte sie. Diese Vokabel prägte sich Amadeo unschwer ein, und er gedachte sie sein Lebtag nicht mehr zu vergessen.

Nun holte Budur aus ihrem Gürtel ein Päckchen Zigaretten hervor, von denen sie Amadeo anbot. Und da sie ihm hierbei ganz nahe kam, berührten seine Lippen, wie von ungefähr, ihre Stirne, seine Gedanken so zum erstenmal deutlich vermittelnd, zuckten aber gleich wieder erschreckt zurück, weil Amadeo fürchten mußte, nun am Ende doch alles verloren zu haben, Budur aber hielt die Augen gesenkt, denn sie hatte eben die Wunde erblickt, die ihre scharfen Zähne in die Hand des Gastes geschlagen.

Vielleicht empfand sie Reue ob ihrer Heftigkeit. So wuchs dem jungen Abenteurer der Mut, und er küßte, ohne viel Überlegen, Budur auf den Mund, was diese mit einem leisen, gurrenden Aufschrei geschehen ließ. Sie knickte zusammen, lag vor ihm, das Haupt zur Erde geneigt, als hätte sie Allah zum Zeugen anrufen wollen: Es ist nicht meine Schuld, Herr! Ich bin seine Beute, seine Dienerin.

Mit weißem Leinenzeug verband sie die Wunde, und hierbei geschah es noch einige Male, daß seine Lippen die ihren fanden. Amadeo gedachte des leeren Knabendaseins, das hinter ihm lag, und des ebenso flachen Lebens, das ihn noch erwartete. Schon war es ihm, als müßte er Budur verlieren, und er schlang beide Arme fest um sie.

Die schwarze Katze war eingeschlafen und pfiff leise im Traume. Das Herdfeuer flackerte noch einmal auf und verlosch; es wurde nicht mehr angezündet.

Aber es gab doch ein Erwachen. Amadeo war es, als tauche er aus einem tiefen Brunnen empor, da ihn Budur angstvoll am Arme rüttelte und ihm durch allerhand erschreckte Zeichen bedeutete, mit ihr nach der Bodenkammer zu fliehen, wo sie ihm zuerst begegnet war.

Vor dem Hause vernahm man erregte Stimmen, türkische und bulgarische, wie im Streit. Die Tür zu der Halle, die Amadeo des Nachts geschlossen zu haben meinte, stand jetzt weit offen, so daß die Vermutung nahe war, es sei schon vorher jemand eingetreten.

Amadeo sprang also schnell vom Lager, hatte aber noch keine Zeit gefunden, seine Kleidung zu ordnen, als ein erregter Haufen ins Zimmer drang, voran vier oder fünf türkische Greise – hagere Männer, mit langen, weißen Bärten –, die wohl in Mustafa-Pascha zurückgeblieben waren und nun auf eine bulgarische Wachabteilung heftig einsprachen, sich auch nicht durch Kolbenstöße, die ihnen zuteil wurden, beirren ließen, sondern drohend ihre dürren, sehnigen Arme gegen Amadeo reckten.

Vergeblich blickte sich dieser nach Budur um; sie war in dem Augenblick, als man in die Halle eindrang, verschwunden. Amadeo fühlte sich durch dieses Entgleiten einer lieblichen Traumerscheinung noch schmerzlicher betroffen, als durch die drohende Haltung seiner Widersacher.

Es wurde ihm schwer, daran zu glauben, daß Budur ihn verraten habe. Lieber wollte er noch annehmen, daß sich dies alles nicht in Wirklichkeit zutrage, sondern daß er noch immer von jenem Traume festgehalten werde, der, nach höchstem Entzücken, ihn mit bösem Alpdruck peinigte.

Aber da schleppte die schwarze Katze den Gürtel Budurs herbei, den einer der Greise unter lautem Geheul als sichtbaren Schuldbeweis an sich nahm. Der Führer des Wachtpostens richtete an Amadeo die Aufforderung, ihm zu folgen, und umringt von einer drohenden Menge mußte dieser, schamrot und taumelnd, sich durch die mählich erwachenden Straßen von Mustafa-Pascha hinführen lassen.

Türkische Erdarbeiter am Wegesrande, Wagenlenker und Träger, rissen sich von ihren Aufsehern los, schlossen sich den Greisen an, die immer höher zu wachsen schienen, mit ihren wilden, schlenkernden Bewegungen, so daß Amadeo, angesichts so vieler, unerbittlicher Feindseligkeit, froh war, an der ersten Straßenbiegung den russischen Freiwilligen zu erblicken, der, seine Tellermütze schief auf dem Kopfe, die Hände in den Hosentaschen, ein Zigarette im Mundwinkel, den Zug an sich herankommen ließ.

Amadeo sprach den Kameraden um Hilfe an, aber der Russe schien ihn gar nicht zu bemerken, blinzte vielmehr, wie im Einverständnisse, den türkischen Greisen zu, die ihn scheu grüßten. Jetzt glaubte sich auch Amadeo zu erinnern, er habe beim Erwachen die Stimme des Freiwilligen vor den andern Stimmen vernommen. Sollte der Russe ihm gestern nachgeschlichen sein, sollte er den Anzeiger gemacht haben? Und wo blieb Budur?

Man ließ Amadeo nicht viel Zeit zur Überlegung; er wurde vor seinen Vorgesetzten, einen breitschultrigen, bäurischen Offizier, geführt, der ihn barsch anließ, ob er nicht wisse, daß strenge Manneszucht im Feindeslande mehr noch geboten sei als im eigenen, und wie er sich habe unterfangen können, des Nachts als Räuber in ein türkisches Frauenhaus einzudringen und einem armen, wehrlosen Geschöpfe Gewalt anzutun. Die türkische Bevölkerung verlange Genugtuung, und der Sieger sei es schuldig, dem Besiegten Genugtuung für solchen Schimpf zu gewähren: Amadeo habe sich vor dem Standgericht zu verantworten.

Dies traf den armen Jungen wie ein Keulenschlag. Er gedachte in diesem Augenblicke seines Vaters, der ihn ehemals während eines Scharlachfiebers so getreulich gepflegt, und der ihn nun in so widrige Verhältnisse hatte geraten lassen. Er gedachte seiner Mutter, die er nie gekannt, und deren Bild im Arbeitszimmer seines Vaters hing, eine sanfte, blonde Frau, mit hellblauen Augen; er gedachte seiner Braut, deren Eitelkeit vielleicht seinen Untergang bedeutete; aber schnell drängte sich das Bild Budurs vor, beherrschte wieder alle seine Sinne, und er fühlte sich doppelt einsam und verlassen, weil sie nicht bei ihm war.

Dann wieder kam ihm zum Bewußtsein, daß er etwas unternehmen müsse, um sich zu retten. Er verlangte, mit seiner Gesandtschaft in Verbindung treten zu dürfen, aber man gab ihm zu verstehen, daß er nun einmal der bulgarischen Armee angehöre und deren Gerichtsbarkeit unterworfen sei.

Amadeo fühlte wieder den Haß, der ihm nun, von jeder Maske befreit, schroff entgegentrat, und er gab sich verloren. Seit man ihm die Hand auf die Schulter gelegt hatte, stand er in sich zusammengesunken da, als wäre er schon verurteilt.

Die Gerichtsverhandlung fand unter freiem Himmel statt, damit die türkische Einwohnerschaft gewiß den rechtlichen Sinn des Eroberers erkenne. Eine kurze Anklage wurde vorgetragen; dann verhörte man Amadeo, und er empfand unter dieser gesteigerten Folter nur das Peinliche, sein nächtliches Erlebnis vor so viel plumpen Zeugen ins Schamlose gerückt zu sehen, und während er sein Bestes vor rohem Zugriff zu verteidigen suchte, geriet er in die stammelnde Befangenheit eines ertappten Diebes.

Der Gürtel wurde vorgezeigt, der vor wenigen Stunden noch, kostbar, Budurs Lenden umschmiegt hatte. Amadeo hörte das heimliche Klirren der metallenen Schaumünzen, das ihre erste Liebkosung begleitet hatte. Nun lag dieser Gürtel zerknüllt und armselig vor den Richtern. Wie häßlich und gemein sie alles machten.

Der russische Freiwillige wurde als Zeuge aufgerufen. Amadeo verstand nicht seine Worte, er sah nur einen roten, wie entzündeten Zeigefinger, der sich böse ausstreckte und auf seine Brust wies.

Amadeo nahm gar keinen Anteil mehr an der gleichförmig sich hinschleppenden Folge von Frage und Antwort, die das Wichtigste doch im Dunkel ließen. Seine aufgescheuchten Gedanken kehrten wieder zu Budur zurück. Heiß und schmerzlich flüsterte er ihren Namen.

Und mit einem Male war es ihm, als schlüge das laute Echo dieses innerlichen Rufens deutlich vernehmbar an sein Ohr. Er riß die Augen auf und sah zuerst nichts als seine Peiniger, die türkischen Greise, die ihre Aussagen beendet hatten und sich unter tiefen Verneigungen entfernten. Einen Augenblick lang war Stille eingetreten. Nun aber schien man irgendein besonderes Ereignis zu erwarten, aller Augen waren in lüsterner Gespanntheit derselben Richtung zugewendet. Und wieder tönte es hell und nahe: Budur!

Da stand sie mit einem Male vor Amadeo. Man hatte sie in ihrer Bodenkammer aufgegriffen; eine Kapuze verhüllte ihr Haupt, dunkle Schleier lagen über ihrem Antlitz. Nichts verriet die innere Bewegung. Als ein köstliches Geheimnis, wie sie Amadeo des Nachts erschienen war, so stand sie nun in ihrer Vermummung vor ihm, der mit aller Sehnsucht des Liebenden, mit aller Qual des Ertrinkenden, durch die schweren Schatten der Schleier hindurch ihren Blick einzufangen sich mühte.

Der Leiter des Standgerichtes begann sein Verhör; ein Dolmetsch übersetzte die Fragen ins Türkische. Budur senkte das Haupt und Amadeo mußte erkennen, wie hilflos sie war, von deren bloßen Nähe er irgendwie heimlich seine Rettung erwartet hatte. Fesseln umspannten ihre zarten Gelenke, während doch Amadeo frei die Glieder regen konnte. Er hatte auch keinen Abbruch seiner Ehre zu befürchten, wie hart immer das Urteil war, das ihn traf. Sie aber litt schon jetzt bittere Schmach, da sie in den Bereich all der Männer gezerrt wurde und grobe Männerfäuste sie vors Gericht stießen.

Der Leiter des Standgerichtes wiederholte seine Frage in barschem Tone. Nun aber, da Budur ihr verhülltes Antlitz hob und ihr suchender Blick Amadeo zwischen den Wachen und in Gefahr erkannte, schien sie die eigene schlimme Lage vollkommen zu vergessen und alle Gefahr, die sie selbst betraf, gering zu achten.

Statt die an sie gerichtete Frage zu beantworten, trat sie mit ihrem geräuschlosen Schritt, der alles leicht machte, dem Schritt einer Tänzerin, zu dem geliebten Manne hin und hob unter dem schweren Mantel die gefesselten Hände, so, als habe sie nur den einen Gedanken, dem Leidenden nahe zu sein und ihn zu trösten.

Ein Schrei des Entsetzens erfaßte die Menge, ob des Ungeheuerlichen, das sich vor ihren Augen vollzog. So war nicht Amadeo der Schuldige, so hatte sich ihm Budur freiwillig hingegeben. Das Gericht mußte aufgehoben werden, der ganze Zorn der Menge wandte sich Budur zu, die aufrecht inmitten des Haufens stand und allein ihre Tat nicht zu begreifen schien.

Die Greise rissen sie von Amadeo fort, Knüppel schlugen auf die Wehrlose nieder. Als ein armseliges Bündel wurde sie hinweggeschleift; man hörte ihr klagendes Kinderweinen. Noch fühlte Amadeo auf seinen Armen den sanften Druck ihres jungen Leibes, da er sie des Nachts in die Halle hinuntergetragen. Noch brannte das Wundmal an seiner Hand, der süße Schmerz, Glück einer kurzen Nacht. Das Lärmen und Schreien verhallte in der Ferne.

Amadeo stand allein auf der Landstraße. Man hatte ihm nahegelegt, sogleich seinen Abschied zu nehmen. Sehr müde schritt er durch die Zeile des kleinen türkischen Fleckens, sah die geborstenen Mauern und die zerfallenen Treppen, die Haufen der bewaffneten Bauern, ihnen voraus die Pfeifer und Trommler und die vielen, unendlich vielen Wagen mit Zelten und Kochgeräten, Arzneimitteln und Proviant, Geschütze und Munition, die Herden der Rinder und Schafe und die Wagen auf den Wagen, die Automobile und Kutschen und Karren. Was gestern war, schien mit einem Schlage ausgelöscht, als habe es hier niemals etwas andres gegeben, als Krieg und auf der ganzen Erde nichts als Krieg.

So trat Amadeo von Trecroce, den seine Wiener Freunde Dixel nannten, die Heimreise an. Es war ein Ahnen in ihm, daß der Weg all dieses furchtbaren Gerätes, der Weg des Unheils, doch nun für immer sein Weg sei, und daß an ihm, wie an der sorglosen Braut, die ihn daheim erwartete, Gericht und Sühne vollzogen werden würde: für eine Schuld, die er noch nicht begriff, aber die ihm die Kehle zusammenschnürte. Kein Ausweg mehr, überall Verstrickung, Leid und Qual, vielleicht der Tod. Die ganze Welt war erfüllt von dem klagenden Kinderweinen Budurs.


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