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Die Siebenschläfer

Im fünften Jahre des Weltkrieges fanden sich sieben Freunde bei einem österreichischen Landsturmbataillon in Albanien. Diese sieben Freunde, verschiedenen Lebensaltern angehörend, verschiedenen Studien und Berufen entrissen, waren nicht so sehr durch die gleichen Schicksale, ja nicht einmal durch die gleiche leibliche Not miteinander so enge verbunden worden, als durch eine besondere Art der Qual, die ihnen gemeinsam auferlegt schien.

Sie alle nämlich hatten vor dem Kriege, in einer Zeit, die jetzt so weit hinter ihnen lag, wie hinter einem Erblindeten die Welt der Farben, gerne ein gutes Buch gelesen oder eine Bildersammlung besucht, hatten sich an einem Stückchen alten Stoffes erfreut oder waren in Stunden der Sammlung am Klavier gesessen, kurzum hatten bis zu jenem verhängnisvollen Tage, da man sie ihrer Freiheit beraubte, das Leben geistiger Menschen geführt, denen nach der Mühsal eines lärmenden Alltags stilles Betrachten Bedürfnis ist.

Die sieben Freunde also schlossen eine Gemeinschaft, um sich in einer Umwelt geistiger Leere über Dinge zu unterreden, die nicht mit der Hand zu greifen waren, sondern jener zauberhaften Versunkenheit und Ferne angehörten, von der hier niemand etwas auszusagen wußte.

Sie verstanden es – der Jüngste noch Freiwilliger, der Älteste Oberleutnant – so einzurichten, daß sie immer zusammen Quartier bekamen, und sie meldeten sich auch, so wenig sie innerlich mit dem soldatischen Handwerk zu schaffen hatten, des öfteren gemeinschaftlich zu schwierigen Unternehmungen, um nur des müßigen Schwatzens in der Offiziersmesse enthoben zu sein, der zotigen Witze und des rohen Streites beim Kartenspiel.

So kam es auch, daß sie sich eben jetzt gemeinsam in einer Vorpostenstellung eingeriegelt fanden, die sie erst verlassen durften, wenn Ablösung eintraf. Ihre Lage gestaltete sich von Tag zu Tag gefahrvoller, obzwar hier keineswegs wagemutige Kühnheit, sondern viel eher untätiges Verharren angezeigt schien. Die Stellung war von zwei Seiten her flankiert, so daß es jeden Augenblick im Belieben des Feindes stand, sie aufzuheben. Aber er begnügte sich vorläufig damit, allen Zuschub durch wohlgezieltes Sperrfeuer zu verhindern und die sichere Beute wie in einer Falle festzuhalten.

Auch das Feldtelephon war seit Tagen gestört, wie dies in jener Wüstenei wohl vorzukommen pflegte, so daß sich in den Freunden allmählich der schreckliche Argwohn festlegte, sie seien von den Ihren wie vom Feinde gleichermaßen vergessen worden. Dennoch hielten sie in dem dumpfen Sklavengefühl, das sich in diesem schrecklichen Kriege mächtiger erwies als der Drang zu leben, an der nun einmal gestellten, wenn auch sinnlosen Aufgabe fest und dachten nicht an Übergabe.

Ringsum, soweit der Blick reichte, dehnte sich eine trostlose Sumpfebene hin, über der auch jetzt noch im Herbste qualmender Sonnenglast lag. In einiger Entfernung gab es ein zerfallenes Mohammedanerdorf, wo man des Nachts, nicht ohne Gefahr, für Zucker oder Salz übelriechendes Hammelfleisch und einen Schlauch mit Trinkwasser eintauschen konnte. Unter der Begleitmannschaft wütete das Fieber. Oft geschah es, daß ein Bote auf dem kurzen Wege zum Dorfe hinfiel und nicht mehr die Kraft fand, sich zu erheben. Am nächsten Morgen dörrte die Sonne seine Knochen.

Die sieben Freunde hatten sich in einer Erdhöhle eingerichtet, wo sie den größten Teil des Tages, zumeist schlafend, verbrachten. Erst nach Einbruch der Dunkelheit wagten sie es, den großen Stein fortzurollen, der ihre Höhle vor der tückischen Sonnenglut schützte, und durch den gespenstig bewegten Schleier des Moskitonetzes erfrischende Kühle einströmen zu lassen.

Einer der älteren unter den sieben Freunden war es – er hatte sich in seiner Jugend geistlichen Studien gewidmet und schon die Tonsur getragen –, der zuerst auf die seltsame Ähnlichkeit ihres Schicksales mit jenem der sieben Märtyrer von Ephesus hinwies, die in der Legende die »Siebenschläfer« genannt werden.

»Sie waren Brüder,« so erzählte er, »Jäger, Hirten und biedere Handwerker, und sie lebten um die Mitte des dritten Jahrhunderts, zur Zeit des römischen Kaisers Decius, des ersten, der aus den Donauländern stammte. Er war nämlich zu Budalia in Niederpannonien geboren, wankelmütigen Sinnes und den Christen nicht hold.

Als nun Kaiser Decius auf einer Reise nach der Provinz Asia in Ephesus Aufenthalt nahm und von den sieben Brüdern berichten hörte, die sich hartnäckig weigerten, nach altem Brauche der Artemis ihr Opfer darzubringen, sondern sich zum Nazarenertum bekannten, entsandte er seine Häscher, um die Abtrünnigen ans Kreuz schlagen zu lassen, wie dem Gotte widerfahren war, dem sie mit so viel Festigkeit anhingen.

Die sieben Brüder aber verbargen sich in einer Höhle des Berges Ochlon, zu der niemand Zutritt erlangen konnte. Denn die schmale Öffnung der Höhle gab immer nur für einen Mann Raum, wie viele Verfolger sich auch ringsum sammeln mochten; und drinnen hausten ihrer sieben.

Als solches die Häscher erkannten, ließen sie einen mächtigen Felsblock vor den Eingang der Höhle niederstürzen, so schwer, daß ihn auch hundert Gewappnete nicht von der Stelle zu rücken imstande gewesen wären, und sie meldeten dies dem Kaiser Decius, der frohlockte, weil er die sieben nazarenischen Brüder dem Tode verfallen sah, ihrem Gotte zum Hohn. Und er ließ den ganzen Vorfall mitsamt dem kaiserlichen Urteil auf eine Bleitafel niederschreiben, die man durch einen Spalt in die Höhle warf.

Die sieben Brüder aber hatten all des Furchtbaren, das sich um sie ereignete, nicht acht; sie bemerkten es kaum, als der Felsblock die Stätte ihrer letzten Zuflucht verschloß und sie nicht anders als in ihr eigenes Grab gemauert waren. Denn sie saßen, durch freundliche Gespräche vereint, in der Höhle.

Es war unter ihnen Abrede getroffen worden, daß jeder, wie ihn die Reihe traf, eine wunderbare Begebenheit erzählen sollte, zum Preise des Göttlichen, das in seinem Herzen sich regte. Und während sie so, vom Irdischen fort, ihren Geist auf Schönes und Hohes gelenkt hielten, befiel sie der Schlaf, so daß nun jeder im Traume die bunten Bilder, die er wachend vorgezeichnet, sich weiter auf das lieblichste zu neuer Gestaltung verbinden sah, und die Zeit kein Teil an den Schlafenden gewann.

Zweihundert Jahre vergingen den sieben Brüdern in solchen Träumen wie eine Nacht, bis ein Erdrutsch unversehens den Felsblock vom Eingang der Höhle riß. Da erwachten die sieben Schläfer und traten in die Welt hinaus und erstaunten gar sehr, weil alles sich derart gewendet hatte und Gutes mit Bösem vertauscht war, Heiliges mit Unheiligem, und alles schier auf den Kopf gestellt schien, wie der Felsblock.

Der christliche Kaiser Theodosius herrschte jetzt im Lande. Was früher als Tugend gegolten hatte, wurde nun als Laster gestraft, und wonach man früher Häscher ausgesandt, das pries man nun auf den Altären.

Da kehrten die sieben Brüder in ihre Höhle zurück und legten sich hin, um zu sterben. Denn sie waren an ihrem eigenen Glauben irre geworden und vermochten das Wunder nicht zu ertragen, das sie selbst vollbracht hatten.«

Aufmerksam hatten die Freunde der Erzählung gelauscht; denn die Legende, von der sie wohl früher gehört hatten, war ihnen nicht mehr mit solcher Deutlichkeit gegenwärtig gewesen. Nun aber gefiel sie ihnen dermaßen, daß sie vereinbarten, ihre kleine Gemeinschaft fürderhin nach den sieben Brüdern zu benennen, und sie bedachten, daß es gewiß nicht als Herabwürdigung des Heiligen angesehen werden könnte, wenn sie sich selbst in ihrer Not und Einsamkeit den »Siebenschläfern« verglichen.

Den Ältesten also, einen behutsamen Mann, der ein Tagebuch führte und viele Briefe an Frau und Kinder schrieb, ob es auch gar keine Gelegenheit gab, sie zu befördern, hießen sie fürderhin Maximianus.

Ihm zunächst im Alter stand Johannes, dem seine Freunde die Erzählung von den Siebenschläfern verdankten. Um einer Frau willen hatte er dereinst – so wußte man –, nachdem er die niederen Weihen empfangen, sein Priestergelübde gebrochen. Ein abenteuerhaftes Leben stand hinter ihm.

Ganz verschieden in ihrer Art waren Martinianus und Konstantinus, deren erster sich in allen Lebenslagen mit erstaunlicher Behendigkeit zurechtzufinden verstand, mehr klug als aufrecht, mehr erfolgreich als treu, während Konstantinus von der Natur nicht eben mit glücklichen Gaben ausgestattet war. Dreimal schon war er schwer verwundet worden, hatte indessen immer wieder getreulich zu seiner Kompagnie zurückgefunden. »Jede Kugel trifft ihn,« hieß es.

Völlig entgegengesetzt in ihrer Wesensart schienen auch Malchus und Serapion. Malchus war der Sohn wohlhabender Eltern, aber die Freunde behaupteten, er trage die Uniform wie einen Schlafrock. Knapp vor Ausbruch des Krieges hatte er sich an einer deutschen Universität für ein philosophisches Lehrfach habilitiert. Wie dieser junge, träumerisch veranlagte Gelehrte auf eine Vorpostenstellung nach Albanien hatte verschlagen werden können, schien eine der Sonderbarkeiten des Weltkrieges.

Serapion hingegen, der armer Leute Kind war, trug sich vornehm, beinahe geckenhaft. Er verstand es, eine zerschlissene Pferdedecke in so wohlgeordnetem Wurfe um die Schultern zu legen, daß es ein Ansehen hatte, und er konnte mit seinen blitzenden Augen und seiner scharfgeschnittenen Raubvogelnase wohl für den späten Abkömmling eines alten Geschlechtes gelten.

So blieb noch Dyonisius, der jüngste unter den Freunden, den das Schicksal von der stillen Schulbank fort in die Wetter des Krieges gerissen hatte. Bis dahin war er es gewohnt gewesen, um neun Uhr sein Nachtgebet zu verrichten. Er hatte etwas von einem Pagen; um ihn zu necken, fragte man ihn, wo denn seine Atlashöschen geblieben seien.

Dies also war die kleine Gemeinschaft, die gelassen in einer albanischen Erdhöhle ihr Schicksal erwartete, und die des Abends, wenn der Stein vom Eingange ihrer ungastlichen Behausung gewälzt war, kein anderes trostreiches Licht zu ihren Häupten blinken sah als den flimmernden Sternenglanz des südlichen Himmels. Es fehlte an Brennmitteln, und es schien auch wegen der Nähe des Feindes und wegen der vielen Stechmücken nicht geraten, ohne Not ein Feuer zu entfachen.

So beschlossen denn die sieben Freunde, das Beispiel der ephesischen Jünglinge nachzuahmen und ihr Beisammensein in der erfrischenden Kühle der Nacht dadurch auch zur geistigen Labsal werden zu lassen, daß einer um den andern, wie ihn die Reihe traf, eine wunderbare Begebenheit aus seinem Leben erzähle. Ein Streit hub nur darüber an, wie das Erlebnis beschaffen sein sollte, das der Mitteilung in so ausgezeichnetem Kreise wertgehalten würde und welcher Art des Vortrages sich der Erzähler zu befleißen habe.

»Erzählen wir so,« entschied Martinianus, »wie's für uns taugt: gleichsam in Marschbereitschaft. Keiner von uns weiß, wieviel Zeit ihm zugemessen ist. Und ich glaube, diese aufgedrungene Eile kann für unsere Erzählungen nur von Vorteil sein.«

»Wenn ihr so geradeaus lossteuert, sehe ich schon, worauf es hinauswill,« rief Maximianus spottend, »ihr brennt darauf, von der Liebe erzählen zu hören und selbst zu erzählen. Euch jungen Leuten erscheint sie doch immer wieder als die ungewöhnlichste Begebenheit, obzwar sie – ihr werdet mir zustimmen – sich am öftesten ereignet.«

Hier erbat sich Konstantinus das Wort: »Warum sollten uns merkwürdige Abenteuer der Liebe nicht willkommen sein?« sprach er und errötete. »Ich gebe es ohne Scheu zu, daß mir solche Erzählungen, gerade in der entsetzlich frauenlosen Welt, in die wir gesperrt sind, den meisten Reiz bieten. Man kann uns das Leben von Mönchen aufzwingen, aber doch nicht, zum Teufel, die Gesinnung von Mönchen. Die Liebe ist immerhin die einzige menschliche Erbauung, die man nicht auszurotten vermag, wenn auch alles andere, was schön war auf Erden, in Dampf aufgeht.«

Der Träumer, den sie Malchus nannten, hatte bisher schweigend vor sich hingeblickt. »Wie ist es mit dir?« wendeten sich nun die Freunde an ihn; »liegt nicht auch dir irgendein Vorschlag am Herzen?«

Der also Angeredete blickte verwirrt um sich, als gelte die Frage gar nicht ihm, und besann sich erst allmählich zu einem Lächeln: »Erzählt, was euch nur immer behagt, ihr lieben Freunde, mir gilt es gleich. Doch achtet darauf, wie ihr es erzählet.«

»Da hast du wohl recht,« sprach Johannes. »Wie einer erzählt und wie er zuhört, darin offenbart sich mehr Lebensart, als mancher Geck sich träumen läßt, der mit Äußerlichkeiten prahlt.«

Serapion unterbrach ihn: »Form ist etwas Innerliches. Darüber sind wir uns endlich klar geworden, sollte man meinen. Jeder von uns hat wohl die Empfindung, daß er nicht eben zur rechten Stunde und in der rechten Zeit geboren ist, unter dem Sterne, den er sich selbst gewählt hätte. Zeigen wir uns in einer Verwandlung. Vielleicht waren wir immer Siebenschläfer, ohne es zu ahnen, und verträumten die Jahrhunderte. Erzählen wir von den alten Dingen, die in uns sind, und von versunkenen Zeiten, die mit uns auferstehen.«

»Großes haben wir uns vorgesetzt,« meinte lächelnd Martinianus; »erreichten wir es nur zum geringen Teile, so müßte uns viel geglückt sein; wie dürfen wir uns solche Kraft zutrauen?«

Da sprach Malchus, der Träumer: »Niemand, ihr lieben Freunde, ist Richter über unser geringes Tun als wir selbst. Aber vergesset nicht, daß auch jene Jünglinge von Ephesus einsam waren, und ihr Wort galt dem Preise des Höchsten.«

Der Knabe Dyonisius, den sie einen Pagen nannten, schüttelte den Kopf: »Ich mag mit euren Erzählungen nichts zu schaffen haben,« sagte er verdrossen, »und je spannender sie sein mögen und je bunter gestaltet, um so verhaßter sind sie mir. Nennt mich töricht, aber mir erscheint alles, was sich ereignet und immer wieder ereignet, solange die Welt besteht, als ein vergnügliches Feuerwerk, dem man nur in seiner Reputation schadet, wenn man es als etwas Dauerndes ausschreit, Feuerwerk des lieben Gottes, meinetwegen; doch was soll ich mit Sternschnuppen beginnen, die andern in den Schoß fielen.« Und er schlüpfte durch das Moskitonetz, das sich hinter ihm leise im Hauche der Nacht bewegte.

Die Freunde aber losten, wer mit dem Erzählen beginnen solle, und es wurde verabredet, daß jedem ein Tag zur Vorbereitung gegönnt sei. Die Wahl fiel auf Martinianus, der am nächsten Abend, als sich die Freunde, mit Ausnahme des jungen Dyonisius, am Eingange der Höhle versammelt hatten, also zu sprechen begann:

»Ihr lieben Freunde, ich will es versuchen, meine Geschichte so mitzuteilen, als hätte ich in Rom zur Zeit des Niederganges der Patriziergeschlechter gelebt, und ihr müßt es mir zugute halten, wenn ich für die Dauer meiner Erzählung als ein verstockter und mürrischer Greis erscheine, dem alle Neuerungen in der Seele zuwider sind.«

Und da sich die Freunde von dieser ersten Art der Verwandlung, die Martinianus auf sich nahm, willkommene Überraschung versprachen, rückte sich dieser zurecht und begann:


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