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Das Feuerwerk

Vor dem neuen Hause der Herzogin de l'Infantado in der Rue Saint Florentin drängten sich die Gaffer; auf der Place Louis XV wurde ein Feuerwerk abgebrannt, das man aus einiger Entfernung besser betrachten konnte, als wenn man ganz nahe stand, und überdies bekam man hier die geputzten Damen und Herren zu schauen, die von der Herzogin bei so bedeutendem Anlasse zu einem Maskenball gebeten waren und nun von Zeit zu Zeit an die hohen Fenster des Empfangssalons traten, deren blitzende Scheiben im Widerschein der Raketen und Feuersonnen hell aufzuleuchten schienen, während ganz dunkel unten die Straße lag.

Ein Murren hob sich aus der schwarzen, zusammengepreßten Masse, als der Schweizer und ein Dutzend goldbetreßter Lakaien mit Stockschlägen und grob ausfahrenden Ellenbogen für den Wagen der kleinen Marquise de Luze Platz schafften, die vorzeitig das so glänzende Fest zu verlassen sich entschlossen hatte und gerade mit leichten tänzelnden Schritten die große Freitreppe des herzoglichen Hauses herabkam.

Gelangweilt führte sie die winzige Hand zum winzigen Mund, um ein Gähnen zu verbergen, und nur mit einem flüchtigen, zerstreuten Blick aus den schmalen, geschlitzten Augen beobachtete sie in dem lichten Wandspiegel ihr eigen Bildnis, das wie ein liebenswürdiger, bunter Schatten zur Seite der kleinen Marquise über die marmornen Stufen niederglitt. Sie war als Zofe verkleidet; in das rosenrote gebauschte Röckchen hatte sich noch keine häßliche Falte geknittert, das zierliche Häubchen saß adrett auf dem gepuderten Haar, und das Rot auf den Wangen, für das sie von einem amourösen Vetter aus Poitiers kürzlich ein besonderes Rezept erhalten, schien richtig verteilt.

Aber die Einsicht ihrer Vollkommenheit bereitete der Marquise de Luze in diesem Augenblick Ärger statt Freude. Der ganze Abend war ihr verdorben gewesen; sie hatte dies sogleich beim Ankleiden geahnt, weil ein Planchette an ihrem Mieder gerade in dem Augenblicke sprang, als sie es schließen wollte.

Statt von Angelegenheiten liebenswürdigen Interesses hatte man nur von der Politik gesprochen, der junge Viscount Bolingbroke, der sonst die Marquise unausgesetzt mit seinen langweiligen Werbungen belästigte, schien jetzt ihre Gegenwart kaum zu bemerken, und sogar der wohlerzogene Graf Marsan zeigte sich so zerstreut, daß er eine Blume, die den ungeduldigen Fingern der Marquise entglitt, achtlos auf dem Boden liegen ließ.

Freilich gab es Grund genug zur Erregung. Erst vorige Woche hatte ein Haufen Bettelvolk dem König bei einer Ausfahrt in Versailles mit ungebührlichen Worten den Weg verstellt und am selben Nachmittage, so hieß es, war in Paris ein Nest von Verschwörern ausgehoben worden, die gegen das geheiligte Leben Seiner Majestät Übles im Schilde führten.

»Wozu so viel Lärm,« dachte die Marquise de Luze, »man wird sie alle köpfen lassen, nichts ist einfacher.« Die Marquise mochte den Pöbel nicht leiden; sie wußte: das sind finstere Menschen mit schlechten Manieren, denen man Geld hinwerfen muß, um sie nur los zu werden; und ärgerlich maß ihr Blick die vielen Gaffer auf der Straße, die von ihrer Dienerschaft mühsam zurückgehalten wurden.

Mit sechs Schimmeln war die Karosse der Marquise de Luze bespannt, voran schwang ein rosenroter Läufer die rußende Fackel, auf den Satteltieren saßen gestiefelt die Postillone und hielten die Peitschen bereit, zwei Lakaien faßten nach den Gurten, um sich rückwärts auf ihre Plätze zu schwingen, ein Jäger öffnete den gebauchten Wagenschlag, auf dessen goldenen Grund fleischfarben der Gott Amor gemalt war, wie er den Bogen spannt, und darüber zwei schnäbelnde Tauben.

In dem Augenblick aber, als die Marquise ihren Fuß auf das Trittbrett stellte, hörte man von der Place Louis XV her gellende Schreie, und zugleich stieg eine mächtige dunkelrote Feuersäule drohend zum Himmel empor. Das Holzgerüst, das man für die Zuschauer aufgestellt hatte, war von verirrten Funken in Brand geraten, der sich schnell verbreitete, weil nun alle Stücke des Feuerwerks auf einmal sich entzündeten, bengalische Lichter, surrende Pastillen, zischende Kaskaden, krachende Petarden und mitten drin der flammende Namenszug des Königs.

Eine wilde Panik erfaßte die Zuschauer, sie stürmten in die Rue Saint Florentin, wo sich angstvoll genug die Menge staute, wie ein unerschöpflicher Sprudel ergoß sich immer neues Volk in den engen Trichter der Straße, riß alles mit sich fort. Schnell war die Marquise von ihrer Karosse und von ihren Leuten abgedrängt worden, ein widerlicher, stickiger Atem fuhr ihr entgegen, sie fühlte sich von schmutzigen Armen berührt, in einen wirren Knäuel gezogen, der sie fest umschloß, aus dem es kein Entrinnen gab.

Sie war ein Pünktchen in einem entsetzlich zusammengepreßten Ball, dessen Schicksal sie teilte; manchmal schien es ihr, als stieße ihr Fuß, der kaum den Boden berührte, an menschliche Körper, aber weiter und immer weiter wurde sie geschoben, verzweifeltes Schluchzen traf ihr Ohr, lautes Stöhnen, dumpfes Röcheln, und sie empfand dabei zu ihrer eignen Verwunderung eigentlich gar keine Angst, nur namenlosen Ekel.

Endlich löste sich die Verstrickung, in der sie gefangen war, ringsum breitete sich die Nacht, die noch undurchdringlicher schien nach der Helligkeit vorher. Kreuz und quer lief die arme Frau wie von Furien gepeitscht, bis in der Ferne kleine Lichtchen schimmerten, denen sie, ein wenig beruhigt, jetzt entgegenschritt. Es war der Weg nach Versailles, den man kürzlich erst mit Straßenlaternen versehen hatte. Die kleine Marquise de Luze wußte dies, denn sie selbst war neulich bei einer Maskerade als »Laterne« aufgetreten in einem ziegelroten Kostüm unter einem Gazeschleier und hatte ein sehr anzügliches Lied gesungen: »Auf der Straße von Versailles.«

Dieses Lied fiel ihr ein, als sie nun einsam in der Frühlingsnacht dastand und fror.

Jetzt erst, nachdem sie der schlimmsten Gefahr glücklich entronnen war, begann sich die kleine Marquise zu ängstigen: wie sollte sie mitten in der Nacht heimfinden? Zum erstenmal geschah es, daß sie sich ohne Wagen, ohne Dienerschaft behelfen mußte, des Gehens auf dem holprigen Pflaster ungewohnt, empfand sie Schmerzen bei jedem Schritt, immer wieder kippten die hohen Absätze ihrer rosenroten Schühlein um.

Auch vermochte sie sich durchaus nicht zu besinnen, welche Richtung es einzuschlagen galt, um nach Hause zu gelangen; niemals hatte sie im Wagen und in der Sänfte auf den Weg geachtet. Sie wußte, das Hotel de Luze befand sich irgendwo ganz weit in der Rue de Grenelle, aber vielleicht hätte sie es nicht erkannt, wenn sie davor gestanden wäre.

Die arme Frau war nun dem Weinen sehr nahe, es schien ihr, als hörte sie von neuem das Johlen und Lärmen des Pöbels und dazwischen erstickte Angstrufe; schnell verbarg sie sich hinter dem Gestrüpp, das die Straße säumte, und hielt den Atem an.

Aber nichts regte sich weit und breit, die kleine Marquise gewann wieder einige Sicherheit und begann, über ihre Lage nachzudenken; gewiß würde die Dienerschaft nach ihr suchen, sie sah ihren Herrn Gemahl, den Marquis de Luze, wie er sich am Kamin die alten Knochen wärmte, ein Domestik reißt die Tür auf: Madame ist verunglückt! Wie mochte der arme Mann erschrecken, sie empfand beinahe Rührung über seinen Schmerz, der ihr galt, und sie malte sich aus, wie sie ihm zur Begrüßung um den Hals fallen und ihr heldenhaft ertragenes Ungemach beschreiben würde; auch ihrer Schutzpatronin Sainte Geneviève drei große Kerzen zu opfern beschloß sie.

Ach, wenn sie nur erst zu Hause gewesen wäre! Jedesmal, wenn die Marquise Schritte hörte, fühlte sie sich versucht, aus dem Versteck hervorzukommen und nach dem Wege zu fragen; sie sprach sich selbst die Worte vor, die sie an den Unbekannten richten wollte: »Ich bin die Marquise de Luze, bitte, führen Sie mich zu meinem Hotel in der Rue de Grenelle.«

Aber das ging doch wieder nicht; es war ja gar nicht abzusehen, wer ihr da entgegenlief, sie mochte mit dem gemeinen Volke nichts mehr zu schaffen haben, das waren lauter Feinde. »Lieber die ganze Nacht auf der Straße verbringen,« überlegte sie.

Doch während die Marquise de Luze sich schon trotzig mit ihrem Schicksal abzufinden entschloß, drangen plötzlich das hüpfende Geräusch leicht hinsurrender Räder und der hämmernde Hufschlag geschwinder Pferde an ihr Ohr; zuerst vermeinte sie wieder einer Täuschung zu unterliegen, aber lauter und lauter klang der Schall, bis er sie ganz und gar wie eine liebliche Musik erfüllte: wie eine Ahnung, daß es eine häßliche Welt der Fußgänger gäbe, die ihr Schlimmes hatte antun wollen, und eine andre bessere der Menschen, die in schnellem Wagen durchs Leben sausen und in die sie nun wieder, gleich einem gescholtenen Kinde, dem man verzieh, zurückkehren durfte.

Jetzt erkannte die Marquise de Luze zwei schaumbedeckte Pferde und den Kutscher, der klatschend seine lange Peitsche auf den Bug der keuchenden Tiere niederfallen ließ. Schnell sprang sie aus ihrem Versteck, wer immer in dem Wagen saß, es galt gleich, sie wollte sich ihm anvertrauen; beide Arme riß sie empor, und »Stehenbleiben! Stehenbleiben!« schrie sie laut, ohne freilich Beachtung zu finden. Indessen gelang es ihr, einen Blick in das Innere der Karosse zu werfen; ein junger Edelmann saß da allein in die Kissen zurückgelehnt.

»Hat der es eilig,« dachte die Marquise, »und ohne Läufer, ohne Domestiken;« sie war wieder gut gelaunt, der übermütige Kehrreim »Auf der Straße von Versailles« schoß ihr durch den Kopf. »Stehenbleiben!« rief sie ein drittes Mal, befehlend, und in der plötzlich erwachenden Angst, der Wagen könnte am Ende doch vorüberrollen, ohne sie mitzunehmen, machte sie Miene, sich den schnaubenden Rossen entgegenzuwerfen.

Da riß der Kutscher mit aller Macht an den Zügeln, noch ein Stückchen schleiften die Räder, ein kurzes, stolperndes Klappern der Pferdehufe: der Wagen stand.

Das verstörte Antlitz eines Knaben ließ sich blicken, und »so fahre doch zu«, fuhr eine hohe, jugendliche Stimme den Kutscher an.

Aber die Marquise schlug die Hände zusammen: »Bitte, bitte, bringen Sie mich ins Hotel de Luze.«

»Hast dich verspätet, kleine Zofe, und fürchtest entlassen zu werden?« sagte der Knabe, während ein kurzes Lächeln über seine ernsten Züge flog. »Wie zerdrückt dein Röcklein ist,« fügte er hinzu.

»Bringen Sie mich ins Hotel de Luze,« flehte wieder die Marquise, und ein vortrefflich gezielter Blick aus den schmalen, geschlitzten Augen schnellte gegen den jungen Edelmann.

Der fuhr scheu zurück wie ein Reh, das eine Kugel hat pfeifen hören. »Ich kann nicht, kleine Zofe,« versicherte er treuherzig, und »mach schnell!« verwies er von neuem, heftig auffahrend, den Kutscher.

Schon schwang dieser die Peitsche, um die Pferde anzutreiben, da rief die Marquise, ganz nahe dem Antlitz des Knaben: »Wenn Sie ein Edelmann sind und kein Grobian, so werden Sie eine hilflose Frau nicht mutwillig verlassen?«

Diese Rede übte merkwürdig starken Eindruck auf den Knaben, er sprang von seinem Sitze und begann mit dem Kutscher zu beraten. »Steck' meinetwegen die Person in den Wagen«, klang ein tiefer Baß, »wir lassen sie dann in Versailles.«

»Wie manierlos die jungen Leute zuweilen sind,« dachte altklug die Marquise, »dieser Bub macht einen Domestiken zu seinem Vertrauten und steht mit ihm auf Bruderschaft.« Doch lange Zeit zum Überlegen behielt sie nicht; denn »so steig doch ein, kleine Zofe,« wurde sie ermahnt, und schon zerrten die Pferde an den Strängen.

Nun saß die Marquise neben dem fremden Knaben und lachte ihn an; es tat ihr wohl, einen Unterschlupf gefunden zu haben, und »wie hübsch er ist« dachte sie, »und wie sonderbar, daß ich ihm noch niemals begegnet bin.«

»Wie hübsch sie ist,« dachte auch der junge Edelmann, dann aber stützte er seinen Arm lässig auf den Degenknauf, und sein Blick verlor sich im Leeren.

Die Marquise nahm daran Ärgernis, »gewiß fährt der pressierte Herr zu einem galanten Stelldichein und seine Gedanken sind mit zärtlichen Wünschen beladen,« malte sie sich aus; »wohin bringen Sie mich,« klang schnell ihre laute Frage.

»Ich weiß es noch nicht«, erwiderte zerstreut der Knabe, »gib dich zufrieden, kleine Zofe.«

»Am Ende glaubt er, ich solle seiner Dame den Schnürleib lösen,« überlegte zornig die Marquise, doch zugleich fühlte sie sich belustigt, daß dieser junge Edelmann sie so hartnäckig für eine Zofe hielt und daß sie an seiner Seite ins Unbestimmte fuhr. »Nun erst beginnt eigentlich die Maskerade, zu der mich die Herzogin de l'lnfantado gebeten hat,« dachte sie übermütig.

Auch ihres Herrn Gemahls, des Marquis de Luze, erinnerte sie sich wieder, aber nicht mehr in Rührung wie vorhin: er wird einsehen, daß ich mich nur verirrt habe und bald nach Hause komme, sicherlich liegt er schon zu Bette und schnarcht.

»Wie heißt du. kleine Zofe,« fragte der junge Mann.

»Frosine,« antwortete die Marquise, und nahm unwillkürlich die zwitschernde Stimme ihrer eigenen Zofe an, der dieser Name zu eigen war; zugleich festigte sich in ihr der Beschluß, es dürfe nimmer geschehen, daß der hübsche Knabe an ihrer Seite zu einem Stelldichein mit einer andern eile; es reizte sie, ihn von dieser Unbekannten, der seine Gedanken schon entgegenflogen, im letzten Augenblicke abzuwenden.

»Ich habe mich noch gar nicht bei Ihnen bedankt, mein lieber Retter,« begann sie schmeichelnd das Gefecht, und dann plauderte sie lustig fort: »Denken Sie nur, diese schreckliche Angst, ich bin ja noch niemals, auch nur eine Meile weit zu Fuß gegangen.«

»Niemals gegangen –« wiederholte erstaunt der junge Edelmann, und die Marquise, die fühlte, daß sie aus ihrer Zofenrolle gefallen war, stammelte verwirrt: »Sie dürfen nicht alles so wörtlich nehmen, das ist nicht artig. Ich hab' mir's nur so vorgestellt, wie das wäre, wenn man noch niemals einen Schritt zu Fuß getan hätte und stünde nun mit einem Male allein auf der Straße.«

»Merkwürdig genug wär's allerdings,« versicherte der Knabe, in Eifer geratend, »beinahe so merkwürdig, als wenn man noch niemals in seinem Leben gefahren wäre und säße plötzlich auf weichem Kissen in einer vornehmen, schaukelnden Karosse.«

»Das schiene mir nun gar nicht so unangenehm,« lachte die Marquise, »natürlich dürfte man nicht allein fahren, sondern es müßte jemand neben einem sitzen, den man lieb hat.«

»Freilich,« bestätigte der Knabe, »freilich,« und wurde rot.

Leise kichernd spottete die Marquise: »Welch ein Kind, welch ein Kind!« Und wieder schnellte ihm aus den schmalen, geschlitzten Augen ein funkelnder Blick entgegen, aber der ging diesmal nicht fehl, sondern traf ihn durch und durch und mitten ins Herz, als ein wunderbares Geschoß, das sehr wehe tat und doch wohl zugleich.

Da umschlang der Knabe die Frau mit beiden Armen und küßte heiß ihren Mund, das Häubchen saß nun schief, eine goldene Armspange zerbrach, aber die kleine Zofe schalt ihn nicht.

»Wie heißt du eigentlich?« hörte er fragen.

»Cléante,« antwortete er verwirrt nach einer Pause.

»Wie lieb du bist,« klang's an sein Ohr.

»Und du erst,« gab er zurück, »wie sanft deine Hände sind, so damenhaft.«

Darauf kam wieder flüsternd ihre Stimme zu ihm: »Ich hab' einmal meine Herrin zu einer heimlichen Wirtschaft begleitet, nahe dem Palais Royal, wo man guten Wein kredenzt bekommt; und abgeteilte Säle sind auch zu vermieten für die vornehme Herrschaft; es gibt dort immer vergnügliches Leben bis in den Morgen.« Und die Zofe nannte die Straße.

Erschreckt fuhr der Knabe zurück. »Was fällt dir ein … was ist mir eingefallen … ich darf keine Minute säumen,« und seine Hand, die zärtlich die winzige Hand der Zofe umfangen hielt, war eiskalt geworden und zitterte.

»Welch ein Kind, welch ein Kind!« hörte er es kichern, da öffnete er heftig den Wagenschlag, bog sich weit hinaus und begann wieder mit dem Kutscher zu unterhandeln.

»Du bist toll,« sagte die Baßstimme, »für ein törichtes Abenteuer willst du dein Leben aufs Spiel setzen; hätten wir doch nur das Frauenzimmer auf der Straße stehen lassen!«

Weiter konnte die Marquise de Luze dem Gespräch, das auf einen Wink des Knaben in gedämpftem Tone geführt wurde, nicht folgen. Sie sah nur, daß sich der junge Mann aufs Bitten verlegte, und ganz deutlich klang dann erst der Fluch des Kutschers, mit dem dieser die Pferde wandte: »Mir kann's recht sein, meinen Kopf kostet's nicht.«

Als der Knabe wieder bei der kleinen Zofe saß, bestürmte sie ihn mit Fragen: »So sprich doch, Cléante, was ist's mit dir, vertraue mir dein Geheimnis.«

Aber in wildem Trotz sah der Knabe vor sich hin, so daß ihre Fragen schnell abglitten; auch zum Spotten fand sie nicht mehr den Mut, sondern blickte ihn scheu von der Seite an. Etwas von Respekt war nun in ihr, und auch Stolz, weil dieser junge Mensch um ihretwillen eine große Gefahr auf sich lud; und daß sie selbst die Gefahr nicht kannte, erfüllte sie mit einem süßen prickelnden Gefühl der Erwartung.

Mehr noch erstaunte sie freilich später, als sie sah, mit welcher Festigkeit der schüchterne Knabe in der Wirtschaft alle Anordnungen traf. Aus seinem Geheimnis schien ihm wunderbare Kraft zuzuströmen; knapp erteilte er seine Befehle, wie jemand, der nicht viel Zeit hat, der Musikanten wollte er gleich ledig sein, zahlte ihnen aber doppelten Sold mit Goldstücken, die er aus einem prallen Beutel holte. Dann bestellte er alten Burgunder, prüfte die Feuerfarbe im Glas und leerte es in einem Zuge.

Schnell und gierig war auch sein Kuß, als hätte er alle Seligkeit der Welt in einem Trunk hinunterschlürfen mögen, wie vorher den Wein.

Eine seltsame Verträumtheit schien jetzt über ihn gebreitet, seine Augen suchten die Augen der Geliebten, und es war doch, als blickte er nach rückwärts, in sich selbst hinein; er sprach weiche, zärtliche Worte, aber gepreßt, wie mit Wut stieß er sie hervor, und Tränen erstickten seine Stimme. Er streichelte das rosenrote Kleid der Frau und dann ihre weißen, schmalen Hände und flüsterte leise vor sich hin, als ob es niemand hören sollte: »Seide, Seide! …«

Erstaunt ließ die Marquise den Knaben gewähren, ein kleines amouröses Abenteuer hatte sie zu erleben vermeint und fühlte ringsum knisternd Flammen lohen.

Alles, was ihr vordem begegnet war, schien ihr nun Spiel; aber in dem starren, dunklen Blick des Knaben lag ein tiefer fanatischer Ernst. Die Männer, die früher um sie warben, hatten es verschmäht, geradeaus von ihrer Neigung zu sprechen, sie gebrauchten zierliche Reden, kunstvoll umrankte Wendungen, lösten Gefühle in leichten Duft auf, wie man Blumen zum Frauendienst in kostbare, wohlriechende Essenzen verwandelt. Der Knabe indessen scheute sich nicht, ungeschickte, törichte Worte zu gebrauchen.

»Ich liebe dich!« rief er laut und kniete vor ihr nieder.

»Ich liebe dich, Cléante,« sagte ein wenig verlegen, doch gelehrig die Marquise, und es schien ihr etwas ganz Neues, das kein Mensch je vor ihr gehört noch gesprochen hatte.

Die Perücke des Knaben war zu Boden gefallen, und darunter kam in langen Strähnen sein glänzendes, schwarzes Haar zum Vorschein; nachdenklich ließ es die Frau durch ihre Finger gleiten. Es geschah zum erstenmal, daß sie wirkliches Menschenhaar berührte, nicht einmal ihr eigenes hatte sie seit ihrer Kinderzeit zu schauen bekommen; denn jeden Tag wurde es von einem geschickten Künstler neu mit Mehl eingestaubt und zu einer hohen Coiffüre getürmt. Und wenn ihr Herr Gemahl daheim seine Perücke abnahm, mit der er in Gesellschaft so stolz paradierte, blieb ihm nur die kahle, spiegelnde Glatze.

Wie häßlich das alles war! Sie erinnerte sich nun ihres Vorsatzes, dem Marquis de Luze ihr Erlebnis genau zu berichten, und auch dies ärgerte sie, dann fiel ihr das kleine Liedchen »Auf der Straße nach Versailles« wieder ein, und sie fand es abscheulich.

Am liebsten hätte sie alles Vergangene ausgelöscht, um völlig dem Gegenwärtigen sich hinzugeben; zwischen ihre schmalen, weißen Hände nahm sie den Kopf des Knaben: »Ich will es dir nur gestehen, Cléante,« sagte sie stockend, »ich bin keine Zofe, ich bin die Marquise de Luze, und du mußt mich sehr oft besuchen, mein lieber Cléante, und wir werden sehr glücklich sein.«

»Ja, wir wollen immer beisammen bleiben und glücklich sein, Geliebte,« sprach der Knabe wie aus einem Traume. »Hab' ich mir's doch gleich gedacht, daß du eine Prinzessin bist oder sonst etwas Wunderbares, du öffnest mir die Welt, wie die Engel den Himmel aufschließen.«

Aber dann wankte er plötzlich zurück, wie ein Mondsüchtiger, den man beim Namen gerufen hat, stieß die Geliebte von sich, unheimlich rollten seine Augen in den weitaufgesperrten Höhlen, angstvoll griffen seine Hände in die Luft:

»Es ist vorbei,« stammelte er, »alles vorbei! Auch ich habe dich getäuscht, ich heiße nicht Cléante, mein Vater ist Schreiner im Faubourg Saint Antoine, er hat mich die Rechte studieren lassen. Seit gestern sind mir die Häscher auf den Fersen, es geht um den Kopf, die Kameraden haben mir Geld verschafft und dies Kleid und den Wagen, der vor der Türe wartet; der Kutscher ist meines Vaters erster Gesell, er steckt mit in der Verschwörung.«

»Verschwörung?«

Voll atemloser Spannung war die Marquise den Worten des Knaben gefolgt. »Was kann ich für dich tun,« rief sie. »Teile mir meine Rolle zu. Ich bin bereit.« Und da der Knabe sie mit leerem Blick anstarrte, ohne zu begreifen, fügte sie im Eifer hinzu: »Du ahnst nicht, wie satt ich des Lebens bin, das hinter mir liegt. War's mir doch, als ich dich traf, als habe ein Kerker sich aufgetan. Stoße mich nicht zurück.«

»Du weißt nicht, was du begehrst,« entgegnete der Knabe. »Gefahr erwartet mich, vielleicht der Tod. Der König selbst ist uns feind. Wir haben ihm nach dem Leben getrachtet.«

»So laß uns fliehen,« rief die Marquise mit leuchtendem Auge. »Wir dürfen keine Zeit verlieren. Ich fliehe mit dir.«

»Aber ich will nicht mehr fliehen,« sprach tonlos der Knabe. »Ich will auch nicht sterben. Ich bin noch so jung. Mögen die andern ihre Narrenpossen treiben und sich dem Henker ausliefern. Mir hat sich jetzt erst das Leben geschenkt. Nun soll es mir niemand entreißen. Du wirst mir Freiheit und Gnade erwirken. In hundert Verwandlungen werde ich dir begegnen, höher und höher steigend, und werde dir immer nahe sein – wenn du im Glanz stehst, von knisternder Seide umflossen, von goldenen Kronleuchtern bestrahlt« …

»O, sprich mir nicht von diesen Nichtigkeiten, Geliebter,« flehte die Marquise. »Wie schlecht taugen sie dir! Und wie bald will ich selbst dies alles vergessen haben. Sprich mir von dem neuen Weg, der vor uns liegt.«

»Zu dir will ich, Geliebte.«

»An dir ist es, mich zu führen.«

»Ich kann nicht … ich habe den Weg verloren.«

Nun hielten beide inne. Ein Schweigen entstand. Es war so, als ob mit einem Male im Fußboden zwischen ihnen ein Spalt sich öffnete. Der Spalt wuchs und wuchs zum Abgrund. Dann war ein kurzer, schriller Ton in der Luft. Ein kleines Steinchen traf das Fenster und dann noch eines. Von der Straße gellte ein Ruf.

Die Marquise von Luze fand ihre Haltung wieder: »Geh!« sagte sie strenge, »geh!«

Die beiden Liebenden standen sich noch immer wie in Erwartung gegenüber, und sie wußten doch, daß keine Brücke mehr von dem einen zum andern führte … Im Korridor wurden polternde Schritte vernehmbar: »Bist du toll geworden,« tönte eine tiefe Stimme, »zu viel Torheit! Nimm sofort Abschied von dem Frauenzimmer, oder ich renne die Tür ein!«

Gebieterisch war die Hand der Marquise ausgestreckt, mit gesenkten Augen schlich der Knabe hinaus. Regungslos blieb die Frau stehen, bis sie den Wagen fortrollen hörte; dann zog auch sie langsam und gesenkten Hauptes, wie der Knabe vorher, die Tür hinter sich zu.

Draußen dämmerte der Morgen, singend und lärmend kam ihr ein Kind entgegengesprungen. »Kennst du das Hotel de Luze?« fragte die Marquise.

»Freilich kenne ich's,« lautete die beleidigte Antwort, »es steht in der Rue de Grenelle.« Und schon lief das Kind voraus.

Völlig licht war es geworden, als die Marquise de Luze nach dem Türklopfer ihres Hauses griff, neugierig betrachtete sie ihn: zwei aufgerichtete Windhunde trugen das stolze Wappenschild.

»Ach der schöne Stern,« rief in diesem Augenblick das Kind, das schon um die Straße bog. Ganz ferne, auf der Place Louis XV, hatte sich eine vergessene Rakete unter der fortglimmenden Asche entzündet stieg leuchtend zum blauen Himmel empor und zerstob in einem goldenen Sprühregen.


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