Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Konstantinus

Deine Erzählung könnte ganz leicht zum ersten Akt eines abendfüllenden Theaterstückes ausgestaltet werden,« erklärte Martinianus, als Konstantinus geendet hatte.

»Der zweite Akt würde dann im Wohlfahrtsausschusse spielen,« führte Serapion aus, »und der junge Revolutionär müßte indessen ein naher Freund von Robespierre geworden sein, während sich die Marquise als Angeklagte vor ihm zu verantworten hätte.«

»Wie hilfreich ihr seid,« lachte Konstantinus, »wenn ich das Zeug dazu hätte, setzte ich mich hin und schriebe das Stück. Aber am Ende würdet ihr doch merken, daß es für die Geschichte innerlich keine Fortsetzung gibt.« Und um sich deutlicher zu erklären, fügte er hinzu: »Es ist nämlich eine wahre Begebenheit oder vielmehr das Wesentliche davon hat sich in meinem Leben wirklich ereignet, und darauf kommt es doch an.

Ich war damals noch Student und wohnte in einem der äußeren Bezirke Wiens, wo sich zwischen alte, verfallene Zinshäuser schmucke Villen mit freundlichen Gärten geschoben haben. Mir gegenüber, in solch einer Villa, wohnte ein junges Mädchen, das ich heimlich liebte, wenn ich auch nur gelegentlich mit ihr ein paar nichtssagende Worte hatte wechseln können; ihr Bruder war nämlich mein Schulkollege. Agathe – so hieß das junge Mädchen – galt für ein wenig leichtfertig. Mir blieb sie das Sinnbild alles Schönen und Kostbaren dieser Welt.

Eines Tages, als ich eben zur Stadt ging, hörte ich sie meinen Namen rufen. Unter allen Stimmen der Erde und des Himmels hätte ich die ihre erkannt. Lächelnd trat sie auf mich zu und gestand gleich, es geschehe in einer besonderen Verlegenheit: ob ich für sie eine Tramwaykarte auslegen wolle; sie habe ihr Täschchen zu Hause vergessen.

Diese Anrede, die mich unter anderen Umständen sehr glücklich gemacht hätte, versetzte mich zur Zeit in nicht geringe Bestürzung, denn, um es nur gerade herauszusagen, meine Taschen waren vollständig leer. Ich nannte zur Stunde keine zehn Heller mein Eigen.

Mich selbst bedrückte dieser Zustand nicht sonderlich, denn er hatte sich gegen Ende des Monates schon des öfteren ereignet. Ganz unmöglich aber schien es mir, das geliebte Wesen in die Kümmerlichkeit meiner Lage Einblick gewinnen zu lassen. Qualvoll sann ich hin und her, was ich wohl anständigerweise zu meiner Rettung hätte unternehmen können, während das junge Mädchen, anmutig plaudernd, neben mir der nächsten Haltestelle zustrebte.

In diesem Augenblicke der höchsten Not, als in der Ferne ein Straßenbahnzug drohend sichtbar wurde, kam mir ein rettender Einfall. Eben war nämlich auch ein Fiaker um die Ecke gebogen; mit zutraulichem Augenzwinkern lud der Kutscher zur Fahrt ein. In der Straßenbahn, so überlegte ich, mußte meine Schande sogleich offenbar werden, wenn ich jedoch diesen Fiaker anhielt, konnte ich immerhin während der Fahrt überlegen, wie das nötige Geld zu beschaffen sei.

Vor allem galt es hier Zeit zu gewinnen. Vorausbezahlung wurde nicht verlangt; soviel wußte ich, obzwar ich noch nie vorher in solch einem vornehmen Fuhrwerk gesessen hatte.

Ich nötigte also Agathe, die errötend widersprach, mit so viel Festigkeit zum Einsteigen, daß sie erschreckt, doch irgendwie auch angezogen, es geschehen ließ, daß der Wagenlenker eine braune Decke über unser beider Knie breitete. Denn es war Herbst, und ein kalter Wind fegte das Laub über die Straße.

Dies alles hatte sich in so rascher Folge ereignet, daß wir beide, das junge Mädchen und ich selbst, erst jetzt eigentlich zur Besinnung gelangten. Agathe indessen verstand es, mit großer Sicherheit, ein Gespräch anzuspinnen, das allerdings über rein Äußerliches nicht hinausging. Ich wiederum, durch solche Überlegenheit aufgestachelt, lenkte das Gespräch mit Eifer auf ernsthaftere Dinge, wo ich mich besser zu Hause fühlte.

Bald hielten wir bei der Musik, die mir teuer war, und die auch dem lieblichen Geschöpfe an meiner Seite Feiertagsstimmung zu bedeuten schien. Und schon fühlte ich mich im besten Zuge über den Tristan hinweg dem Gespräch eine Wendung zu geben, die es zum Geständnis heimlichen Begehrens hinüberleiten konnte, als mein Blick von ungefähr auf den kleinen Apparat fiel, den eine umsichtige Stadtverwaltung vor kurzem an allen Wagen hatte anbringen lassen, und der jederzeit den Fahrpreis deutlich abzulesen gestattete.

Meine Schuld betrug augenblicklich fünf Kronen und vierzig Heller. Das machte mich zerstreut; das Gespräch stockte. Das junge Mädchen an meiner Seite aber, das nun erst an der abenteuerlichen Fahrt Vergnügen fand, und dem sich wohl auch im Gespräche, das von mir mit soviel fanatischem Eifer geführt wurde, eine neue und darum anziehende Welt erschloß, wollte die heißgelaufene Rede nicht so schnell verkühlen lassen und drängte mit Worten und Blicken, die mir nahe gingen, auf der mit Glück eingeschlagenen Bahn fortzufahren.

Ich aber hatte alle Stimmung verloren. Ich sah nur noch den Taxameter vor mir; die Ziffern sprangen in teuflischem Galopp, überkugelten sich, wuchsen zu abenteuerlichen Gipfeln empor. Dabei galt es zu überlegen, wie die nötige Endsumme zu beschaffen sein werde. Am besten wäre es vielleicht gewesen, mir einige Lektionen, von denen ich meinen bescheidenen Unterhalt bestritt, vorausbezahlen zu lassen. Aber ich konnte doch nicht im Fiaker die Runde machen, um mir ein paar Kronen zu leihen.

Bis zu jener Stunde hatte ich jeden Besitz verachtet. Nun wünschte ich sehnsüchtig alle Schätze der Erde herbei. Ich verfluchte mein Schicksal, das mich in der Niederung hatte geboren werden lassen. Ein heißes Verlangen faßte mich nach der Welt des Reichtums und der Freude, aus der Agathe kam.

›Warum reden Sie nicht mehr,‹ fragte meine Begleiterin. Erschreckt nahm ich das Gespräch wieder auf, aber es wollte nicht mehr gelingen, aller Zauber war dahin. Ich fand nicht mehr die richtigen Worte. Zwischen die Sätze schoben sich Zahlen, immer wieder Zahlen, einstellige, zweistellige, dreistellige.

Agathe hatte die braune Decke zurückgeschlagen, die uns verband, und tippte ungeduldig mit der Spitze ihres Schirmes vor sich hin. ›Gleich sind wir zur Stelle,‹ sagte sie, ›es tut mir leid, daß ich Sie bemüht habe.‹ Bald darauf hielt der Wagen. Ich wollte abspringen, um ihr beim Aussteigen zu helfen, aber sie kam mir zuvor. Einen Augenblick lag ihre Hand in der meinen, kalt, flüchtig, teilnahmlos. Dann war sie verschwunden.

Der Taxameter zeigte acht Kronen sechzig Heller. Ich hieß den Kutscher an eine Straßenecke fahren, wo ich die Tafel eines Leihamtes bemerkt hatte.

Der Mann am Schalter besah meinen Überrock und fand an ihm allerlei auszusetzen, bot mir aber zum Schlusse neun Kronen. Ich dachte an das Uhrwerk des Taxameters, das draußen weiterlief und bat mit tonloser Stimme, ob ich denn nicht zehn Kronen haben könnte.

Der Kutscher lächelte mitleidig, als ich ihm das Geld brachte.

Es kam ein grimmig kalter Winter, ich fror jämmerlich. Dem jungen Mädchen, das ich liebte, bin ich nie wieder begegnet. Meine Geschichte hatte keine Fortsetzung. Ich bin ein Pechvogel, ihr wißt es ja.«

Teilnehmend waren die Freunde der Erzählung gefolgt, die Konstantinus mit so viel treuherziger Schlichtheit vortrug. Ihm zum Troste hatten sie aus der eigenen Erinnerung ähnliche Begebenheiten hervorgeholt und so noch längere Zeit das Gespräch fortgesponnen, als mit einem Male Schritte hörbar wurden.

Dyonisius, den man schon verloren geglaubt, und dessen Namen die Freunde kaum noch auszusprechen gewagt hatten, trat bleich und verstört zu ihnen. Zuletzt war er in dem türkischen Dorf angetroffen worden, scheu und wortkarg. Dann hatte sich seine Spur verloren. Nun aber sah er so verstört aus, daß man ihn, ernstlich besorgt, von allen Seiten mit Fragen bestürmte.

Er aber weigerte zunächst jede Antwort, da ihm Ruhe und Sammlung mehr als Aussprache nötig sei. Am folgenden Abend indessen, als die Freunde sich wieder am Eingange der Höhle versammelt hatten, und die kühlende Nachtluft leise das Moskitonetz bewegte, kam er unaufgefordert herbei, von einem tiefen Schlafe gekräftigt, doch immer noch bleich.

»Zürnt mir nicht,« sagte er, »ihr lieben Freunde. Es würde mir schwer fallen, euch Rechenschaft darüber zu geben, was ich zuletzt an Süßem und Schrecklichem erlebt habe. Aber täusche ich mich nicht, so habt ihr einer um den andern eure Erzählungen beendet, und die Reihe wäre nun an mich gelangt. So gestattet denn, daß ich euch in der Art, wie ihr es zuerst beschlossen habet, und wie es mein törichtes Besserwissen ablehnte, meine Geschichte vortrage. Vielleicht ergibt es sich dann von selbst, daß mein Bericht in die Wirklichkeit überleitet.«

Und er begann:


 << zurück weiter >>