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8.

Auf dem Felsen Aguagliouls hielten sie nach der Gletscherwanderung Rast. Vor ihnen dehnten sich die weißen Schneewüsten. Schroff und wildgezackt hohen sich die Berge empor. Die Sonne stand schon tief am Himmel, aber das großartige Landschaftsbild lag noch in vollem, goldenem Lichte vor ihnen.

»Hier lerne, wie klein eines Menschen Weh'n,
Hier lerne jauchzen und untergehn!«

rief Aniane mit strahlenden Augen, Schiemann ihre Rechte entgegenstreckend. »Wie klein erscheint mir hier der Menschen Leid, das ärmliche Glück und die kleinliche Not. Der Menschheit Kämpfen und all ihr Mühen, es verschwindet vor der Größe dieser Natur, die mich wieder fromm macht, Schiemann, fromm und stille.«

Der Bildhauer sah seine junge Gefährtin verklärten Blickes an. Wie ihr blühendes Antlitz in der Sonne leuchtete. Er sah ihr rotes Blut durch die weiße Haut schimmern, er sah ihren kleinen roten Mund sehnsüchtig lächeln und ihre Brust wogen.

Und er bedurfte seiner ganzen Selbstbeherrschung, um Aniane nicht an seine Brust zu reißen, ihren süßen, bebenden Mund nicht mit tausend Küssen zu schließen. Aber er wußte, daß er dadurch das Köstliche einbüßen würde, was ihm Aniane bisher gewährt, ihr Vertrauen. Und diesen Schatz mochte er nicht missen.

Mit eiserner Energie meisterte er sein wallendes Blut, und nur seine Stimme klang weich und gepreßt, als er zu Aniane sagte:

»Der Führer macht mich aufmerksam, gnädige Frau, daß wir, wenn Sie sehr ermüdet sind, nicht nötig haben, über den Tschiervagletscher zurück zur Tschiervahütte zu wandern. Wir können von hier über die Alpe Ota viel früher in Pontresina sein, als es sonst der Fall sein würde.«

»Nein, bitte, lassen Sie uns noch einmal zur Tschiervahütte zurück, wenn Sie meinen, daß die Zeit ausreicht. Es war so still und heimlich dort, so großartig ernst, daß ich diese Schauer der Einsamkeit, die mir heute morgen die bunte Gesellschaft dort störte, so gern noch einmal ganz auf mich wirken lassen möchte,« bat Aniane.

»Wir kommen wohl zurecht. Zur Not können wir am Rosegghotel, wenn es zu früh dunkel werden sollte, einen Wagen nehmen, der uns schnell nach Pontresina befördert,« entgegnete Schiemann lächelnd, »ich bin sehr glücklich, daß Sie so frisch sind und Ihre Kräfte ausreichen.«

»Ich fühle mich hier oben so beschwingt, als hätte ich Flügel,« gab Aniane sinnend zurück, »als könnte ich Berge versetzen und Unmögliches vollbringen, so groß, so frei und leicht ist mein Herz.«

Und sie schritten heiter plaudernd oder still genießend den Weg, den sie gekommen, zurück, immer den Blick auf den großartigen, wilden Absturz des Gletschers gerichtet, über den jetzt das sinkende Tagesgestirn flammenblättrige Rosen streute.

Durch Eis und Schnee hatte ihnen der tapfere Führer schon vorher den Weg gebahnt, den sie jetzt müheloser zurückschritten, als sie gekommen waren.

Immer tiefer sank die Sonne. Sie stand jetzt wie ein feuriger, roter Ball am abendlichen Himmel.

»Ich fürchte, es wird doch später, als wir annahmen,« bemerkte Schiemann, besorgt nach der Uhr sehend. »Die Sonne sinkt schnell, und wir kommen in einer Stunde kaum bei einem ordentlichen Dauerlauf von der Hütte bis zum Rosegghaus. Uebrigens muß die Hütte ganz nahe sein. Geben Sie acht, es geht jetzt steil abwärts. Haben Sie die Stufen? Soll der Führer Sie anseilen?«

»Nein, nein,« lachte Aniane fröhlich, »ich bin ganz sicher.«

Plötzlich flog es wie ein wimmernder Laut an ihr Ohr.

Erschrocken blieb sie stehen.

»Klang das nicht wie ein Hilferuf?«

»Ich hörte nichts,« antwortete der Professor, aber er horchte doch aufmerksam in die Ferne.

Einen Augenblick herrschte totenähnliches, unheimliches Schweigen, und dann klang wieder der unheimliche Laut zu ihnen herüber. Es klang wie ein Sterbeseufzer.

Oder war es nur Anianens Herz, das so klopfte?

Ein gellender Pfiff fuhr dazwischen.

»Es ist jemand in Gefahr,« bemerkte der Führer Peter Groß, sein braunes Gesicht mit der scharfgebogenen Nase aufmerksam in die Höhe richtend, »der Pfiff war ein Führer-Zeichen, der Hilfe herbeiruft.«

Wieder begann das wahnsinnige Klopfen in Anianens Brust.

»Wissen Sie die Richtung? Können wir helfen?« fragte sie atemlos den Führer.

»Wenn die Dame sich vielleicht inzwischen in die Hütte begeben will, nur noch wenige Schritte abwärts, da sehen Sie das Häuschen liegen, und vielleicht den Hüttenwart, der wohl jetzt dort sein wird, verständigen wollen, so könnte ich mit dem gnädigen Herrn da mal hinüber nach der Schneegrube. Von dort her scheint mir der Ruf zu kommen.«

»Ich möchte Sie nicht allein lassen,« meinte Schiemann unschlüssig zu Aniane.

»Aber ich bitte Sie, lieber Professor, dort liegt ja die Hütte. Eilen Sie, vielleicht gilt es ein Menschenleben zu retten. Gern ginge ich mit Ihnen, aber ich fürchte, ich würde Ihnen mehr eine Last als eine Hilfe sein.«

Wieder klang der gellende Pfiff durch die Einsamkeit.

»Vorwärts denn,« gebot Schiemann dem Führer, der jetzt seitwärts durch Schnee und Eis einen Weg nach der Schneegrube bahnte, von der er vorhin gesprochen.

»Ich warte aus Sie in der Tschiervahütte,« rief Aniane noch im Abstiege den beiden Männern hinauf, »und den Hüttenwart sende ich zur Hilfe, wenn er schon zurückgekehrt sein sollte.«

Schiemann nickte ihr ernst und beklommen zu. Eine schwere, bange Traurigkeit hatte sich plötzlich auf seine Seele gewälzt.

Aniane stieg eiligst den kurzen Weg bis zur Hütte hinab.

Umsonst horchte sie, ob sich der Hilferuf wiederholte. Alles blieb still. Rosenrot flammte der Abendhimmel über die weißen Schneefelder. In tiefstem Schweigen lag die Hütte. Aus der niederen Tür trat ihr ein Mann entgegen, der Hüttenwart.

Aniane verständigte ihn schnell. Er nickte nur und wand sich das lange Seil, das er schon in der Hand hielt, fester um den Leib.

»Ich hörte den Hilferuf, und ich wollte schon auf gut Glück gehen und Ausschau halten, ob ich Beistand leisten könnte,« sagte der Mann und drückte den Filzhut fester in die Stirn. »Jetzt gibt's halt kein Säumen mehr. Behüt Gott.«

Und noch im Abgehen rief er zurück:

»Müssen halt schauen, wie S' sich in der Hütten zurecht finden, meine Dame.«

Sein stampfender Schritt verklang. Und Aniane stand allein in der Hütte.

Wie unruhig, wie bang ihr Herz schlug. War das Furcht vor der Einsamkeit, oder Furcht um eines Menschen Leben, den sie nicht kannte?

Und wenn sie ihn kannte?

Ein Zittern lief durch die hohe, blonde Gestalt, die jetzt wie gebrochen an der Hüttentür lehnte.

Die Dämmerung kam schnell, schneller als Aniane gefürchtet, und sie saß da so still vor der Hütte in dieser Schneewüste ganz allein und horchte vergebens auf einen menschlichen Laut, auf einen näherkommenden Schritt.

Wenn sie die ganze Nacht hier oben allein blieb? Wenn sie den Fremden, dessen Ruf so lange verhallt, vielleicht doch nicht fanden? Wenn auch Schiemann nicht wiederkehrte?

Aniane machte sich Vorwürfe, daß sie nicht mitgegangen war. Wäre es nicht besser gewesen, den steilsten Pfad zu erklimmen, als hier in qualvoller Unruhe zu warten, bis etwas Schreckliches – sie fühlte es – etwas Unbegreifliches, Grauenvolles geschah?

Und immer näher kam die Nacht, und die gute Tante Buttler saß in Pontresina und wartete vergebens auf ihre Heimkehr und ängstigte sich.

Aniane sprang erregt auf. Es war nicht zu ertragen, hier so tatenlos zu verharren, bis vielleicht der Tod dort über die weißen Schneeberge hernieder zur Hütte schritt.

Sah sie ihn nicht dort mit erhobener Sichel über die Schründe der Gletscher schreiten? Nein, es war ein dunkler Nebelfetzen, der dort geheimnisvoll über die Gletscher wallte.

Und mit fiebernden Sinnen und mit bebendem Herzen horchte sie in die Nacht hinaus. Sie hörte das Bersten des Eises, die Gletscherstimmen, wie sie der Volksmund nennt, die so unheimlich schaurig und doch so geheimnisvoll süß durch die Nacht klangen.

Und plötzlich vernahm sie einen andern Laut, Männertritte. Und ohne Besinnen flog Aniane den schmalen Weg entlang, den Kommenden entgegen, die langsam eine Last in ihrer Mitte trugen.

Es war fast dunkel geworden. Ein graues Nebelgewoge hüllte alles ein.

»Aniane, um Gotteswillen, Sie werden sich erkälten,« klang des Professors Stimme. »Warum blieben Sie nicht im Schutze der Hütte?«

»Ist er tot?« fragte Aniane, während ihre Zähne vor Frost aufeinander klappten.

Sie wußte in diesem Augenblicke, wen die Männer da brachten.

»Nein, ich hoffe, nur betäubt,« gab der Professor zurück, »es war die höchste Zeit, daß wir ihn fanden.«

In der dumpfen Stube mit den rotgewürfelten Bettüberzügen lag Fürst Dolf-Dietram mit geschlossenen Augen, einem Toten gleich. Blut sickerte von seiner Stirn, und die schmalen Hände des Fürsten zeigten tiefe, blutrünstige Risse und aufgeschlagene Wunden, auf welche jetzt Anianens weiche Hände kühlende Umschläge legten.

Sie sprach kein Wort, wie auch Professor Schiemann wortlos ihr behilflich war, die Stirnwunde des Fürsten zu kühlen und ihn möglichst bequem zu betten.

Die beiden Führer waren noch in der Nacht hinab zum Rosegghaus geeilt, um Hilfe für den Fürsten herbeizuschaffen. Beim Morgengrauen wurden sie zurückerwartet.

Der Hüttenwart rüstete in der kleinen Küche für seine späten Gäste eine bescheidene Abendmahlzeit, die er jetzt in die nur durch eine dünne Bretterwand vom Schlafraume getrennte Stube trug.

Schiemann machte Aniane ein Zeichen, ihm zu folgen, um sich zu stärken. Er sah, daß sie dem Umsinken nahe war und daß sie sich nur mit Mühe aufrecht hielt.

Aniane legte soeben einen kunstgerechten Verband um die Stirnwunde, da schlug der Fürst die Augen auf.

Einen Augenblick sah er zweifelnd um sich, dann aber wurde sein Blick groß und weit, und ein Lächeln irrte um seine Lippen, die fiebernd murmelten:

»Nun kommen die alten Bilder, nun kommt Tannenrode. Die Burg und Aniane. Sie trägt rote Astern im Haar, und alle sagen, daß es sie nicht kleidet. Und ich sehe sie doch so schön, so lieb und doch so fremd. Aniane, wo bist du?«

Aniane rührte sich nicht. Starr den Blick auf den Verwundeten gerichtet, hatte sie scheu ihre Hand von ihm zurückgezogen.

Der Bildhauer beugte sich über den Freund, der die Augen wieder geschlossen hielt.

»Er redet irre,« sagte er tonlos. »Das Fieber steigt. Ich fürchte, Durchlaucht ist schwerer verletzt, als es den Anschein hat.«

Mit fast rachsüchtiger Grausamkeit sah er ihr Erblassen, ihr angstvolles Flehen, mit dem sie zu ihm aufschaute.

»Sie liebt ihn,« zog es durch seine Seele, »sie liebt ihn, trotz aller Abwehr und aller äußerlichen Kälte, und ich Tor glaubte, daß es mir gelingen könnte, sie zu erringen.«

»Warum bist du von mir gegangen, Aniane?« kam es von den Lippen des Fürsten. »Weißt du nicht, wie einsam ich geworden? Sie sagen mir, es sei ein Glück, eine Krone zu tragen, so jung zu tragen. Sie alle wußten nicht, wie schwer sie drückt. Bist du da, Aniane? Meine Zunge brennt, ich verdurste.«

Mit zuckenden Lippen sah die Sängerin auf den Mann, den sie einst geliebt, und von dem Welten sie trennten. Es drängte sie, ihm ihre bittere Verachtung über sein unwürdiges Spiel entgegenzuschleudern, es drängte sie, ihm zu sagen, daß es keine Brücke mehr gab zwischen einst und jetzt, nachdem sie gelernt hatte, ihn zu verachten, aber ein weiches Mitleid kam über sie und schmeichelte: »Du darfst ihn jetzt nicht verlassen. Er bedarf deiner Hilfe, deiner stützenden, rettenden Hand.«

Und sie netzte seine Lippen, badete ihm die fiebernden, von den scharfen Eiskanten zerschundenen Hände. Sie legte ihm lindernde Salbe, die der Hüttenwart herbeibrachte, auf die Wunden, bis der Kranke immer ruhiger und stiller wurde, und endlich seine tiefen Atemzüge bekundeten, daß er fest schlief.

Da verließ Aniane mit Schiemann den Schlafraum und trat an den Tisch, um den sich am Vormittag eine so fröhliche Gesellschaft geschart hatte.

»Trinken Sie,« gebot der Professor, ihr ein Glas mit rotem Wein an die Lippen führend. »Sie müssen ja dem Umsinken nahe sein. Nehmen Sie ein wenig Schinken oder einen Löffel Suppe,« fügte er bittend hinzu.

Aniane versuchte gehorsam, einige Bissen hinunterzuwürgen, aber es gelang ihr nicht.

Auch der Bildhauer ließ Messer und Gabel sinken. Nur den Wein trank er hastig.

»Wie kam das nur?« fragte Aniane mit zitternden Lippen.

»Der Führer erzählt, daß der Fürst von Anfang an tollkühn drauflos gestürmt sei, von gebahnten Wegen hatte er nichts wissen wollen. Immer höher hinauf wollte er, ohne Seil, den Warnungen des Führers zum Trotz. Immer an schroffen Abgründen entlang, mit kühnem Sprunge über Gletscherspalten setzend, hatte sich der ganze Weg zu einer wilden Jagd gestaltet. Der Führer konnte es Durchlaucht kaum gleich tun, und da – beim Abstieg zur Tschiervahütte, sah der Führer plötzlich vor seinen Augen den Fürsten von dem scharfen Kamm der Eiswege, die oberhalb der Hütte so jäh abstürzen, verschwinden. Hätte ihn die Schneegrube nicht aufgefangen, Durchlaucht wäre unrettbar zerschmettert worden.«

Schiemann sprach in einem seltsamen ausdruckslosen Ton, mit abgewandtem Gesichte, als spräche er zu einer Fremden über einen Fremden.

»Wir fanden den Fürsten in einer Gletscherspalte mit dem einen Fuße eingeklemmt. Der Führer, der nach dem Absturz des Fürsten ihm eiligst nachgestiegen und den Hilferuf hatte ertönen lassen, mühte sich vergebens, ihn hervorzuziehen. Unsern vereinten Kräften gelang es endlich nach einigem Mühen. Aus der tiefen Ohnmacht, die den Fürsten umfing, sahen Sie ja selbst ihn erwachen.«

»Und Sie glauben, daß er innerlich nicht vielleicht doch schwere Verletzungen davongetragen hat?«

Der Bildhauer zuckte die Achseln.

»Ich sehne den Morgen herbei, der die Träger hier heraufführt. Wollen Sie nicht doch ein wenig ruhen, Aniane?«

»Nein, ich danke, ich könnte doch nicht schlafen. Aber Sie, lieber Professor, Sie sollten es wenigstens versuchen, sich ein wenig zu strecken, um morgen früh frisch zu sein.«

»Nein, ich will da drinnen in der Stube am Lager des Mannes wachen, der mir heute viel genommen hat, vielleicht mein ganzes Leben.«

»Nein, lieber Freund, der Mann dort nahm Ihnen nichts. Es ist ein Wahn, der Sie plagt.«

Ein leidenschaftlicher Glutblick flog zu Aniane, die mit blassem Angesicht, totmüde, ihr blondes Haupt gegen die Bretterwand gelehnt, dasaß. Das Antlitz des Professors war fahl, und tiefe Furchen ließen es um Jahre älter erscheinen, als er mit dumpfer Stimme zurückgab:

»Ich wollte, es wäre ein Wahn, aber dem ist nicht so. Ich fühle es an den heißen, wahnsinnigen Schlägen meines Herzens. Der Mann dort, den ich liebe, den ich verehre, als einen der Herrlichsten, Großen, ja Größten, die je in meinen Lebensweg getreten sind – wenn ich auch nicht blind bin gegen seine Fehler – dem ein großes, heiliges Opfer zu bringen ich oft bereit war, dem ich freudig mein Leben weihte, der kommt und nimmt mir, was mehr ist, als mein Leben, Sie, Aniane. Und ich muß machtlos zusehen, wie das Verderben über Ihnen zusammenbricht. Wäre es Ihr Glück, Aniane, bei Gott, ich wollte nicht zögern und mein Höchstes und Bestes, mein Heiligstes ohne Klagen in die Arme des Fürsten legen, aber so weiß ich, daß nur Leid Ihr Teil sein wird. Der Fürst ist gebunden, und seine Liebe, selbst wenn sie noch so groß, so unantastbar und heilig wäre, sie könnte die Dornenkrone nicht von Ihrem geliebten Haupte abwenden. Und weil ich das weiß, darum muß ich gegen ihn, meinen geliebtesten Freund, kämpfen, kämpfen bis zum letzten Blutstropfen. Verstehen Sie nun, wie es in meiner Brust tobt und nach Erlösung schreit?«

Er hatte ihr über den Tisch herüber beide Hände entgegengestreckt.

»Sie übertreiben,« gab sie trüben Blicks mit zitternden Lippen zurück. »Der Fürst wird mir nie gefährlich sein. Nicht nur darum, weil er Weib und Kind hat, nicht nur darum, weil ihn das Leben bestimmt hat, auf der höchsten Warte zu stehen, auf der für mich kein Raum ist, sondern vor allem darum, weil uns innerlich unüberbrückbare Abgründe scheiden. Und nun bitte ich Sie, lieber Freund, nehmen Sie sich zusammen und glauben Sie mir. Vielleicht kommt einmal eine stille Stunde – bald, so hoffe ich – wo ich Ihnen alles sagen kann, wo Sie begreifen werden, daß alles, was Sie für mich fürchten, ein böser Traum gewesen, der Sie schreckt, und der sich nie, niemals verwirklichen wird. Wäre ich doch, statt die Nacht hier oben auf der Hütte zuzubringen, mit den beiden Führern, die die Tragbahre für den Fürsten holen, allein hinab zum Rosegghaus gestiegen. Morgen, wenn der Unfall des Fürsten bekannt wird, weiß das ganze Engadin, daß er in meiner Gesellschaft die Nacht hier auf der Tschiervahütte verbracht hat, und die abenteuerlichsten Kombinationen werden sich wieder daran knüpfen.«

Schiemann sah die blonde Frau, die jetzt so matt und müde, wie gebrochen ihm gegenüberlehnte, fast entsetzt an.

»Daran habe ich noch garnicht gedacht,« rief er aufspringend, »aber ich bitte Sie, das ist ja geradezu entsetzlich. Es muß natürlich etwas geschehen, diesen Gerüchten zuvorzukommen.«

Aniane winkte abwehrend mit der Hand, ein bitteres Lächeln um den kleinen Mund.

»Wir Künstlerinnen,« entgegnete sie, »sind doch gewissermaßen vogelfrei, wenn es gilt, Gerüchte über uns auszustreuen. Nein, nachdem ich einst in meinen Jugendtagen erlebt, wie rettungslos man der bösen Fama zum Opfer fällt, so bald sie es will, selbst wenn man siegessicher und seelenrein auf den höchsten Höhen zu wandeln meint, seitdem habe ich es aufgegeben, irgend welchen Gerüchten entgegenzutreten. Mein Mann, an dessen lieber, starker Hand ich wieder den Mut zum Leben fand, nachdem mein Glück und alles, was ich vom Leben erhofft, in tausend Scherben gegangen, pflegte zu sagen:

»Nur was wir in uns selber tragen, kann uns Wert und Unwert verleihen. Nur wir selber, unser eigenes Gewissen, kann und soll unser Richter sein.« –

»Was die böse Menge sagt, denkt und treibt,« fuhr Aniane mit wieder erwachender Energie fort, »soll mich nicht kümmern. Und nun kommen Sie, Herr Professor, lassen Sie uns nach unserm Kranken sehen. Bis wir ihn glücklich in Pontresina geborgen haben, werde ich ihm noch zur Seite bleiben. Dann werde ich ihn Ihrer Pflege und der Kunst der Aerzte überlassen.«

Der Professor öffnete ihr die schmale Holztür, die zu dem Küchenraume führte, wo der Kessel über dem Herde schwankte und die Flammen darunter hoch aufzüngelten, als das Paar zu dem Hüttenwart trat, der verschlafen am Herde hockte.

Schiemann gab ihm Weisung für den Morgen, dann traten sie wieder in den Schlafraum, wo der Fürst sich stöhnend auf dem ärmlichen Lager wälzte.

Aniane legte ihm die Hand auf die fieberheiße Stirn. Ein Seufzer glitt von seinen Lippen, dann schlug er groß und weit die Augen zu ihr auf.

»Aniane,« kam es wie in Glück und Jubel ihm aus tiefster Seele, und ehe Aniane es hindern konnte, hatte er ihre Hand an seine fiebernden Lippen gezogen.

Ein heißer Schauer rann durch Anianens Körper. Es war, als versagten die Füße ihren Dienst, als müßte sie niederknien am Schmerzenslager dessen, den sie einst so heiß, so grenzenlos geliebt, und ihr Haupt an seiner Brust bergen, einmal nur, ein einziges Mal, und ihm unter Tränen zuflüstern: »Ich habe dir vergeben,« aber es war etwas in ihrer Seele, was sich wild dagegen aufbäumte, was ihr Herz kalt und hart machte und selbst das weiche Mitleid dämpfte, das sie beschleichen wollte, als sie behutsam den Verband und die Umschläge erneuerte, um dem Kranken etwas Linderung zu schaffen.

Der Professor sah ihr bewundernd zu. Mit welcher Leichtigkeit sie die ungewohnten Handreichungen ausführte, mit welcher Ruhe und Grazie!

Der Kranke hatte sein Gesicht abgewendet. Die dürftige Lampe erhellte nur trübe den kleinen, dumpfen Raum.

Stumm ließ sich Aniane auf den einzigen Stuhl am Bette nieder. Schiemann nahm auf dem Bettrande Platz. So saßen sie in banger Sorge die ganze Nacht.


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