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7.

Die Morgenröte kämpfte noch mit der Nacht, da wanderte Aniane von Rainer an der Seite des Bildhauers Schiemann und des Pianisten Roald Harnsen, dem ein Träger folgte, den Weg von Pontresina entlang, der zum Roseggletscher führte. Die fröhlichen Wanderer schritten tapfer aus. Mit Entzücken atmeten sie die köstliche Morgenluft. Es war, als brächen Frühlingsfluten durch die Gletscherschollen, die da so verheißungsvoll in der Ferne leuchteten. Die Edelföhren und Lärchenstämme neigten sich wie in andachtsvollem Schauern.

Rüstig schritten die drei in belebendem Bergwinde dahin, heiter plaudernd und trunkenen Blickes die Schönheiten genießend, die sich ringsum ihren entzückten Augen boten.

»Habe ich zuviel versprochen, gnädige Frau?« fragte jetzt Schiemann, der im Lodenanzug mit Kniehosen und Wadenstutzen ein prächtiges Bild bot, »wenn ich Ihnen Wunder verhieß, heilige Wunder?«

Aniane sah mit strahlenden Augen um sich. Das lichtgraue Bergkostüm und die graue Lodenmütze auf dem blonden Haar gaben ihr etwas reizvoll Keckes, und jede Bewegung, mit der sie tapfer aufwärts schritt, war voll Kraft und Grazie, so daß die Augen beider Männer ihr immer bewundernd folgten.

Schiemann führte die Unterhaltung fast allein.

Roald Harnsens blaue Augen hingen an Anianens feinen Zügen und an ihren leuchtenden Augen.

»Hier wird man wieder jung,« sagte er nur einmal, als ihn ihr strahlender Blick traf, »hier versinkt alles, was uns bedrückt. Aus dem Tale steigen die Sorgen nicht hinauf zu den schimmernden Höhen, wo wie ein Opferrauch auf Tempel-Zinnen der Sonne Glut in Flammen lodert. Sehen Sie dort hinauf, Aniane, das ist heilige Glut.«

Aniane stand in stummem Schauern. Die Schneeberge rings glühten im Rosenlicht. Donnernd ging hier und da eine Lawine zu Tal, sonst war es feierlich still in der rosenroten Frühe.

»Wie soll ich Ihnen danken, lieber Professor,« nahm Aniane endlich das Wort, als sie wieder eine Strecke schweigend zurückgelegt hatten, »daß Sie mich mit sich genommen haben, diesen köstlichen Morgen zu genießen, und daß Sie so sicher meiner Kraft vertrauen und nicht fürchten, ich könnte unterwegs liegen bleiben, wenn erst die schwierigen Strecken kommen, von denen Roald Harnsen mir erzählt.«

»Ich bin ja auch kein großer Bergsteiger vor dem Herrn,« lächelte der Pianist, aber ich hoffe, mich doch bis zur Tschiervahütte zu schleppen.«

Schiemann lachte sein sorgloses, fröhliches Lachen.

»Sie, lieber Herr Harnsen, mit Ihren Bärenkräften werden uns noch alle in den Schatten stellen. Aber wen haben wir denn da?«

Er spähte aufmerksam nach dem Hotel Rosegg hinüber, von dem nicht allzufern sich der gewaltige Roseggletscher in flimmernder Pracht ausbreitete. Ein Wagen hielt vor dem Hotel, dem drei Damen und ein Herr entstiegen.

»Alle guten Geister,« lachte Aniane amüsiert auf. »Das ist ja die Geheimrätin von Heimburger mit Tochter und Nichte. Hoffentlich haben sie nicht den gleichen Weg wie wir.«

Sie hatten ihn aber.

Die Geheimrätin, die sich voll Enthusiasmus auf die Ankommenden stürzte, erklärte voll Feuereifer, die Tschiervahütte sei ihr Ziel. Weiter wollten sie nicht. Für Maguhild sei das schon zu viel. Dodo möchte natürlich gern gleich auf den Piz Bernina.

Die Geheimrätin sah triumphierend um sich. Ihre Kurzatmigkeit, an die sie garnicht gedacht, wie sie behauptete, wollte sie nicht als Einwand für die Partie gelten lassen, sie sei sonst eine gute Fußgängerin. Mister Wadson, den sie etwas lärmend vorstellte, sollte das bezeugen.

Der Kalifornier, der durch den Zuwachs der Gesellschaft gar nicht sehr erfreut schien, machte eine tadellose Verbeugung und wandte sich dann wieder der blassen Frau Maguhild zu, die mit kritischen Augen die Schwierigkeiten des Weges erwog und ihre Bedenken zu Dodo äußerte, ob sie nicht ihre Kräfte damit doch überschätze.

»Unsinn,« lachte Dodo leichtfertig. »Man muß seine Kräfte üben, man muß sich selber etwas zutrauen. Nicht wahr, Mister Wadson, das tun wir immer.«

Sie lachte ihm übermütig ins Gesicht, eine leichte Röte stieg in Maguhilds Antlitz, die sich plötzlich abwandte, so daß Mister Wadson und Dodo sich unvermutet allein auf dem schmalen Wege fanden, in den die kleine Gesellschaft jetzt einbiegen wollte.

Einen Augenblick sah der Kalifornier die Kleine verdutzt an, dann aber lachten sie sich beide in die Augen, und vergnügt und fröhlich plaudernd hüpfte Dodo, leicht ihren Bergstock aufstoßend, an seiner Seite dahin.

Die Geheimrätin folgte mit ihrer Tochter und dem Pianisten, und Aniane und Professor Schiemann machten den Beschluß.

Ein hartnäckiges Schweigen herrschte zwischen den Beiden, die jetzt über die Brücke schritten, dem etwas sumpfigen Pfade zu, auf dem man zur Alpe Misaum emporstieg.

Schiemann hatte keinen Blick mehr für das großartige Bild, das sich vor ihnen aufbaute. Gleichgültig schweifte sein Blick über die grüne, von Schafen beweidete Felseninsel Aguagliouls dahin, unter welcher die beiden mächtigen Eisströme der Gletscher zusammenflossen.

Auch auf Aniane, die ihm leicht zur Seite schritt, fiel sein Auge nicht.

»Sind wir nicht recht törichte, kindische Menschen,« nahm Aniane jetzt das Wort, absichtlich hinter den anderen etwas zurückbleibend, »daß wir uns so leicht Stimmung und Laune verderben lassen?«

»Ich wünsche Ihre Frau Geheimrätin dahin, wo der Pfeffer wächst,« grollte Schiemann. »Uns den schönen Tag so zu ruinieren. Mir ist alle Lust zu unserer herrlichen Tour vergangen.«

»Ich muß gestehen, daß ich die Gegenwart der lebhaften Frau, die auf alles mit solcher Selbstverständlichkeit Beschlag legt, auch gerade nicht besonders angenehm empfinde,« gab Aniane zurück, »aber umsomehr, da sie mich an eine Zeit erinnert, die für mich viel Süßes, aber auch viel Bitterkeit birgt. Aber der Weg ist schließlich doch für alle frei, und man kann nicht wissen, ob uns nicht noch weit unangenehmere Ueberraschungen bevorstehen.«

»Das habe ich auch gefürchtet,« rief der Bildhauer lebhaft aus, »und darum habe ich in St. Moritz tiefstes Stillschweigen bewahrt über das Ziel unserer Wanderung.«

Aniane atmete ein klein wenig freier, und ihre Augen suchten jetzt wieder die schneebedeckten, wildzerklüfteten Gletscherfelder, die sich in so majestätischer Pracht vor ihnen ausbreiteten.

Sie schritt sicher und gewandt am Abhange dahin, den schmalen Pfad hinan, der zu der Viehhütte Margum Misaum führte. Eine Stunde mochten sie wohl so, nur ab und zu ein Wort wechselnd, gestiegen sein. Steil zog sich jetzt oberhalb der Hütte der Weg im Zickzack hinauf. Schiemann und Aniane gewahrten lächelnd, wie Mister Wadson und Roald Harnsen dort oben auf dem steilen Pfade sich bemühten, mit Hilfe ihrer Bergstöcke, die sie zu beiden Seiten sich entgegenhielten, der Geheimrätin eine Brücke auf dem schmalen, schlüpfrigen Wege zu bauen, der, jäh abfallend, ihr Schwindel zu erregen schien.

Aniane und Schiemann sahen noch, wie sie mit den Händen wild in der Luft herumfuchtelte, sie hörten auch ein leises Kreischen und verstohlenes Lachen, dann entzog eine Windung des Weges ihnen den Anblick der mühselig aufwärts Kraxelnden.

Anianens gute Laune war wieder da. Sie lachte hell auf und rief dann lustig:

»Ich danke, wenn ich da oben eine so komische Figur abgebe, wie die Frau Geheimrätin. Ich habe fast Furcht vor der steilen Höhe.«

»Das sieht schlimmer aus, als es ist. An meiner Hand werden Sie sicher gehen.«

Er sagte es nicht ohne tiefere, innere Bedeutung, und ein leichtes Rot trat in Anianens Wangen.

Fast bereute sie, die Tour unternommen zu haben, zumal sie die Empfindung hatte, als ob Roald ihr leise zürnte. Er hatte sich den ganzen Morgen schon merkwürdig zurückgehalten, und die unerwünschte Gegenwart der geheimrätlichen Familie schien ihm ein willkommener Vorwand, Aniane allein in der Gesellschaft Schiemanns zu lassen.

Der Führer, der langsam folgte, und der bis zur Tschiervahütte nur als Träger für das leichte Gepäck diente, rief dem Paare zu, sich etwas mehr links zu halten, und Aniane fiel es ein, daß sie ja versprochen hatte, wenn die Tour zur Tschiervahütte sie nicht zu sehr ermüde, einen Aufstieg auf den Piz Tschierva oder eine Gletscherwanderung zu unternehmen. Ein unbehagliches Gefühl überkam sie, wenn sie sich vorstellte, daß Harnsen zurückbleiben könnte, wie bei seiner mangelhaften Ausrüstung wohl anzunehmen war, und sie allein, ganz allein mit Schiemann in den weiten Schneefeldern blieb, die vor ihr im Sonnengolde schimmerten.

Forschend flog ihr Blick zu ihm herüber, und sie bebte zurück vor der heißen Leidenschaft, die plötzlich aus seinen Augen brach.

Immer steiler, immer mühsamer wurde der Weg. Schiemann hatte recht gehabt. An seiner Hand überwand sie leicht die schwierigsten Hindernisse. Die Voranschreitenden sahen sie nur hier und da wie kleine Punkte immer höher streben. Nun noch ein kurzer, steiler Aufstieg, und Aniane stand auf dem schmalen Grat, an dessen äußerem Ende, wo er sich erweiterte, die Tschiervahütte sich tief in leuchtenden Schnee bettete.

»Sind Sie sicher, gnädige Frau?« fragte Schiemann etwas beklommen, »wollen Sie nicht lieber meine Hand nehmen? Der Weg ist schmal, und von jeder Seite gähnt ein tiefer Abgrund. Wenn Sie nicht ganz schwindelfrei sind –«

»Ohne Sorge,« lachte Aniane zurück, und ohne seine Hilfe anzunehmen, schritt sie sicher den schmalen Weg entlang, der zur Hütte führte.

Kurz vor der Hütte hielt Aniane inne. Mit angehaltenem Atem blickte sie in die zerklüftete Gletscherwelt, die sich in gigantischer Pracht bläulich-weiß und funkensprühend in schweigenden Weiten vor ihr auftat. Eine heilige, tiefe Andacht überkam sie. Sie sagte kein Wort, aber der Blick, mit dem sie dem Bildhauer die Hand reichte, war ein heißer, aus dem Herzen steigender Dank.

Schiemann hielt die weiche Frauenhand einen Augenblick fest, als er leise, halb wie im Traume, sprach:

»Wir haben uns beide sehr hoch gestellt, Aniane. Beten Sie, daß unsere kühnen Träume nicht da oben zerschellen und tief hinabstürzen in trostlose Niederungen, die da so dunkel in der Tiefe gähnen.«

Anianens Augen glühten dunkel auf. Stolz hob sie den Kopf und entgegnete, über die Schneeberge deutend:

»Sie Kleinmütiger! Schauen Sie doch um sich. Alles ist groß, alles ist hehr, alles ist rein! Und wenn wir unsere Seelen auch rein halten, wie diese ernste, heilige Schneewelt hier oben, wenn wir im ernsten Streben immer aufwärts schauen, dann wird es uns gelingen, nicht nur die höchsten Höhen zu erreichen, sondern auch fest und sicher auf der Warte dort oben zu beharren, auf die uns unsere Kunst geführt hat.«

»Den Flug zur Höhe gemeinsam zu wagen, Aniane, dünkt mir leicht,« gab der Künstler mit zitternder Stimme zurück. »Titanengleich steigen wir empor.«

Die Sängerin schüttelte leicht den Kopf.

»Nein, wir bleiben vielleicht am Wege liegen. Einsamkeit ist unser Los. Nur uns Einsamen wird da oben in der großen, heiligen Stille und Einsamkeit Heil beschieden sein, eine Stätte, bis zu der des Pöbels Geschrei nie hinaufdringt, wo nichts uns verletzen, uns nichts mehr kränken kann.«

»Und wo nichts unser Herz erwärmt,« ergänzte der Mann bitter, der wildatmend ihr zur Seite stand. »Sie sind zu jung, Aniane, um zu verzichten.«

»Nein, ich bin alt, lieber Freund, sehr alt,« gab sie mit zuckenden Lippen zurück, »und vernünftig, wie ich es sein muß im Interesse meiner leichtfertigen Freunde, die zu gern eine Torheit begehen wollen, die sie später bitter bereuen würden. Kommen Sie, lieber Freund, man wartet gewiß schon auf uns in der Hütte, und machen Sie ein freundliches Gesicht. So ist's recht, so mag ich Sie gern.«

»Wer könnte Ihnen widerstehen,« lächelte der Bildhauer etwas melancholisch zurück und dachte dabei:

»Sie ist das herrlichste, holdseligste Weib, das je meine Augen erschauten. Ich werde sie allen zum Trotz dennoch erringen, und keine Macht der Welt soll sie mir je entreißen.«

An der weißen Schneewand da drüben stieg drohend ein dunkler Schatten auf. Unheimlich kroch er bis auf den Weg, so daß es ihn plötzlich wie leises Grauen ankam. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück.

Aniane aber lachte fröhlich auf.

»Nun erschrecken Sie gar vor Ihrem eigenen Schatten, den die Sonne dort auf den Schnee malt,« rief sie heiter. »Ich hoffe, die Stahlbäder von St. Moritz tun noch ihre Schuldigkeit an Ihnen und heilen Ihre Nervosität.«

Der Zauber, der den Bildhauer eingesponnen, zerflog wie der Schatten von der weißen Schneewand, als er, Aniane den Vortritt lassend, in die Hütte trat.

Hier kam ihnen Dodo mit aufgestreiften Aermeln, angetan mit der groben Küchenschürze der Frau des Hüttenwärters, entgegen und erklärte lachend:

Mit dem Feuermachen ginge es absolut nicht, jetzt versuche Mister Wadson seine Künste damit. Der Hüttenwart, der Kerl, sei wieder nicht da. Vermutlich vergnüge er sich in Pontresina. Wenigstens aber hatte er den Schlüssel zum Konservenschrank dagelassen. Mit Hilfe dieser und der mitgebrachten Vorräte sollte jetzt ein lukullisches Mahl bereitet werden. Einstweilen sei Maguhild mit der Tante dabei, etwas Ordnung und Reinlichkeit zu schaffen, denn die Touristen, die vorher hier gehaust, hätten es nicht mal der Mühe wert gehalten, das Geschirr zu spülen und die Gläser zu reinigen. Na, das sei eine Arbeit.

Die Geheimrätin hantierte mit hochrotem Gesicht und aufgeschürzten Röcken im schmalen Hüttenraume mit den schlichten Holztischen und Bänken, der nur durch eine dünne Bretterwand von dem Schlafraume getrennt war. Sie schaffte mit Maguhild unter Beihilfe des Pianisten alles gebrauchte Geschirr und die schmutzigen Gläser hinaus, und im Umsehen ging sie mit kundiger Hand an die Säuberung der Tische und Stühle.

Inzwischen war es zum großen Jubel Dodos gelungen, Feuer auf dem Herde zu entzünden, über dem ein riesenhafter Wasserkessel schwankte, der bald lustig zu brodeln begann.

»Gott sei Dank,« rief die Geheimrätin, die Aermel ihrer gestrickten Battistbluse wieder zurückstreifend und mit Feldherrnblick Umschau haltend, »nun ist es doch hier ein wenig menschlich. Na, wenn das mein Alter wüßte, daß ich hier meine ganz vergessenen, wirtschaftlichen Kenntnisse wieder auffrische, der würde sich gewiß totlachen. Aniane, Liebste, Beste, ich höre, daß Ihr Führer Schinken mit sich führt, Schinken und Geflügel. Das ist ja köstlich. Wein haben wir hier und grüne Erbsen, Kaiser-Schoten sogar. Was wollen Sie mehr, ein fürstliches Mahl. Lieber Mister Wadson, können Sie die Konservenbüchsen öffnen? Herr Harnsen, besitzen Sie einen Korkzieher? Lieber Herr Professor, helfen Sie doch mal Dodo den schweren Wasserkessel heben. So ist's recht. Na, nun wird's schon werden. Das Geschirr, Maguhild, mußt du abwaschen, Frau von Rammelsburg hilft dir.«

Die beiden jungen Frauen lachten übermütig auf. Noch nie hatte ihnen eine ungewohnte Arbeit so viel Vergnügen bereitet.

Schiemann trocknete Teller und Gläser, die Aniane ihm aus dem Spülwasser reichte, mit großem Eifer, und putzte und polierte mit einem Geschick daran herum, als gehöre diese Art der Beschäftigung zu seinem Tagewerke.

Die Geheimrätin aber ging unter Hilfe des Pianisten daran, die Konserven zu erwärmen, während Dodo unter Mister Wadsons kundiger Aufsicht das Geflügel und den Schinken zierlich auf Schüsseln ordnete und dabei immer heimlich naschte und auch dem Kalifornier hier und da einen Bissen in den Mund schob, weil sie beide so tödlichen Hunger hatten.

Das war ein übermütiges Hantieren und Scherzen, und als man unter den Konservenvorräten auch noch eine Büchse Pfirsiche entdeckte, da drohte die allgemeine Freude in eine wüste Orgie auszuarten, wie die Geheimrätin tadelnd bemerkte.

Trotz ihres würdevollen Einspruchs wurden die herrlichen Früchte auf die Tafel gestellt.

»Setz man gleich Kaffeewasser auf, Dodo,« gebot die Geheimrätin, »und Sie, Herr Harnsen, feuern noch ein bißchen Reisig unter, damit das Feuer nicht ausgeht. Ohne Kaffee – hoffentlich ist dies gemahlene Zeug keine Gerste, was der Hüttenwart uns hier großmütig zurückgelassen – ist es doch kein ordentliches Mittagsmahl. Na, was sagen Sie nun, meine Herrschaften, ist nicht alles großartig gelungen?« schloß sie, den wohlbesetzten Tisch musternd.

»Fürwahr, ein fürstliches Mahl,« gab lächelnd Harnsen zurück, »das wir vorzugsweise Ihrer Aufopferung, gnädige Frau, verdanken.«

Die Geheimrätin lächelte geschmeichelt. Er war ein artiger Mann, der Harnsen, sie hatte ihn immer gern gemocht, damals schon, als er noch in Leipzig Musik studierte und zuweilen bei ihnen Tischgast war. Sie hatte auch damals schon gewußt, daß er noch einmal so berühmt werden würde. Natürlich, sie hatte immer eine feine Witterung für künftige Größen. Diese Aniane allein schon! Wirklich grandios! In Leipzig war die Geheimrätin Jahr um Jahr immer auf der Jagd nach berühmten Persönlichkeiten für ihren Salon, und hier saß sie nun in einer kleinen, armseligen Hütte, 2465 Meter hoch, zwischen Eis und Schnee mit drei berühmten Künstlern ohne ihr Zutun und kochte ihnen das Mittagessen.

»Ein fürstliches Mahl,« wiederholte Schiemann, auf die Tafel deutend. »Wollen die Damen Platz nehmen?«

»Darf ich mich zu Gaste laden?« erscholl da plötzlich eine Stimme von der Tür her, und, die hohe Gestalt leicht beugend, trat mit lächelndem Gruß Fürst Dolf Dietram durch die niedere Tür der Hütte.

Die Geheimrätin schrie laut auf, und Aniane sank auf die schmale Holzbank zurück, die sich an der Bretterwand der Hütte hinter dem Tisch mit der aufgetragenen Mahlzeit hinzog.

Dodo faßte sich zuerst.

»Willkommen, Durchlaucht,« rief sie fröhlich. »Ein fürstliches Mahl und ein fürstlicher Gast. Wenn höchstdero an unserm bescheidenen Mahle teilnehmen wollen, das wir mit Aufbietung all unserer wirtschaftlichen Fähigkeiten mühsam zusammengestoppelt haben, so ist das uns eine große Ehre.«

»Meine gnädige Frau, darf ich?« fragte der Fürst mit einer Verbeugung gegen die Geheimrätin.

Wie eine demütige Bitte klang das, aber seine Augen flogen zu Aniane, die, den Blick gesenkt, noch immer kein Wort über die Lippen brachte.

»Natürlich, Durchlaucht,« rief die Geheimrätin, sich langsam von der Ueberraschung erholend und den hochgeknüpften Lodenrock erschrocken herablassend. »Es ist uns ja eine große Ehre.«

»Vielleicht hat unser Führer in seinem Rucksack noch eine kleine Beisteuer zu all den Herrlichkeiten hier, Durchlaucht,« wagte der Adjutant, der dem Fürsten gefolgt war, einzuwerfen.

»Das wäre ja prächtig, lieber Toska,« rief der Fürst leutselig. »Wollen Sie einmal nachsehen?«

Aus dem Küchenraum tönte bald helles Lachen und Dodos Jubel.

»Eine Gänseleberpastete und Büchsen-Hummern, prachtvolle Hummern,« rief sie in die niedere Stube hinein. »Das wird jetzt wirklich ein Göttermahl.«

Man reihte sich um den schmalen Tisch. Wie es gekommen, daß der Fürst plötzlich an Anianens Seite saß, sie hätte es nicht zu sagen gewußt, aber er hatte auf der schmalen Bank so dicht an ihrer Seite Platz genommen, daß sie seinen Atem zu spüren vermeinte.

Der Fürst reichte ihr artig die Schüsseln, und die anderen lachten und plauderten um sie her und fanden es zu amüsant und reizend, daß man sich getroffen, und sie selbst hörte kein Wort von dem, was der Fürst zu ihr sprach. Sie sah nur immer sein schmales, ernstes, vornehmes Gesicht und die drohenden Augen Schiemanns auf sich und den Fürsten gerichtet. Roald Harnsens feurige Augen glaubte sie wie in weiter Ferne auch zu sehen.

Dodo eröffnete einen regelrechten Flirt mit dem Adjutanten, zum großen Mißvergnügen Mister Wadsons, der sich wieder eifrigst der jungen Frau Maguhild widmete, die entschieden dagegen war, noch weiter auf die Gletscher zu steigen, wie der Kalifornier es so gern getan hätte.

Er hatte es wohl aufgegeben, die Künstlerin aus ihrer Schweigsamkeit zu lockern.

Schiemann sprach viel und aufgeregt, und sein Blick haftete mehr als einmal in heißem Groll auf seinem fürstlichen Freunde, dessen plötzliches Erscheinen hier ihm wie ein Verrat dünkte.

Einen Augenblick hatte er sogar geglaubt, daß diese Begegnung im Einverständnis mit Aniane geschehen, ihre vollständige Fassungslosigkeit zeigte ihm die Grundlosigkeit seines Verdachtes.

Endlich hob die Geheimrätin die Tafel auf.

»Kommen Sie, Herr von Toska,« lachte Dodo, »und helfen Sie mir das Geschirr säubern, damit der Hüttenwart, wenn er von seinen Festgelagen da unten heimkehrt, alles blitzsauber findet.«

Bereitwilligst folgte ihr der Adjutant in den Vorraum, der als Küche diente, wo das Kaffeewasser schon lustig wallte. Die andern traten aus dem engen Raume der Hütte hinaus ins Freie.

Schiemann fiel es auf, daß der Fürst noch nicht ein Wort der Begrüßung für ihn gehabt. Es war jetzt aber nicht Zeit, den Empfindlichen zu spielen, und darum schob er sich unwillkürlich an Anianens Seite, gerade, als der Fürst zu ihr treten wollte.

Einen Augenblick blitzten ihn Dolf Dietrams Augen zornmütig an. Schiemann hielt ruhig und ernst den Blick aus, und Aniane sagte, um das laute Schlagen ihres Herzens zu beschwichtigen, in etwas gepreßter Stimmung zu Schiemann:

»Welch eine erquickende Luft hier weht. Ich bin froh, daß wir der dumpfigen Hütte entronnen sind.«

»Gletscherluft,« gab der Fürst, ehe Schiemann antworten konnte, zurück. »Ich fand, daß sie auch in der Hütte wehte.«

Aniane schritt, die Worte des Fürsten ignorierend, schweigend zwischen ihren beiden Begleitern vor der Hütte auf und nieder.

»Darf ich fragen, meine Gnädigste,« nahm der Fürst das Wort, »ob Sie heute noch nach Pontresina zurückkehren?«

Aniane sah etwas unsicher, wie um Hilfe flehend, in Schiemanns Gesicht.

»Nein, Durchlaucht, unser Weg führt noch weiter,« nahm der Bildhauer das Wort. »Wir werden« – und er betonte das »wir« –, kaum vor morgen Abend in Pontresina und wohl erst übermorgen wieder in St. Moritz sein.«

»Mein bester Herr Professor,« entgegnete der Fürst hochmütig. »Verzeihen Sie, ich wußte gar nicht, daß Sie sich so weit mit der gnädigen Frau identifizieren, ihr die Antwort abzunehmen,« und zu Aniane gewandt, fragte er:

»Darf ich das Ziel Ihres Aufstieges kennen lernen. Gnädigste? Vielleicht ist es auch das meine?«

»Wir haben kein Ziel, Durchlaucht,« gab Aniane, die langsam ihre volle Sicherheit wiederfand, zurück, »wir wandern ziellos ins Blaue hinein. Das ist eben das Herrliche bei unserer gemeinsamen Wanderschaft, daß ich das Ziel nicht kenne und daß ich mich willig vom Herrn Professor Schiemann führen lasse, wohin er mich führen will.«

Schiemanns Augen leuchteten auf.

Sie bekannte sich zu ihm! – Eine Seligkeit sondergleichen wollte ihm fast die Brust zersprengen. Fast beklommen streifte sein Blick den Fürsten, der, die hohe Gestalt ein klein wenig nach vorn gebeugt, jetzt stehen blieb und Aniane forschend in das leicht gerötete Antlitz sah.

Nun würden Zornesblitze aus den grauen Augen flammen, nun würden sich die harten, energischen Gesichtszüge dort mit glühender Röte bedecken und tiefe Unmutsfalten sich in die Stirn graben. Der Professor kannte das zur Genüge. Er kannte auch die Unbeherrschtheit des Fürsten, und er fürchtete einen Gedankenblitz lang für Aniane.

Aber nichts von dem, was er erwartete, geschah. Das Auge des Fürsten blieb kühl und das Antlitz unbewegt und ernst, als er entgegnete:

»Sie sind beide beneidenswert, die Sie hier oben zwischen Eis und Schnee eine blaue Stunde suchen, die dort unten vielleicht nie geboren wird. Darf ich der Dritte in diesem Bunde sein?«

»Nein,« klang es eisig aus Anianens Munde, während Schiemanns Herz ganz laut in der Brust hämmerte. »Ich wünsche mit Herrn Professor allein die beabsichtigte Gletschertour zu machen.«

Der Fürst wurde blaß. Es war, als preßten sich knirschend seine weißen Zähne aufeinander und als zitterten die schmalen Lippen.

»So will ich Sie in Ihrem Idyll hier oben nicht stören, mein lieber Professor,« bemerkte er sarkastisch. »Eine recht glückliche Fahrt so ins Blaue hinein, und eine fröhliche Heimkehr.«

Er verbeugte sich leicht und flüchtig vor Aniane, und ohne Schiemann weiter zu beachten, trat er zurück in die Hütte.

Aniane hob wie befreit das blonde Haupt. In tiefen, hastigen Zügen atmete sie die erquickende Schneeluft ein.

»Wie konnten Sie den Fürsten so reizen, Aniane?« fragte Schiemann mit leichtem Tadel, während es doch wie Jubel in seiner Stimme klang.

»Lassen Sie mich,« bat die Sängerin, beide Hände gegen ihre Brust pressend, »es ist mir eine solche Wohltat, ihm zu zeigen, wie tief, wie grenzenlos ich ihn verachte.«

»Sie verkennen ihn, meine gnädigste Frau. Er ist herrschsüchtig, selbstsüchtig, vielleicht auch eitel, aber er ist auch gut und edel. Die Schätze in seiner Brust liegen leider brach, und es hat sich bisher noch kein Schatzgräber gefunden, der sie zu heben versteht.«

»Behalten Sie Ihren schönen Glauben, lieber Freund; aber nun tun Sie mir einen Gefallen: lassen Sie mich hier draußen vor der Hütte warten, bis die Gesellschaft sich zum Abstieg rüstet. Ich möchte eine nochmalige Begegnung vermeiden.«

»Sie sind entschlossen, mit mir zu kommen?«

»Ja, aber nur zu einer kurzen Gletscherwanderung. Der Führer versichert, wenn wir bald aufbrechen, könnten wir noch am Abend wieder in Pontresina sein.«

»Ich danke Ihnen,« rief der Professor warm. »Es kann ein herrlicher Weg und ein wunderbarer Abend werden, wenn wir gemeinsam hinabsteigen ins Tal.«

Er trat zurück in die Hütte, dem Führer seine Anordnungen zu geben, und Aniane erging sich langsam auf dem schmalen Wege, den sie gekommen. Wenn sie hier einen einzigen Schritt vom Wege tat, war alles ausgelöscht, was sie quälte. Zu jeder Seite gähnte ihr ein tiefer, schauerlicher Abgrund entgegen. War es schlimmer, da hinabzustürzen, als vor dem Abgrund zu zittern, der ihr aus den Augen des Fürsten entgegenstarrte?

Unwillig über sich selbst, wandte sich Aniane plötzlich und schritt sinnend zur Hütte zurück.

Vollständig zum Aufbruch gerüstet, trat ihr Roald Harnsen entgegen.

»Sie kommen nicht mit?« fragte sie voll leiser Unruhe, als er ihr die Hand zum Abschied bot. »Ach, wie schade, ich hatte mich so darauf gefreut, mit Ihnen gemeinsam hier durch diese Schneewildnis zu wandern.«

Der Künstler schüttelte voll wehmütiger Resignation den blonden Kopf.

»Nein, Aniane, Sie täuschen sich selbst. Einst, in unseren Jugendtagen, da glaubte ich noch, daß es möglich sein könnte, an Ihrer Hand meine Heimat zu durchwandern, vorbei an den weißen Fjorden, uns zu Füßen das weite Meer, aber der Traum ist längst verflogen, und ebenso töricht wäre es von mir, zu glauben, daß es für Sie ein Glück wäre, an meiner Hand da hinaufzusteigen, wo Ihnen des Lebens Höhenfeuer blinken. Aber warnen möchte ich Sie, Aniane, warnen vor sich selbst. Ein halbes Kind noch, flüchteten Sie einst, um dem Zauber des Mannes zu entrinnen, der hier plötzlich wieder in Ihren Weg getreten ist, zu mir, und heute flüchten Sie wieder, um diesem Mann zu entgehen, in den Schutz Schiemanns. Ich warne Sie, Aniane. Es ist das gleiche Spiel wie einst, und vielleicht hängt wieder ein Menschenschicksal daran! Leben Sie wohl.«

»Aber so hören Sie doch, Roald,« rief Aniane dem hastig Davonschreitenden nach, »ich bitte Sie.«

Er hörte sie nicht. Hastig, als würde er verfolgt, schritt er über den schmalen Grat, dem steil abwärtsführenden Wege nach Pontresina zu.

»Das ist aber wenig freundlich von Herrn Harnsen,« rief die Geheimrätin, die soeben mit den anderen aus der Hütte trat, »daß er so rücksichtslos davonstürmt.«

»Also, liebste Aniane, Sie wollen wirklich noch weiter hinauf? Ich bitte Sie, ich graulte mich zu Tode. Na, der Führer soll ja gut sein,« und vernehmlich flüsterte sie der Sängerin zu: »Aber liebstes Kind, wie unvorsichtig, hier so mit den Männern allein. Hätte ich eine Ahnung davon gehabt, ich hätte Ihnen schon den Unsinn ausgeredet.«

»Ohne Sorge, meine gnädige Frau, Sie wissen ja, daß ich von Jugend auf für mich selber einstehen mußte. Ich sehe darum nicht ein, inwiefern die zufällige Anwesenheit einer Frau hier einen Schutz für mich bedeutet.«

»Na, wie Sie wollen,« gab die Geheimrätin ergeben zurück, aber ganz heimlich nahm sie sich vor, bei nächster Gelegenheit Tante Malchen mal ordentlich Bescheid über das unerhörte Benehmen der Sängerin zu sagen.

Dodo und Maguhild waren mit Mister Wadson und dem Adjutanten schon weit voraus, und die Geheimrätin hastete nun, eifrigst mit ihrem Bergstock winkend und laut rufend, hinter ihnen her.

Der Fürst als letzter sah der grotesken Erscheinung mit leicht zusammengekniffenen Augen nach. Er wechselte noch einige Worte mit seinem gleichfalls zurückgebliebenen Führer und dann sprach er lächelnd zu Schiemann, der soeben zu Aniane treten wollte:

»Sie brauchen nicht zu fürchten, mein Herr Professor, daß unsere Wege hier oben sich nochmals kreuzen werden, der meine führt da hinauf.«

Er grüßte leicht und flüchtig, ohne Aniane anzusehen, und schritt eilfertig dem Führer nach, der den Weg zum Piz Morteratsch einschlug.

Einen Augenblick sahen sich Schiemann und Aniane erschreckt an.

Er blieb doch hier oben, er hatte sogar den Adjutanten zurückgesandt, um hier oben, gleich ihnen, die Einsamkeit zu suchen.

»Wollen wir absteigen?« fragte Schiemann halb scheu, halb bittend.

»Nein!« Aniane rief es fast gebieterisch. »Wir wagen den Weg dort oben in die blaue Ferne hinein. Der Führer wird schon ungeduldig. Kommen Sie. Es ist bald Mittagszeit, und abends möchte ich, wie ich schon sagte, doch wieder in Pontresina eintreffen. Tante Malchen wird ohnedies schon in Sorge um uns sein.«

Der Führer verschloß sorgsam die Hütte und hängte den Schlüssel an einen Balken, dann schritt er, die Rucksäcke über die Schulter werfend und den Eispickel in der Hand, rüstig den Beiden voraus.

Aniane und Schiemann folgten. Zwischen Eis und Schnee führte der schmale Weg steil aufwärts zu den Gletschern, die in grünlich eisiger Pracht funkelten. Als Aniane einen Augenblick prüfend Umschau hielt, gewahrte sie drüben an einer jäh abfallenden Schneewand den Fürsten am Seil seines Führers.

Einen Augenblick schloß sie erschauernd die Augen.

Wenn er hinabstürzte? Wenn er mit zerschmetterten Gliedern dort unten liegen blieb?

Auch Schiemann blickte jetzt dem Fürsten mit dumpfem Grollen nach.

»Er ist tollkühn,« murmelte er, »tollkühn und gewalttätig, er schreckt vor nichts zurück.«


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