Alfred Wolfenstein
Die gefährlichen Engel
Alfred Wolfenstein

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Ein Engel

Am Gefängnistor lehnte ein Herr und wartete. Er hatte ein ernstes Gesicht, eine unscheinbare schmale Gestalt, aber irgend etwas an ihm belustigte die Kinder, die rings um das Tor ihre Purzelbäume schlugen. Sie lachten schreiend und grinsten ihn noch von unten her an, wenn sie im Straßenstaub auf dem Kopf standen. Vielleicht lag es an dem gleichfalls sehr kindlichen Ausdruck seiner Augen oder seinen im Warten wohl etwas komisch verschränkten Beinen oder an der Hand, die unbewußt in einen von der Mauer herabhängenden Stacheldraht faßte.

Nach einer Weile kam ein Mann mit einem kleinen Koffer und wollte an der Torglocke läuten. Zu seiner Verwunderung hielt der Herr seinen Arm fest, als habe er auf ihn gewartet, und sprach ihn an: er heiße Michael Bolm und bäte ihn um seine Bekanntschaft. Der andere nannte sich Hubert, und während sie langsam und von den kreischenden Kindern verfolgt an der Mauer hingingen, fragte ihn Bolm, ob er sich vielleicht gerade zum Antritt einer Strafe stelle. Dies wurde ohne weiteres bejaht, wegen Diebstahls, ein Jahr Gefängnis, zwei Stunden habe er noch Zeit. Bolm schien sich darüber sehr zu freuen, hakte ihn ein und richtete an ihn die Frage, ob er die Strafe wohl übernehmen dürfe.

Er sagte dies zwar mit funkelnden Augen, die so groß waren, wie wir uns die Augen von Helden vorstellen, seine Stimme 121 aber war so besonnen und angenehm, daß Hubert ihn nicht für einen Wahnsinnigen halten mochte. Sie traten zur weiteren Erklärung in eine Kellerschenke, wo der Herr Bolm ein großes Glas Bier und für sich ein Gläschen Sodawasser kommen ließ. Hubert trank ihm zu und winkte und starrte ihn erwartungsvoll mit vorgeschobenem Munde an. Jedenfalls war es ihm lieb, daß die übrigen Gäste abwechselnd das Orchestrion laufen ließen oder am Spielautomaten herumklapperten, als der Herr zu reden begann.

Er sei selbst ein Dieb, sagte Michael Bolm. Nach diesem Bekenntnis hätte er am liebsten schon wieder zu reden aufgehört, es schien ihm zu genügen Hubert dagegen lachte mißtrauisch. Nun, fuhr Bolm fort, wenn er in Schaufensterauslagen oder in Wohnungen alle möglichen schönen Sachen um sich herum liegen sehe, seien ihm häufig ganz ähnliche Gedanken gekommen wie offenbar dem Hubert. Da sind alte herrliche Schmuckstücke oder frische Leckerbissen oder Kleider oder wunderbare Bücher und Bilder. Der Verkäufer wendet so leicht einmal den Rücken, und ich kann mir in göttlicher Ruhe vorstellen, daß die Goldfüllfeder, die feine Uhr, die bunte Schleife mir gehöre. Im Gepäcknetz des leeren Bahnabteils wartet ein ganzer Koffer, was mag alles drin sein. Oder eine ganze schön eingerichtete Wohnung lockt mich, ein Museum mit den Schätzen der Welt, ein ganzer Blumengarten mit Springbrunnen.

Hubert nickte; dies war wohl die Kleptomanie. Jedenfalls durfte der Herr nach diesen Geständnissen schon nicht mehr wagen, ihn etwa zum besten zu halten. Dem Stehlen eines Gartens stand er wieder argwöhnischer gegenüber und er verstand auch manches andere nicht mehr: Da man unendlich viel begehre, sagte Bolm, und nur so wenig davon ohne Diebstahl 122 haben könnte, sei man doch längst zum Diebe geworden, wenn man noch immer für einen anständigen, ja wahrhaft reinen Menschen gehalten werde. Hierbei hob er den Kopf, als spüre er, daß seine Worte dem Hubert wie eine Fieberphantasie erscheinen und seinen Vorschlag gefährden müßten. Er schloß mit der herzlichen Erklärung, daß er sich schon während mancher Gerichtsverhandlung gefragt habe: Warum Die und nicht ich? So fühle er sich jetzt einmal dazu gedrängt, selbst eine Strafe auf sich zu nehmen. Ob dies wohl möglich sei?

Der Andere stand auf. Warum nicht, antwortete er auf jeden Fall. War er nicht im Vergleich zu diesen großen Sachen ein harmloses Menschenkind? Vielleicht hatte er kein so sanftes Gesicht wie der Herr Bolm; das seine war von der Stirn bis zum Kinn wie aus Kartoffelknollen zusammengesetzt, gleich den armseligen Leuten, die hier immer dichter an ihrem Tisch entlangstrichen. Aber Der hatte es hinter den Ohren, und solch ein Kerl lief noch frei herum. Hubert machte mit dem Kopf eine Bewegung nach der Tür hin, er ging in den Flur, und als Bolm freudig nachkam, tauschten sie ihre Papiere. Dann schlug er seinen Retter schmunzelnd auf die Schulter, sagte zum Abschied, jetzt werde er sich das Stehlen lieber abgewöhnen, und sah dann aus einem Versteck, wie sein Stellvertreter tatsächlich mit dem Glockenschlag zwölf ins Gefängnis hineinwanderte.

Dort saß Michael ein Jahr lang täglich über Drahtgeflechten und machte kleine durchlässige Gefäße. Er aß die dünne Speise und trank das Wasser der Gefangenen und atmete eine halbe Stunde lang die steinerne Luft zwischen den Mauern. Aber der harte Schlaf, das böse Schweigen, die leere Arbeit waren ihm nicht Strafe genug. Sicher sahen die traurigen Gesichter seiner Schicksalsgenossen ihm ähnlich, obwohl er sich für heiterer 123 hielt; aber so mäßig waren seine Gedanken und Leidenschaften nicht, er wußte um schlimmere Dinge.

Die Welt war ihm in der kurzen Zeit noch gar nicht fremd geworden, als er eines Tages im vergitterten Wagen durch die Straßen fuhr, um in ein anderes Gefängnis gebracht zu werden. Neben ihm saß ein großer und trotz der blassen Kerkerfarbe noch dicker Mann, der sofort erzählte, daß es bei ihm noch vier Jahre dauerte. Notzucht, sagte er; als er durch den Wald ging, wollte ein großes Mädchen allein an ihm vorbeispazieren, da geschah es. Ja, flüsterte Bolm, sie sind oft so schön, und auf Rotkäppchen wartet immer ein Wolf. Mit Märchen wollte der Mann nichts zu tun haben, und er schlug dem anderen auf die Hand, als Bolm nach der Nummer an der gestreiften Jacke des schweren Verbrechers faßte. Aber als der Wagen schon weit draußen auf der Landstraße mit ihnen hinrollte, begann der Mann zu begreifen, daß hier eine Verschwörung im Gange sei: Er sollte seine Nummer umtauschen; dann käme er in die Zelle des anderen mit kürzerer Strafzeit und wäre bald frei, während seine eigne, dem Fremden wahrscheinlich genau bekannte Zelle von dessen geheimen Freunden zu einem Befreiungsversuch benutzt werden sollte. (So verstand er es wenigstens, in der Eile). Sie wechselten die Nummern, kurz ehe sie ankamen. Übrigens habe er von den Sachen, die er gemacht habe, genug, sagte der Verbrecher. Ich noch nicht, antwortete Bolm.

In dem neuen, viel engeren Raum, der den Unzüchtigen aufnehmen sollte, ging eine größere Welle der Reinigung durch Michaels Sinne. Wie er schon längst kein Dieb mehr war und zugleich damit manches andere Gelüst seine Gedanken und seine Hände verlassen hatte, wandelte sich nun auch sein Herz. Aus einem fallenden schmutzigen Nebel hob sich sein Gefühl zu Freiheit und Klarheit empor, wenn er 124 zwischen den nackten Wänden an Umarmungen, an Gesichter und Gestalten der Frauen dachte. Einstmals hatte er keine vorbeigehen lassen, ohne sie mit einem Blick oder wenigstens mit einem Gedanken zu berühren. Wo es auch sein mochte, mitten in gutbürgerlichen Gesprächen, dachte er an Liebe. In seinen Träumen waren sie ihm erst recht preisgegeben, auch die jüngsten. Ganze Heere schöner Mädchen zogen an seinem Bett vorbei, er freute sich über ihre feinen Lippen, ihre leichten Beine, über die wunderbare Haltung schlanker Frauen, die in ihren Körpern die Seele des Menschen sichtbar machen. Aber wenn sie in seinen Luftkreis traten, wanden sie sich wie verletzt von giftigen Pfeilen, die aus den Winkeln seiner versteckten Leidenschaften schossen. Vielleicht irrte er sich, sie merkten vielleicht gar nichts, sie hielten ihn für einen guten Menschen, und diese harmlose Meinung mußte er auch noch auf sich nehmen. In dieser dumpfen Zelle atmete er nun zum ersten Mal seit seiner Knabenzeit auf, in großer Keuschheit. Sie kamen auch im Traum nicht hierher, da die Härte der Strafe es nicht zuließ. Auch die Frauen konnten aufatmen.

Aber noch nicht alle Menschen waren vor ihm sicher. Dies wurde ihm offenbar, je näher der Tag rückte, an dem der Sittlichkeitsverbrecher zu entlassen war. Mit Kummer, ja mit Entsetzen gestand sich Michael Bolm in der Stille vieler schlafloser Nächte: er hatte sich selbst eine noch viel größere Untat verheimlicht, obschon er sie ohne Zweifel jederzeit hätte begehen können. Zwischen jenen abziehenden Reihen der Begierden gingen, wenn auch vereinzelt, desto schlimmere, die gefährlichsten Gelüste des Innersten, Regungen auf Tod und Leben. Ist es nicht nur ein Zufall, flüsterte sein Gewissen, wenn er sich mit bedrückter Brust auf dem dunklen Lager aufrichtete, daß ich kein Mörder wurde wie Andere? 125

Am letzten Abend seiner Strafe trat der Aufseher und sogar der Oberaufseher bei ihm ein. Man drückte ihm eine gewisse Anerkennung für gute Führung aus, wie denn der Kerker für Sexualkriminelle eine besondere Heilsamkeit besitze. Aber da er vermutlich noch keine neue Unterkunft habe, schlage man ihm für diese Nacht einen Vertrauensposten vor, der ihm ein gutes Entlassungszeugnis eintragen würde. Bolm nahm seine Papiere entgegen, zog die ihm feierlich überreichten weltlichen Kleidungsstücke an, dann führte man ihn in eine ferne Zelle. Im Winkel unter dem Fensterloch saß ein blasser Mensch.

Michael setzte sich zu ihm. Er sollte den zum Tode Verurteilten überwachen, daß er in seiner letzten Nacht nicht Hand an sich legte. Nach den ersten freundlichen Worten hielt der arme Sünder ihn wohl für den Geistlichen. Er verstehe ihn und seine Tat, sagte der Besucher; ihm selbst sei es immer zu gut gegangen; seine Eltern seien liebe Menschen gewesen. Es war wunderlich, daß dieser Priester eher wie ein großer Sünder sprach, der seinerseits eine Beichte ablegen wolle. Wenn man jemals im Leben sein Wesen offen zeige, und das müßte doch irgendwann geschehen, dann sollte man nicht leugnen, daß ein jeder schon manchen Mord auf dem Gewissen habe. Hier und bei den nächsten Worten kam der Verurteilte zu der Überzeugung, daß es sich um einen Spion handle, der irgendwelche weiteren Geständnisse aus ihm herauszuholen suche. Gäbe es nicht Unmenschen genug und möchte man sie nicht auf der Stelle tot umfallen sehen? sagte Bolm. Wenn man da draußen immer wieder die Bösen treffe, ob es nun grausame Ausbeuter seien oder andere rohe und doch kaum zu fassende Quäler, Personen, die als Richter, als Reiche, als Eltern, als Eheleute oder als Herrscher viele Seelen und Leben zerstört 126 hätten: möchte man die Erde nicht sofort und gründlich von ihnen säubern? Der Verurteilte schwieg mißtrauisch. Warum aber zog der Herr jetzt seine Jacke aus, dann die Schuhe, auch die Hosen, und reichte ihm all die schönen Zivilkleider hin, mit Kragen und Schlips? Er erstarrte mit geballten Fäusten, bis der Spitzel schließlich den Ärmel seines Sträflingskittels anfaßte und ihn mit freundlicher Nötigung aus dem grauen Zeug herausholte. Da machte er mit, auf jeden Fall, und fuhr rasch in die feinen Sachen hinein.

Vor dem vergitterten Loch oben erhob sich wie ein graues Signal Dämmerung. Sie saßen einander gegenüber, Bolm wieder in der Kerkertracht, und sie lächelten beide, etwas verlegen. Auch sonst sahen sie sich ähnlich; aber der Mörder zitterte am ganzen Leibe. Er konnte auch nicht jedem Wort zustimmen, das sein unverhoffter Freund sprach: etwa, daß es dort draußen oft noch schrecklicher sei als hier, wenn man in kühler Sicherheit von einer Hinrichtung höre, wenn man am Frühstückstisch in der Zeitung davon lese, während die Menschen hier drinnen wirklich hingerichtet wurden. Ja, es sei auf die Dauer nicht mehr zu ertragen gewesen, daß sie wie Opfertiere für die anderen fielen, die armen für die reichen Sünder.

Der Verurteilte stand behutsam auf, im Gang nahten verdächtige Geräusche. Er schlich in die äußerste Ecke und hörte noch Bolm sagen: Er sei nun, durch die dunklen Regungen hindurch, dieser Stunde der Sühne entgegengegangen, denn auch den scheinbar Harmlosesten müsse wenigstens einmal die Strafe erreichen. Das Schloß kreischte, eine Reihe von Leuten zog übermäßig langsam in die Zelle ein. Der Verurteilte, wie diese Leute gekleidet, gesellte sich zu ihnen und betrachtete, murmelnd wie sie, den Delinquenten Bolm. Dieser sah ganz ruhig aus, und von den Leuten in die Mitte genommen 127 trat er hinaus in den fahlen Gang, und sein noch einmal aufschimmerndes Gesicht verschwand.

Der Verurteilte blieb zurück, halbtot vor Angst, daß der unbekannte Herr, der sich da zum Richtbeil drängte, doch noch umkehren und alles verraten könnte. Atemlos hörte er den Zug mit gemessenen Schritten die Treppen hinabsteigen, dann über den Sand des Hofes scharren, wieder murmelten Stimmen, plötzlich kam ein Klang dumpf und scharf, und Schweigen. Durch ein Flurfenster oben, wo der Mann hastig nach einem Weg zur Flucht suchte, wehte ein sanfter Wind herein. In der strahlenden Sonne, die in seinen blinzelnden Blick ihre Funken warf, meinte er zwei freundliche braune Augen zu sehen, deren Leib die Schwelle soeben überschritten hatte. Die Papiere knisterten in der Jacke. Er ging endlich den gleichen Weg über die eisernen Treppen hinunter, doch am Fuße bog er ab, zum Gefängnistor, und es wurde ihm geöffnet.

Auf die Papiere hatte der Herr noch zwei bestimmte Wohnungen geschrieben und hatte ihn gebeten, dort möglichst bald einen Besuch zu machen. An einem der folgenden Abende saßen die drei Schächer beisammen und erzählten sich ihr Erlebnis. Sie erzählten es stockend und grinsend, sie schüttelten vor einander den Kopf, als wollten sie es nicht verstehen. Der Dieb, der inzwischen wohl allerhand Reden in Versammlungen angehört hatte, meinte: eigentlich müßte allen Menschen geholfen werden, und das habe der Herr nun noch nicht zustande gebracht. Auch der zweite war der Ansicht, alle anderen müßten mit dem Herrn sogar sehr unzufrieden sein, und der dritte wunderte sich nicht weniger, warum es gerade ihn getroffen habe. Der erste setzte hinzu, die Gesellschaft, sozusagen der Staat, müsse den Herrn überhaupt ablehnen, so wie einen gefährlichen Narren, aber die beiden anderen fanden, 128 das sei nicht ihre Sache. Sie schwiegen eine Weile ganz still, bis einer scherzhaft bemerkte: ein Engel sei bei ihnen durch den Raum gegangen. Dann sagte der Sittlichkeitsverbrecher mit anerkennendem Nicken und geheimnisvoller Betonung, daß er sich jedenfalls einen solchen Dienst nicht umsonst erweisen lasse. Auch der Dieb äußerte sich in dem Sinne, sie würden den unbekannten Verstorbenen in Ehren halten, und dieser soll sich nicht vergeblich für sie bemüht haben. Sie erhoben sich rings um ihren Küchentisch, und hörten stehend noch die Bestellung an, die der Mörder ihnen wortgetreu überbrachte: Michael Bolm habe ihre Strafe übernommen, weil er hoffe, sie würden nun gute Menschen werden.

 


 


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