Alfred Wolfenstein
Die gefährlichen Engel
Alfred Wolfenstein

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In Bewegung

Georg lief auf der Waldstraße zum Bahnhof, er keuchte mit dem noch ziemlich fernen Zischen des Zuges um die Wette. Aus dem Walde aber kam im gleichen Tempo ein Mädchen, sie bog zu ihm ein und lief wie im Geleise neben ihm mit. Er sah sie in der Eile an und bezwang unwillkürlich seinen heftigen Atem, da sie so unhörbar hinglitt und ihn gleichfalls ansah. Jetzt sausten sie durch einen Hain von Birken; sie selbst waren weiß angezogen. In seinem Augenwinkel erschienen die Füße des Mädchens, die im weiten Schwung der Schenkel kaum den Boden berührten. Sie lächelte, denn sie liefen genau in gleicher Front, aber er runzelte die Stirn und dachte: Warum eile ich den Ausflug zu Ende? jetzt könnte er schön werden! Er sah ihre Hände, leicht geballt neben den kleinen gespitzten Kuppeln des Busens. Der Wind drückte den Pullover an, wie das klassische Gewand der fliegenden Nike. Auch ihre Knie entblößten sich wie zwei bewegte Brüste unter dem wehenden Rock. Dabei lief sie mit ruhigem Oberkörper und mit schulgerecht gebogenem Nacken, während Georg durch die drohende Abfahrt des Zuges aus der Fassung geriet. Sollte er nicht lieber langsamer laufen und den Zug abfahren lassen, aber in schönerer Haltung? Er verlangsamte den Schritt zur Probe – dann holte er sie wieder ein. Ich verstehe Sie, junges Mädchen, es ist auch für Sie der letzte Zug! Der Schlag ihrer vier Sohlen auf der guten Straße und der lautlose Schatten 92 seines großen und ihres zierlichen Körpers fielen wieder zusammen. Auch dieses kurze eilige Beisammensein mit einer Unbekannten war schön. Sie liefen über den Vorplatz der kleinen roten Station, durch die Tür, den Schalterraum, die Sperre. Aber der Bahnsteig war noch lang: vorbei an dem bunten Büffet, an Zeitungen und Ansichtskarten, an den Toiletten und dem kleinen Waschspringbrunnen, vom Abend gerötet. Da ertönte das Signal. Der letzte Wagen mußte noch zu holen sein. Den Schritt verdoppeln, mit einem Schrei! Aber wie entmutigt durch das Signal ließ sie nach, und wie von einer innerlich anziehenden Bremse gehemmt blieb er noch mehr als sie zurück, und wie in einem Anfall von Angst fegte sie noch einmal in großer Form voran und gab wieder nach, und wie in einer allerletzten Zuckung griffen sie zusammen weit aus. Doch die Wagen rollten schon, und die Läufer standen.

Es wäre sinnlos gewesen, jetzt auch nur eine Sekunde lang stumm und fremd zu bleiben. Sie hatten das gemeinsame Unglück zu tragen, daß sie nun im Dorfe übernachten mußten. Atemlos gingen sie hin, ins Gasthaus. Sie stiegen hinter der dicken Wirtin die schmale Treppe hinauf und mieteten die beiden einzigen Stuben für die Nacht. Dann hörten sie einander, als sie sich in den kleinen Blechbecken wuschen, trafen sich vor den Türen, sprangen die Stufen hinunter zum Essen. Um sich in der erregten Stimmung des unfreiwilligen Aufenthaltes zu trösten, sprachen sie sogleich sehr viel. Georg hatte den Ausflug allein gemacht, hinweg von den vielen Leuten in Hörsaal und in den Gesellschaften, – und Agnes, hinweg vom Betrieb der riesigen Dampf-Wäscherei und des Arbeiterturnvereins. Jetzt wartete allerdings ihre Schlafkameradin auf sie, und auf ihn die Eltern. Aber es verstärkt nur das Gefühl der 93 Zusammengehörigkeit im Freien, wenn andere uns daheim erwarten.

Sie gingen in den unendlich frischen Sternenhimmel hinaus. Georg dachte zwar, in den engen Stuben sei die Freiheit noch größer. Aber eine Scheu trieb sie, sie flohen voreinander – wohin? Würden sie der Köstlichkeit dieser Nacht entrinnen, da keine Eisenbahn mehr zurückging? Sie folgten den Bäumen in den Wald. Die Bogenlampen des Firmaments gaben der weichen unbestimmten Straße nur ein fernes Licht. Da half ein gemeinsamer, desto festerer Schritt vorwärts, auch wenn man das Ziel nicht kannte, denn dieser Weg führte zu keiner menschlichen Siedlung, während doch ein doppeltes Zuhause hinter ihnen lag. Sie waren verwirrt, und nur das eine wurde ihnen erst jetzt klar, daß sie sich in eine spannende Lage gebracht hatten und wenig Rüstzeug zu ihrer Lösung mitbrachten. Auch die Jugend, dachte Georg, hat es schwer, die Welt ist wohl für die Älteren eingerichtet. Trotz der herrlich reinen Luft regte sich ihr Gewissen: Die Wahrheit war doch, daß sie den Zug zuletzt mit Absicht versäumt hatten. Ihre pflichtgetreu eilenden Füße waren einer ziehenden Sehnsucht unterlegen. Und morgen würden sie beide nicht zur Arbeit erscheinen.

Unter dem Stachel ihrer Gedanken begannen sie zu laufen, als sei noch irgend etwas einzuholen. In der Finsternis flog die Angst mit blinden Fledermausschwingen mit. Aber je länger sie liefen, wurde ihnen leichter, als hätten sie selbst Flügel und höben sich allmählich vom Boden, wie Aeroplane oder Engel. Sie waren hier nicht allein, das hätten sie noch nicht ertragen. Im Walde war alles versammelt, was abenteuerliche Augen verlangen können. Sie schwebten über funkelnden Glühwürmchen hin, die so groß waren, als spiegelten sich 94 Sterne im Wasser. Ein riesiger Eber lag mit stachlig gewölbtem Rücken da, aber sie wagten sich vorbei, es konnte auch ein Wacholderstrauch sein. Um eine silberne Buche wand sich eine schwellende schillernde Riesenschlange, doch die dicke Efeuranke tat ihnen nichts zuleide, obwohl Georg Agnes gegen jeden Drachen verteidigt hätte. Durch das letzte leise Piepen einer Meise und den Katzenschrei des Käuzchens klang ein fernes Schnarchen, von den Tigern im Dschungel oder von Fröschen. Äste krachten unter dem Tritt der Elefanten, denn jeder Laut wurde in dieser Stille ungeheuer. Das Brausen eines großen Schwarms unbekannter Insekten schwebte irgendwo, wie summende Telegrafendrähte. Vor einem Paar brennender Augen in den Zweigen unter dem Sternbild des Orion hielten sie an. Der Schlag ihrer Herzen war so gleichmäßig schnell und stark, daß sie nicht unterscheiden konnten, ob sie nicht das des andern hörten. Dann sahen sie sich an und fanden ihre Augen brennend wie die Pupillen der Eule über ihnen.

Plötzlich ausgelassen, um ihrer Angst zu entkommen, rannten sie auf zwei dicht neben einander stehende Bäume zu und kletterten an dem zweigreichen Stamm hinauf. Sie sangen dabei, daß es schallte, Agnes sang oben ein Dienstmädchenlied: »Mariechen saß im Garten, Den Liebsten zu erwarten – Könne dies, könne das nicht möglich sein, Es käm der Kaiser zu mir herein? Da kam der Kaiser gefahren, Mit hunderttausend Wagen – Könne dies, könne das nicht möglich sein, Mariechen ließe sich von ihm frein?« Georg sah im Aufschwung einen Hirsch mächtig wie ein Nashorn durch das Gebüsch unten brausen. Aber die schwankenden Wipfel, die sie erreicht hatten, standen weit auseinander. Sie konnten im Sternenlicht ihre Gesichter nicht mehr erkennen und wiegten sich, zur Annäherung. Die Wipfel waren keine Trapeze, sie 95 schwangen nur so weit aus, wie die Wurzeln es zuließen. Da wurden Georg und Agnes, zwischen den Blättern hausend, von einer fast zornigen Sehnsucht gepackt. Sie kletterten hinab zur Erde, – und unten standen sie wieder mit scheuen Armen voreinander.

Langsam gingen sie zurück. Sie krochen wie Raupen und waren gar nicht im Takt. Da sie aber wußten, daß Agnes im Gasthaus bestimmt die Tür verschließen würde, wenn es dem Wald nicht vorher gelänge, sie mutiger zu machen, so streiften sich ihre Hände und Hüften, ihre Schultern und Wangen streichelten sich, ihr Blut bebte, sie blieben stehen, und Agnes' Mund erwartete den Mund Georgs – aber sie küßten sich noch immer nicht –

Da schlug ein Stück Holz auf Georgs Kopf. Er stürzte hin. Schleimige Lippen schoben sich statt der seinen auf die Lippen des Mädchens. Übel riechender Atem pustete über ihr Gesicht hin. Mörderische Arme preßten ihren Leib an den eines Mannes. Ungeschlachte Beine umklammerten ihre Knie. Sie schrie. Mit der Glätte ihres schlanken Körpers entwand sie sich dem Vergewaltiger und floh. Sie jagte wie ein Tier durch den Wald, hinter sich hörte sie den stampfenden Verfolger, seine bärenhaften Arme streckten sich immer näher, aber hinter ihm hörte sie noch leichte Tritte, im gleichen Tempo wie die ihren. Als der Kerl sie erreichte, schmetterte ein Stück Holz auf ihn herab und er stürzte.

Erlöst – durch einen dumpfen Überfall zur Liebe erlöst – liefen Georg und Agnes aus dem Wald, in das Haus, die Treppe hinauf, durch eine der Türen in eine ihrer Stuben zu einem Lager. 96

 


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