Alfred Wolfenstein
Die gefährlichen Engel
Alfred Wolfenstein

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Baum vor dem Hause

Das Haus stand am Rande der Stadt, von den anderen ein wenig getrennt, und die vier Parteien, die es bewohnten, lebten in paradiesischem Frieden. Es gehörte keinem von ihnen; sie kannten den Eigentümer nicht, der irgendwo in der Ferne weilte; aber sie verwalteten und betreuten es wie ihre eigene Villa, innerhalb deren es keine trennenden Grenzen gab. Niemals wurden die Türen der Wohnungen abgeschlossen, niemals wurden sie auch nur zu laut zugemacht. Man bildete eine einzige Familie und hielt das Haus wie ein gemeinsames Kind. Keine fremde Aufwartefrau wurde zugelassen; eine innere heilige Ordnung sorgte dafür, daß die unterste Treppenstufe ebenso schön wie die oberste aussah. Die Damen kümmerten sich um die Sauberkeit, die Herren um die Reparaturen und um alles, was Kraft erforderte.

An einem Sonntagnachmittag saßen sie im ersten Stock bei Herrn und Frau Eisenbahnassistent Schmidt um den Kaffeetisch. Fräulein Lissy, die Stenotypistin von nebenan, und Frau Privatiere Langerhans aus dem Erdgeschoß hatten nur wenige Stücke vom Kuchen übrig gelassen, die zuletzt von der gemütlichen Wirtin aufgegessen wurden. Ihr Mann rauchte die Pfeife, mit so kurzen starken Stößen, als sei er eine seiner Lokomotiven, während Herr Kinokassierer Schulter sanfte Ringe einer Kette von Zigaretten aus dem gerundeten Munde blies. 82

Man plauderte von den wachsenden Schwierigkeiten und Zwistigkeiten dieser Zeit, aber so ruhig, wie die Südseeinsulaner von einem fernen Kriege in Europa. Die häusliche Zuflucht, die Geborgenheit, die ihnen stets hinter dem Rücken des rohen Lebens winkte, war die Ursache einer solchen fast engelhaft zu nennenden Verträglichkeit. Es war auch kein Zweifel daran erlaubt, daß sie sich draußen genau ebenso verhielten. Zwar kannten sie einander nur aus dem Umgang im Hause; aber wäre der Herr Assistent von ihnen im Berufe beobachtet worden, so hätten sie gewiß einen Beamten von freundlichstem Charakter gefunden, der Kinokassierer und die Stenotypistin hätten sich auch bei ihrer Arbeit als seelenvollste Menschen erwiesen, und die Privatiere blieb wohl immer geduldig, auch wenn sie sich wegen ihrer monatlichen Rente mehrmals zur Bank bemühen mußte.

Immer an solchen Sonntagen gelangte die Unterhaltung zu einem Punkte, der ihre Harmonie irgendwie mit unmittelbarster Lebensnähe ausdrückte. So sagte jetzt die Wirtin: »Wir müssen unsere Villa bald neu verputzen und anstreichen lassen, vielleicht in Blau.« »Ob nicht Rot noch schöner wäre, die Modefarbe in der Kleidung? der Anstrich ist das Kleid des Hauses«, meinte Fräulein Lissy. »Das wäre mir genau so recht«, antwortete die erste. »Aber Blau wäre auch schön«, opferte sich sofort die zweite. Und alle lachten, als der Kinokassierer blaue und rote Streifen vorschlug.

Während sie vor sich hinträumten, sagte Frau Privatiere Langerhans plötzlich: »Wenn nur der Baum nicht wäre.« »Wieso?« fragte jemand. »Der Baum vor unserm Hause. Er macht mein Zimmer so dunkel.«

Nach einem kurzen Schweigen, während dessen der Kassierer mit gerunzelter Stirn herumsah, erwiderte Fräulein 83 Lissy: »Aber die Vögel singen doch so schön in den Zweigen! Frau Langerhans, müßten Sie den ganzen Tag das Maschinengeklapper hören, dann würden Sie sich auch auf das süße Zwitschern und Zirpen freuen!« »Ich bin nicht musikalisch«, versetzte die Privatiere etwas beleidigt. »Sie sollten auch an meine Sehkraft denken, die ich mir durch den finsteren Baum vollständig verderbe.« Der Kassierer strich ein Zündholz mit buntem Kopf an der Schuhsohle an: »Ihr Augenlicht in Ehren, aber die Lunge will auch ihre Rechte. Stundenlang sitze ich in der schlechten Luft meines Kassenkäfigs, vor mir ein Gedränge von Gesichtern, die mir ihren verschiedenen Atem durch das Schalterloch hereinpusten. Der Duft unserer alten Ulme, das ist noch etwas anderes als unsere wohlriechenden Spritzen im Kino. Einen ganzen Waldgeruch habe ich hier, wenn ich mich einfach aus dem Fenster lehne.«

Frau Langerhans wies eine Orange zurück, die ihr die Wirtin in diesem Augenblick anbot. Der Eisenbahnassistent kam ihr zu Hilfe, in der geziemenden Form des Gastgebers für alle, jedoch mit mächtigem Nachdruck: »Auch ich möchte tatsächlich mit meinen Bedenken gegen den Baum nicht länger zurückhalten. Eine Ulme oder Rüster ist immer eine dunkle Sache, die Blätter sitzen dicht, und hier erstrecken sich die Hauptäste nahe ans Haus.« »Jawohl, in der Nacht denke ich manchmal, es stiere ein Einbrecher zu mir herein.« »Ich verstehe Sie, Frau Langerhans«, sagte Fräulein Lissy, »aber die Vögel sind doch ein Ohrenschmaus!« »Mich stören sie«, fuhr der Assistent fort, »und vor allem dies dauernde Brausen und Sausen in dem Baum. Nach dem Zischen meiner Lokomotiven, den Signalen, dem Bimmeln, Morseticken, Räderrollen im Dienst will ich hier nichts mehr rauschen hören.« »Und wie können Sie als Stenotypistin so sentimental sein«, fügte 84 die Privatiere hinzu. Aber der Kinokassierer erhob sich: »Fräulein Lissy ist eine Idealistin und hat Sinn für den Wohllaut der Natur.« Leider schien diese Bemerkung und Haltung des Herrn Schulter zu einer Antwort der Mannhaftigkeit herauszufordern. Herr Eisenbahnassistent Schmidt stand gleichfalls auf und fragte: »Erachten Sie uns etwa für Materialisten?« Herr Schulter sagte: »Ich kenne Sie vielleicht nicht genug.«

Ein Riß ging durch den Raum. Alle waren aufgestanden, sie sprachen wirr durcheinander, und die Stimmen schwollen unaufhaltsam an, bis zu einem nicht für möglich gehaltenen Wutschrei des Eisenbahnassistenten, der auf den Tisch hieb: »Meine Ruhe will ich haben, wenn ich heimkomme! Der Baum muß weg!« Das Gesicht des Kassierers wurde ernst und bleich wie das eines Filmhelden in Großaufnahme, er sagte tönend: »Der Baum bleibt. Ich schütze ihn.«

Sogleich brach er auf, und die Stenotypistin ging mit ihm hinunter, da sie die Einsamkeit ihres nebenan gelegenen Zimmers fürchtete. In seinem Erdgeschoß angelangt schritt er mit gekreuzten Armen hin und her, während sie durchs Fenster in die üppigen Zweige blickte, in denen die Drossel flötete. Aber durch die Decke drang ein fürchterliches Stampfen und Schimpfen herab. Sie sahen sich an. Was war das für ein Unheil, das mit einem Male über ihr glückliches Haus gekommen war? Das Mädchen brach in Tränen aus, sodaß Herr Schulter ihr beruhigend über das Haar streichen mußte. Von oben hörten sie das Kreischen der Frau Schmidt, die sich zuvor als Wirtin heimtückisch zurückgehalten hatte: »Der Baum muß weg!« Es klang Herrn Schulter, als meinte sie ihn selbst, den Gegner ihres Mannes. Er bestand darauf, sich zu zeigen und vor das Haus zu gehen. Da der Mond jetzt durch die stillen Zweige leuchtete, willigte das Mädchen ein. Sie setzten sich auf die 85 Bank unter dem Baum. Er legte den Arm um ihren Nacken, und so blickten sie manchmal zärtlich zu dem gestirnten Himmel, manchmal trotzig zu dem erhellten Fenster hinauf, hinter dessen Gardine mehrere starre Augenpaare standen, wie Bajonette eines Heeres.

Als habe das Böse nur auf diesen seinen Tag gewartet, verwandelte sich das Leben in dem Hause von nun an in eine Hölle. Es begann damit, daß Milch und Brot für die anderen fehlte; daß nicht aufgeräumt wurde; daß der Schmutz an allen möglichen Stellen liegen blieb. Denn bisher hatte man wechselweise für einander gesorgt. Das Haus verkam, von den Treppenläufern bis zu den Mülltonnen, vom Gartenzaun bis zu den Bodenräumen. Scherben und Fetzen lagen herum, Rost und Ungeziefer mehrte sich, da keiner das Geringste für den anderen tun wollte. Sie förderten sogar den Zerfall, sie beschädigten Sachen und erstatteten bei der Polizei Anzeige gegen »Unbekannt, im Hause.« Briefe verschwanden aus den Kästen, Frühstücksbeutel wurden mit stinkenden Flüssigkeiten übergossen, die auf dem Hof hängende blütenweiße Wäsche der Stenotypistin mit gelber Farbe beschmiert. Auch unter sich waren die Parteien nicht mehr glücklich, der Assistent trank, der Kassierer glitt am Rande der Nikotinvergiftung hin. Frau Langerhans ging aus Abscheu gegen ihn und ihrer Augen wegen in keinen Film mehr. Als Herr Schmidt im Erdgeschoß Mauerfäule entdeckte, sagte er niemandem davon ein Wort; er war an diesem Tage besonders verdrossen, da seine Angetrunkenheit beinahe einen Eisenbahnzusammenstoß verschuldet hatte. Die Frauen bekamen so fahle und böse Gesichter, daß in den Läden ein Schweigen entstand, wenn jemand aus dem Hause einkaufte.

Dieses Zusammensein unter einem Dache war nicht lange zu ertragen. Sie wußten kaum noch, wie sie bei Begegnungen 86 auf der Treppe, im Flur, in der Tür aneinander vorbeikommen sollten, ohne ihren Haß in einem Schlag, in einem Stoß zu entladen. Vielleicht redeten sie sich noch ein, sie meinten den Baum, während sie schon längst die Menschen meinten. Immerhin bot sich der Baum zunächst schutzloser dar. Die Privatiere ging mit dem ersten Anschlag gegen ihn voran. Es gelang ihr, dem Stamm eine Flüssigkeit einzuspritzen, Gift aus den Exkrementen von Pflanzenschädlingen, woran er rasch eingehen sollte. Sie mußte die Angaben des botanischen Buches nicht richtig verstanden haben, denn die Ulme veränderte sich nicht, und in ihrem Laub jubelten die Vögel über den Winkel hinweg, in dem die Frau saß, um die Wirkung ihrer Tat zu beobachten. Inzwischen hatte der Eisenbahnassistent eine große Säge gekauft, da die im Hause gehaltene verschwunden war. Er wartete auf eine lichtlose Nacht, und als ein Gewitter heranzog, dessen Donner jedes sägende Geräusch übertönen mußte, schlich er zu dem Baum hinaus. Aber ein furchtbares Bellen übertönte den Donner, mit fletschendem Gebiß stellte sich ihm eine Dogge entgegen, an den Baum gekettet. Zähneknirschend stand Schmidt in der Länge der Kette dem Tier gegenüber, und als er sich endlich zum Gehen wandte, fühlte er im Hause das höhnische Gesicht Schulters seinen Rückzug belauern. Frau Schmidt empfing ihn oben in etwas verächtlicher Erregung, zumal da sie soeben festgestellt hatte, daß die Stenotypistin, völlig verwildert, dem ganzen Vorgang wie einem Film vom Bett des Kassierers aus beigewohnt hatte. Von der Privatiere angestachelt, deren Augenlicht nach ihren Wahrnehmungen täglich abnahm, ließ sich Schmidt nun zu dem letzten bösen Plan bestimmen.

In der nächsten Nacht erwachte die Gegend von dem rasenden Heulen des Hundes. Der Baum brannte. Feuerwehrwagen 87 sausten in Minuten heran. Aber die Flammen hatten inzwischen an einem ins Fenster ragenden Ast entlang die wehenden Gardinen und die Möbel des Zimmers ergriffen. Kaum bekleidet hatten sich Schulter und Lissy gerettet. Draußen liefen sie, während die knatternde Glut sich über das ganze Haus ausdehnte, zu der andern Gruppe hinüber, Herrn und Frau Schmidt und Frau Langerhans, die jetzt gleichfalls fassungslos in den feurigen Untergang starrten. Eine entsetzliche Schlägerei hob auf der Wiese an. Die beiden Herren hieben wie die Teufel aufeinander los, die Frauen schrien und stießen in wahnsinniger Wut um sich, sodaß auch die Privatiere von der Hand ihrer Eisenbahnassistentin einen tiefen Riß über die Wange erhielt. Sie bluteten und taumelten schon alle durcheinander, als ein Feuerwehrmann die tobenden Leute mit einem Wasserstrahl überschüttete. Unter Beschimpfungen und Verwünschungen stoben sie davon und verschwanden.

Das Haus brannte nieder. An der Ulme war das Feuer schon während der Schlacht auf der Wiese erloschen. Nur ihre dem Hause zugewandte Seite war mit Petroleum übergossen worden, auf der anderen besiegten ihre frischen Säfte die Flammen. In herrlicher Größe, unwandelbaren Charakters, stand der Baum. Die reinen Blätter leuchteten, sie rauschten wie tiefe Musik, die Vögel sangen auf den tanzenden Zweigen. Unbefangen wie ein Gott stand sie hoch aufgerichtet über der Brandstätte der Menschen. 88

 


 << zurück weiter >>