Alfred Wolfenstein
Die gefährlichen Engel
Alfred Wolfenstein

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Die Briefe

Die junge Jane Grey kannte ihren Vater nicht persönlich, aber alljährlich erhielt sie von ihm zum Geburtstag einen schönen Brief, der wie vom Himmel herabfiel. Er kam von der fernen und sicherlich wundersamen Insel Rongerik.

Briefe sind ein geringer Ersatz für den nahen vertraulichen Umgang, sie sind Prüfungen der Geduld. Ganz besonders wunderte sie sich, daß die Briefe ihres Vaters im Grunde niemals auf die ihren eingingen. Es waren keine Antworten, sie paßten zu ihren Fragen ungefähr wie ein Schuh auf einen Kopf. Doch anerkennend besah sie jedesmal die fremde Marke, stolz auf einen Vater, der eine Südseeinsel bewohnte. Er mußte ein guter Mensch sein, wenn er auch niemals ein Geschenk mitsandte. Herzlich gratulierte er nur, und er denke stets an seine liebe Kleine, als ihr getreulicher Vater. Einmal erzählte er von seinen Perlenfischergeschäften. Es gäbe auf Rongerik für einen Amerikaner allerhand zu tun. Eine Perle lag leider nicht bei. Jane aber wäre am liebsten sogleich hingefahren. Sie erwiderte, sie höre sehr gern, daß ihr Papa in der Fremde so tüchtig vorankomme. Das Leben sei doch viel wichtiger als alles andere, nämlich als die Schule, und seine leibhaftige Insel sei gewiß schöner als Geographie und Geschichte.

Ein volles Jahr mußte sie sich gedulden, um dann in seinem nächsten Geburtstagsbrief zu lesen: ob sie auch so gern, wie er in seiner Jugend, in die Schule gehe; ob sie auch so gut lerne; 10 ein richtig bestandenes Examen sei immer sehr nützlich. Übrigens habe er das Haus eines verstorbenen Eingeborenenhäuptlings erworben und errichte dort eine Faktorei.

Jane aber schätzte das Geschäftsleben gar nicht, zu dem sie auch die Schule rechnete. Achtzehn Jahre war sie alt und geriet in eine Gesellschaft, die sich »Die gefährlichen Engel« nannte. Diese Runde von ernsten, heiteren, abenteuerlichen, mörderischen und hilfreichen Leuten behauptete, man müsse die Menschen als gefallene Engel ansehen, als eigentlich gute, aber gefährlich gewordene Wesen. Die gefährlichen Engel, das sei nur ein anderer Name für die heutigen Menschen überhaupt. Vielleicht lag es an der engen großen Stadt, daß manche den Ursprung vom Himmel gar nicht mehr offenbarten und in ihrer Gefährlichkeit bis in die Nähe der Teufel gelangten. Jane jedenfalls freundete sich mit einem Manne Prosper an, dessen Augen strahlten, dessen Bewegungen so leicht waren, daß man die Flügel an seinem Rücken suchte. Und zuweilen meinte sie diese Flügel wirklich zu sehen, aber sie waren vom Leben geschwärzt, und er hatte die Lippen von Blumen und die Zähne von Wölfen. Es war zu befürchten, daß er einmal auf dem elektrischen Stuhl enden könnte.

Mit Jane kam es durch solchen Umgang dahin, daß sie aus dem College hinausgeworfen wurde. Verzweifelt und doch vertrauensvoll wandte sie sich an den Vater und bat um telegrafisches Geld. Denn sie erwartete ein Kind. Gerade an ihrem Geburtstage kam es zur Welt. Am selben Abend legte man ihr wieder einen Brief aufs Bett, voll allgemeiner herzlicher Wünsche wie immer, zumal für ihre Gesundheit. Sie zerriß ihn weinend, fast wahnsinnig vor Enttäuschung, da ihr Vater sie ebenso gleichgültig wie ihr Geliebter im Entbindungsheim letzter Klasse liegen ließ. 11

Dann kam eine noch schlimmere Zeit, im dreiunddreißigsten Stock einer Wolkenkratzerversicherungsgesellschaft. Ein Jahr lang hämmerte sie dort oben von früh bis spät auf die Tasten der Schreibmaschine. Aber als wieder ein freundlicher Geburtstagsbrief die blaue Insel beschrieb, so als sei der Vater dort wie im Himmel –: kündigte sie und fuhr mit ihrem Kinde quer durch die Staaten und über den Pazifik hin.

Im Hafen, am Palmenufer von Rongerik stand trotz ihres Telegramms niemand, der dem Bilde ihres Vaters ähnelte. Erschrocken suchte sie die Behörde auf. Da lagen alle ihre Antworten an den Vater uneröffnet. In den Fächern aber ruhten noch viele Briefe von ihm an sie, in denen alle möglichen neuen Mitteilungen nebst herzlichen Glückwünschen geschrieben standen. Und der Richter der Insel sagte ihr:

Als seiner Zeit eine Mrs. Snyder im Osten ermordet worden war, hatte man Ted Grey dieser Tat für schuldig befunden. Das war Janes Vater. Bevor er den Henkerstuhl bestieg, verfaßte er eine Reihe liebevoller Schreiben an sein Töchterchen, und man bewilligte ihm den letzten Wunsch: Sie sollte kein amtliches Schriftstück über seinen Tod erhalten, dafür je einen seiner schönen Briefe, die genau zu allen ihren Geburtstagen an sie zu senden seien. Und danach starb er im elektrischen Strom.

Viele Wochen lang lag Jane krank im Hause des Richters. Dann kehrte sie nicht in das Land der zivilisierten Engel zurück. Sie lebte mit ihrem Kinde auf der paradiesischen Insel, auf die sie die Briefe des hingerichteten Vaters zu ihrem Glück gelockt hatten. 12

 


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