Alfred Wolfenstein
Die gefährlichen Engel
Alfred Wolfenstein

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Die Mutter

Über den besonnten Friedhof kroch der lange Trauerzug wie eine schwarze Riesenraupe. Im gleichen ruhigen Schritt wie alle anderen ging der Sohn der Toten hinter dem Sarge.

Wenn er einmal unwillkürlich stehen blieb, sodaß seine Stirn beinahe gegen die strahlende Holzkante vor ihm stieß, legte sich eine Hand beschwichtigend auf seine Schulter. Es war ein leichter Frühlingstag, und die Leute hinter ihm, deren Füße durch den Sand knirschten, kamen allmählich auf dem Wege zum Grabe wieder in Unterhaltung miteinander.

Wäre ich erst mit dir allein, Mutter, dachte der junge Mensch. Ich schäme mich, hier in Reih und Glied zu gehen. Das schmerzt nicht genug. Ich höre dich in deinem Kasten nach mir schreien, und in meinem Herzen schreit es nach dir. Du bist gestorben, aber der Schmerz um dich lebt und verläßt mich nicht und zieht mich an sich. Ich komme –

Da war es ihm, als ob er durch das friedlich flüsternde Gespräch der Trauergäste, durch den Gesang der Vögel und durch die Musik der aus der Kapelle näselnden Orgel eine Stimme hörte: – Und doch, mein Sohn, gehst du mit ihnen, mit den Lebenden, und so muß es sein –

Nein, Mutter, ich bin kein Verräter. Fühle nur meine so furchtbar bedrückte Brust – 113

Ich sehe deine Brust wie eine blühende Wiese, hier aber liegt ein graues Schneefeld, dir schon ganz unähnlich, und du mußt mich vergessen – Nein, Mutter, ich liebe alles Vergangene, in dir, es war so schön, und wenn es vorbei sein soll, will ich nicht mehr leben –

Du mußt vorwärts sehen, nicht in deinen Schmerz zurück –

Er ist nicht groß genug, großer Schmerz kann nicht so erträglich groß sein. O mache diese Glieder, die dir entstammen, vor Schmerz gefrieren, mit dem Rechte deines Todes –

Beruhige dich. Es ist richtig und gut, daß die Mutter vor dem Sohn stirbt –

Nein, Mutter, ich kann nicht ohne dich sein, und selbst diese Ordnung zwischen Jugend und Alter will ich durchbrechen. Es sterben ja auf der östlichen Erde auch junge Frauen dem Geliebten sogleich nach –

Du sollst mit den Lebenden gehen –

Er sah sich um. Er sah den Schwall von halb traurigen, halb lächelnden Mündern, neugierig herumschweifenden Augen, geschäftlich zum Nachbarn geneigten Ohren. Da hob er die Hand – und die Erde öffnete sich zu einem Massengrab und er packte sie alle in wilder Abneigung, diese Fremden, und schlachtete sie, der Mutter zu Ehren, und schleuderte sie hinab. Nur aus Todesangst blickten sie ihn wohl noch so menschlich verbunden an, aber er hatte nichts mit diesen Fremden zu tun. Der Boden verschluckte sie im Nu, sie ergaben nicht einmal einen Hügel, so rasch vergaß er sie. Und er stieß auch alles hinab, was er sonst geliebt hatte, die Erinnerungen an Spiele, Bücher, Tänze, Wanderungen, die suchenden Dämmerungen der Jugend, die Freundschaften und die ersten Zärtlichkeiten mit dem geliebten Mädchen – er tötete alles, der Mutter zu Ehren. Hinab stürzte in das große Loch das liebe Haus der 114 Kindheit, das mit ihrem Tode in Staub zerfiel, wie all die innigen Gespräche auf bunten Stühlen, der Gesang des Flügels, das Grün des Gartens, die Springbrunnen und die Treppen, die nicht mehr stiegen, die Wege, die nun sinnlos abbrachen – Mutter, die ganze Welt opfere ich dir –

Georg stand still, aber er stand inmitten der anderen, die waren alle noch da. Nur ein einziger Sarg wie ein abgeschossener schwarzer Vogel sank von den Achseln und roten Backen der Träger zu Boden. Der Boden öffnete sich, nur für diesen Sarg, der weiter hinabsank und verschwand. Alle anderen blieben oben am Rande stehen. In einem dicken Kranz ordneten sie sich um die eckige Gruft, irgendwelche Worte begannen zu rascheln, wie trockene oder metallene Blumen. Dann schwebte ein Spaten auf ihn zu und bot ihm Erde. Ein Fuß trat ungeduldig gegen den seinen, weil seine Hand nicht zugriff. Hinabkollernde Schollen paukten ihre Schlußmusik, die Schaufeln begannen zu graben, sie klatschten, sie wölbten einen Hügel. Ein vielfüßiges Trappeln zog um ihn herum und über Bretter und Sand in die Ferne. Nur noch ein leises Heulen, wie von einer Herde geretteter Opfertiere, lief den roten Horizont entlang.

Er war allein. Dicht vor ihm machte die Erde einen harten kleinen Buckel. Das war alles, was geblieben war. Der kalte Geruch von Tulpen kam daher, durchflogen von Bienen und Schmetterlingen. Er horchte. Er nickte hinüber: ich bleibe!

Jetzt näherte sich der Gärtner, mit qualmender Pfeife, sein Schlauch folgte ihm wie eine behaglich wasserspeiende Schlange. Georg zog sich unter die dunklen Bäume des älteren Friedhofs zurück. Nebelhafte Flügel der Dämmerung strichen schon umher. Über die gekrümmten Steine, über die verwischten Gräber krochen hier zerfressene Efeuranken, 115 mit großen harten Spinnweben. Struppig sank der Friedhof in flache graue Beete zusammen; es war, als lägen hier nur alte Zwerge in der Erde.

An einen Baum gelehnt wartete er. Er merkte sich an einem Licht die Richtung zum Grabe zurück. Rings um die Mauern schlugen die Uhren. Dort draußen setzte man sich jetzt um die Tische und aß und schlief. Er verstand es nicht mehr. Für ihn schlugen in den unterirdischen Gehäusen die Uhren der Ewigkeit –

Und vor seinen wartenden Sinnen erbebte die Erde, daß die Blumen und Kränze emporschnellten und durch die Luft niederregneten, auf sein Haar. Und dort drüben, in einem steinernen Stuhl gleich einem Grabmal mit golden beschriebener Lehne, sah er die Mutter auf ihrem Hügel sitzen, wie eine schöne Göttin. Durch die geschlossenen Augen blickte sie ihn lächelnd an. Die Brauen und Lippen hoben sich in teuflisch schönen Bogen. Wie große verführerische Irrlichter zuckten durch ihr Haupt die Feuer einer anderen Welt. Und ihre zahllosen Arme, göttlich gefaltet auf den Schenkeln, verschränkt über den Brüsten, streckten sich langsam aus und umschlangen ihn aus der Ferne. Und sie sprach mit Harfenton: Komm –

Aber im gleichen Augenblick erlosch das Blendwerk, und eine milde schlanke Frau saß dort, auf einem friedlichen Schaukelstuhl sich wiegend, im warmen Zimmer, in das die ersten Sterne hereinschienen. Und sie flüsterte liebevoll: Liebe mich doch nicht allzusehr, mein Junge, denn einmal werde ich nicht mehr sein – Und er, den Kopf in ihrem Schoß, richtete sich auf und antwortete laut wie ein Held: Wenn du stirbst, dann erschieße ich mich! Abwehrend drückte sie seine Hand, von einem zärtlichen und auch ein wenig spöttischen Lächeln erglänzten ihre guten grauen Augen – 116

Plötzlich ertönte von unten ein metallenes Scharren. Es war das Friedhofstor, das man schloß. Er richtete sich auf, zog den Revolver aus der Tasche und ging. Das Licht, das er sich gemerkt hatte, zeigte ihm den Weg nach dem Grabe. Ein seltsam heißer Nachtwind umstrich ihn, voll bittersüßer Dämpfe aus den unterirdischen Flüssen des Todes. Er fühlte in der schwellenden Nacht die toten Brüste der Gräber sich nähern. Die Blätter der Bäume darüber zuckten wie Augenlider, schwer vom geheimnisvollen Saft aus diesem Acker. Und er sagte es sich vor im Gehen: Hier dicht beieinander zu wurzeln, wo keiner den andern mehr verläßt, nur im Wind sich zu rühren, ohne die nichtigen Bewegungen des eigenen Willens, nicht mehr von neuem lieben zu müssen, nicht mehr so viele Andere im langen Leben lieben zu müssen, mit neuer treuloser Gewöhnung, – Mutter bei dir zu sein –

Er war dem Grabe schon nahe, als er auf irgendeinem weichen Tier ausglitt und hinfiel. Er sprang sogleich wieder auf. Das Licht war verschwunden. Er drehte sich rundum, im Dunkeln, begann zu tasten, traf überall Öffnungen, kleine, unbekannte Wege. Dicke Wolken ruhten auf dem Himmel, er konnte die Richtung nicht finden. Mit aller Gewalt bezwang er seine Aufregung und suchte langsam durch die Nacht vor sich hin.

In seine ausgestreckten Hände legten sich hunderte von Steinen, Säulen, Figuren, Tafeln, Schalen. Er durchwanderte verzweifelt die niedrige Stadt der Toten, aber eines fand er nicht, ein Grab ohne Stein. In sinnloser Menge kreuzten sich die Straßen, und eine jede, kaum betreten und wieder aufgegeben, verwirrte ihn bis ins Innerste. Ihm war, als sei dieser Friedhof, auf dem er verzweifelt herumsuchte, groß wie die ganze Erde. Gebückt, niederhockend, endlich kriechend, um 117 gar nichts zu übersehen, durch Gras, Lehm und Schlamm, fühlte er das zähe Dickicht nur immer wachsen. Schmerzhaft prägte es sich seinen Händen mit Kieseln und Stacheln ein, mit dem Rost der Stäbe, mit alten harten Blumen, mit kleinen tückischen Abdrücken des Leichenfeldes. Und dennoch blies der Wind immer wieder in sein Ohr: Suche! Laß diese Nacht für deinen Tod nicht vorbeigehen! Du hast beschlossen, du erschießt dich an ihrem Grabe!

Da stellte er sich mit einem Ruck auf die Zehen und schnellte sich wie ein Wettläufer ab. Kein vorsichtiges Kriechen mehr, er rannte durch die Gräber, von Gesträuch gepeitscht. Er stieß an Wände, an steinerne Luft, und hetzte kopfschüttelnd weiter. Geschosse der Finsternis hagelten ihm entgegen, aus Marmor, Basalt und Eisen. Triefend von Schweiß, blutig durchbohrt von Gitterspitzen, sprang er hoch über Anhöhen oder Löcher oder gespenstische Leere hinweg und überzog den Totenacker mit dem Netz seines tödlichen Suchens.

Unmerklich aber wandelte dieses einsame Suchen unter den Sternen die Verzweiflung seiner jungen Seele. Wie Wind in ein Segel sauste es in seine gespannten Glieder. Durch alle Gelenke rinnend löste die wilde Bewegung unsichtbare Kräfte aus. Ja, über die Wellen des Friedhofs hingerissen schlug das Herz wieder im Takte des Lebens. Fliegend, schaukelnd, kletternd, tanzend schuf sein Leib und sein Geist sich um, er turnte sich in eine neue Freiheit. Mit schwingendem Knie ließ er sich endlich fallen, sank atmend ins Gras. Er streckte sich aus und lag und ruhte.

Er wußte nicht, wie lange er gelegen hatte, als er irgendwo im Grase ein kleines eisernes, aus seiner Hand gefallenes Ding berührte. Da dachte er und flüsterte: Erschieße ich mich? Langsam regten sich seine Finger, wühlten ein kleines Loch in 118 die Erde, legten den Revolver hinein und wölbten es wieder zu wie ein Grab.

Georg drehte sich auf den Rücken. Und er sah auf ins Licht. Aber es war nicht das kleine, im Fallen verlorene Licht seiner Richtung. Es war der Morgen, der kam. Andrängend gegen dieses tote Stück Erde hier, mit fegendem Wehen nahte die Sonne. Er brauchte sich nicht mehr zu rühren, dies geschah ganz von selbst für ihn. Eine Wolke wies mit langem rotem Finger dorthin. Er stand auf, und mit dieser geringen Bewegung wuchs er eine unermeßliche Strecke in den Weltraum, sodaß er am Horizont die Spitze ihrer Flamme sah. Über der Erde wurde es Morgen, und hier an diesem traurigen Ort kam der Morgen für ihn allein.

Dann, ganz nahe, erkannte er das Grab. Langsam ging er hin, zum Grab der Mutter. Er blickte hinab, sein Herz schlug über dem toten Herzen, das bleich wie ein Mond aus schwarzen Gewässern emporschien. Aber auf seinem Nacken glühte nun der Mund der Sonne und nun auf seiner Stirn. Und ihm war, als sei es doch der Kuß der Mutter, die zu ihm sprach: Lebe!

Georg ging. An der Mauer entlang kam er zum Tor. Es war noch geschlossen. Aber ein Sturm blies von außen hindurch.

Er war frei, und mit den aufgehenden eisernen Flügeln wird er zu den Menschen zurückkehren. Er gehörte zu ihnen, die er gestern in verächtlicher Abwehr aller Lebenden der toten Mutter hatte opfern wollen. Nun flatterte ihm aus der menschlichen Menge eine neue Ahnung zu, wie eine vorauswehende Fahne der Gemeinschaft. Sie befreite ihn von dem allzunahen Bunde mit der Mutter. Es war die Liebe zu den Vielen, für die er weiter leben und arbeiten sollte. Es war die endlich entwöhnte – von der Vergangenheit entwöhnte Liebe, und die Mutter selbst segnete diese Befreiung. Die Milch seiner Kindheit war 119 versiegt. Aber nun strömte das Blut seiner Jugend unter der arbeitenden Sonne weiter.

Und die Hände um die Klinke des Friedhoftores gelegt, wartete er auf die Öffnung. 120

 


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