Alfred Wolfenstein
Die gefährlichen Engel
Alfred Wolfenstein

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Der Patient

Nach einer alten Anekdote

Ins Zimmer eines hochberühmten Nervenarztes trat nach langem Warten ein Mann mit leisem Schritt und sagte: Herr Doktor –

Sie müssen mir helfen, meine Seele ist nicht in Ordnung. Ich fühle täglich, wie sozusagen das Grundwasser in mir sinkt. Zwar habe ich keinen bestimmten Anlaß, das Leben zu verabscheuen. Dennoch riechen alle seine Blumen für meine Nase immer übler. Ich kann die Menschen nicht ansehen, ohne vor Ekel und Verlegenheit zu grinsen. Sie mißverstehen dies und lächeln sogar geschmeichelt zurück. Leider erscheinen sie mir auf diese Weise nur noch häßlicher, wenn sie mich komisch finden.

Am Morgen sehe ich nicht ein, weshalb ich überhaupt noch aufstehen soll. Aber ich fürchte meine eigenen Gedanken zu sehr, um im Bette liegen zu bleiben. Wenn ich mich schließlich erhebe, denke ich bei jedem Schritt: wohin?

Es schmerzt mich aufrichtig, daß meine privaten Enttäuschungen sich so übermäßig vordrängen. Wie darf ich verlangen, daß die ganze sausende Welt vor allgemeiner Enttäuschung stillstehen soll? Aber genau das wünsche ich. Und ich fühle einen dauernden Schmerz, irgendwo in mir oder außer mir oder über mich – entscheiden Sie es. Ich höre meine 36 Nerven schwirren, wie Geigensaiten, über das tönende Loch der Sinnlosigkeit gespannt.

Er schwieg. Der Arzt untersuchte ihn. Dann betrachtete er das längliche, weiße, aber zerfurchte Gesicht. Der Kopf schien immer ein wenig zu schwanken; es war, als rollte ein großes Ei mit zerbrochenen Schalen auf den Schultern hin und her.

Mein Herr, sagte der Arzt – wie war doch Ihr Name, habe ich Sie nicht schon hier gesehen? – ich möchte Sie ausnahmsweise nicht selbst behandeln. Zwar könnte ich im neuesten Taucheranzug meiner Wissenschaft durch jedes dunkle Wrack in den Tiefen Ihrer Seele waten. Aber ich rate Ihnen etwas anderes:

Gehen Sie noch heute Abend ins Varieté Gargantua. Dort tritt jetzt der große Komiker auf: Riri. Das ist ein überwältigender Excentric. Als ich ihn sah, erschien mir der blutige Ernst meines Berufes ungenügend. Denn ich dachte mir, auch dieser kann heilen! Ich beschloß einmal Patienten in seine Vorstellung zu schicken.

Ihr Fall ist geeignet, ja er scheint mir nur auf diese Art heilbar. Gehen Sie zu Riri. Selbstverständlich werden Sie sich eine Weile sträuben, einfach mitzulachen. Aber Ihre Lachmuskeln laufen Ihnen am Ende davon, und so entflieht Ihre Krankheit. Die Zunft wird mich mißbilligen, ich aber sage Ihnen: Wenn erst der Bann gebrochen ist, wenn Sie der Nummer des genialen Komikers und seinen täglich wechselnden Einfällen regelmäßig beiwohnen, dann sitzen Sie bald so heiter wie irgendeiner unter den gesunden Menschen!

Der Mann erhob sich und nahm seinen Hut. An der Türe wandte er sich noch einmal um und sagte: Herr Doktor –

Ich danke Ihnen, senden Sie mir Ihre Rechnung. Jetzt weiß ich, daß ich verloren bin. Ich bin der Komiker Riri. 37

 


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