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8.

Noch ein Josef, aber kein feuriger

Derselbe Morgen, an welchem die in vorigem Kapitel erzählte Hundebeißerei stattgehabt hatte, fand die beiden Freunde Klötersdorf und Strammin wieder am gemeinschaftlichen Kaffeetisch.

Strammin, der die halbe Nacht vergeblich im Nachtwächterhäuschen gewartet und dann um halb sechs Uhr schon wieder seinen Beritt revidiert hatte, sah etwas blaß und hohläugig aus und blinkerte immerzu mit den müden Augenlidern, während Klötersdorf ihn voll geduldiger Neugier ansah.

Sie waren eben erst vom Rapport beim Wachtmeister nach Hause gekommen und hatten bis jetzt so gut wie gar nichts miteinander gesprochen.

»Nun?« fragte endlich der lange Klötersdorf, der das Schweigen nicht mehr aushalten konnte.

»Was denn?« machte Strammin die übermüden Augen auf.

»Na ... wie war es denn gestern? – Hast du sie getroffen?«

Die Frage war dem anderen sehr unangenehm. Die schöne Hulda hatte ihm zwar geschrieben, er solle sie acht Tage hintereinander erwarten; er konnte sich also gar nicht darüber wundern, daß sie nicht gleich das erste Mal erschienen war; er fühlte sich aber dennoch ein wenig gedrückt und abgekühlt nach dem mächtigen Aufglühen von gestern abend, und wenn er Klötersdorf die Wahrheit sagte, so würde dieser die Nase gerümpft und sein Abenteuer belächelt haben. Es war also viel besser, wenn er log, namentlich da die Lüge spätestens binnen acht Tage Freisprechung und Billigung erhielt.

»Nun, natürlich habe ich sie getroffen!« beantwortete der Klötersdorfs Frage.

Dieser dachte, es würde noch mehr herauskommen; da dies jedoch nicht der Fall war, mußte seine Wißbegier sich zu einem anderen Angriff entschließen.

»Wie lange warst du denn mit ihr zusammen?« fragte er also weiter.

»Drei Stunden!« unterdrückte Strammin ein Gähnen.

Wieder Pause.

Klötersdorfs Kopf wurde ganz rot und sein Herz klopfte gewaltsam vor Aufregung. Es ist aber nichts angreifender und schrecklicher, als wenn ein Draufgänger aus einem Phlegmatiker gern etwas heraushaben möchte und die interessante Mitteilung, in wenige dürftige Stückchen zerrissen, selber zutage fördern muß.

»Drei Stunden ...« wiederholte mit benommenem Atem, nach einer Weile, der unruhige Klötersdorf; »wo hattet Ihr denn das Stelldichein?«

»Wie kannst du so fragen?« schlief Strammin beinahe ein.

»Du hast recht«, sagte der andere; »so etwas enthüllt man nicht ... aber es war schön, nicht wahr?« –

»Sehr schön!« unterdrückte Strammin ein abermaliges Gähnen.

Klötersdorf klopfte das Herz fast hörbar, und er konnte eine Weile gar nicht sprechen, weil er fühlte, daß ihm der Atem fehlen würde.

Aber er blickte dafür seinen Kameraden mit einer beinahe neidischen Teilnahme an.

Diese glücklichen Lippen hatten den Mund eines Mädchens geküßt, diese noch in süßer Erinnerung schwelgenden Augen hatten sich geweidet an ihrer Schönheit, dieser Arm hatte ihre Hüften umschlungen ...

Hier konnte Klötersdorf nicht weiter denken, sondern holte tief Atem und schloß die Augen.

Strammin, der unterdes eingeduselt war, gähnte jetzt, daß es ordentlich schaurig klang.

»Mein Gott, wie er seufzt«, dachte der andere; »er sehnt sich wohl ... der Glückliche ... der Beneidenswerte ... und was bin ich dagegen? – Ein blöder, schüchterner Schulknabe, über den sich bald das ganze Regiment lustig machen wird ... so etwas vergißt sich dann nie wieder ... sie werden mir einen Spitznamen geben, der mir anhaftet bis an meinen Tod ... das geht nicht länger so ... das muß geändert werden ... ich darf auf keinen Fall hinter Strammin zurückstehen ... wer hätte das von ihm gedacht ... ich muß ihm zu imponieren suchen.«

»Wann siehst du sie wieder?« wandte er sich dann laut an seinen Freund.

»Was?« fragte dieser, mit einem mißlungenen Versuch, die schweren Augenlider zu heben.

»Wann du sie wiedersiehst?«

»Acht Tage ... hintereinander«, dehnte sich Strammin.

»Mein Gott!« betete Klötersdorf; »das ist ja der reine Don Juan ... und ich ... und ich ...!«

Da schlug die Schwarzwälder Uhr an der Wand mit lautem Summen neun.

»Wir müssen zu den Rekruten auf den Markt«, stand Klötersdorf auf; »um ein Viertel auf zehn wird angetreten.«

Dies Wort rüttelte Strammin aus seinem Schlummer empor, er erhob sich ebenfalls und trat vor den Spiegel, um sich am Anblick seines eigenen Ich zu weiden.

»Der Geck!« dachte sein neidischer Freund.

»Du möchtest wohl an meiner Stelle sein?« blickte dieser ihn mit einer gewissen Überhebung an.

Da schwoll Klötersdorfs Selbstgefühl.

»Weshalb denn?« entgegnete er mit gut gespielter Gleichgültigkeit; »ich mache heute Besuch bei der Baronin Möhrenstolz ... ich hatte es mir schon gestern vorgenommen.«

Dem andern schien das wirklich imponiert zu haben.

»I, sich einmal den Klötersdorf an«, dachte er; »das hätte ich ihm nicht zugetraut ... es ist mir aber doch lieb, daß ich nicht als blöder Schäfer neben ihm erscheine.«

Dann schnallten sich beide die Säbel um, hüllten sich in die langen Mäntel und schlenderten die Straße hinab dem Marktplatz zu.

Das ist ein ganz hübscher Weg, bloß der dicke Padderow konnte ihn nicht leiden.

Im Winter passierte er die Straße nie, weil er es nicht brauchte; aber im Sommer wurde immer aus diesem Tor zum Exerzieren geritten, und dann würde er weiß was darum gegeben haben, wenn er sich hätte unsichtbar machen können; denn jedesmal wenn die Schwadronsmusik spielte, dann trat erst das bleiche Gesicht des Weinhändlers Schleckmann ans Fenster und heftete seine vorwurfsvoll mahnenden Blicke so fest und bedeutsam auf den armen dicken Leutnant, daß dieser auf dem faulen Babieca unwillkürlich die Beine emporzog, um sich ein bißchen kleiner zu machen.

Und ein paar Häuser davon stand wieder Mosis Mosner mit seinem verschmitzten Judengesicht vor der Tür, und obgleich Padderow gar nicht hinsah, fühlte er dennoch, daß die Blicke ihm durch das hellblaue Kollet bis in die bange Seele drangen.

Den beiden Fähnrichen war das egal, denn sie hatten keine Schulden, aber dafür andere Unvollkommenheiten.

Mosis Mosner stand auch wieder in seinem Laden und ärgerte sich darüber, daß die beiden wohlhabenden jungen Menschen keine Geschäfte mit ihm machten; aber Schleckmann war nicht an seinem Fenster zu sehen.

Das war damals die einzige Weinstube in Hasenbalg, und der alte Oberst Hollprägel nannte sie immer die Giftbude.

Als die beiden Fähnriche auf dem großen Marktplatz ankamen, sammelten sich schon die Rekruten von zwei Schwadronen zum Fußexerzieren, während die beiden anderen Eskadrons in der offenen und verdeckten Bahn Reitunterricht hatten.

Es war hübsch hell und windstill auf dem Markt, und die alten gichtbrüchigen Häuser machten ordentlich freundliche Gesichter, als wenn ihnen einmal wieder warm ums Herz würde, wie in den Zeiten ihrer Jugend.

Da schlägt die Rathausuhr halb, die Unteroffiziere kommandieren »Stillgestanden!« und der Leutnant von Ströllpitz tritt auf den Glockenschlag mit seinem besten Dienstgesicht um die Ecke und geht an der Front seiner Abteilung herunter, um mit heiligstem Ernst den Anzug zu mustern.

Einige Minuten später kommt auch der Offizier der anderen Abteilung, Graf Plustra, aus dem kleinen schmalen Giebelhäuschen, in dessen erster Etage seine Braut und seine künftige Schwiegermutter wohnen.

Er hat einen sehr alten Mantel um seine Schultern gehangen, sein langes, ganz unsoldatisches Künstlerhaar wallt unter der verbogenen Mütze hervor und aus Mund, Nase und Ohren strömt in leichter Bläue der Rauch, den er vor einer Viertelstunde eingesogen.

Obgleich es heute ein ausnahmsweise schöner Tag ist, sieht der Graf doch blaß und frostig aus, und seine etwas geknickte Figur gleicht einer schönen, exotischen Pflanze, die, in nordischen Boden gebracht, langsam dahinkränkelt in dem kalten, ungewohnten Klima.

Oben an dem kleinen, niedrigen Fenster steht seine Braut, die unheimlich bleiche Georgina, eine Lilie unter den Frauengestalten, und blickt ihm nach, und als er jenseits des Rinnsteins sich umwendet und hinaufnickt, da spielt ein leises, kaltes Lächeln um ihre farblosen Lippen, als wenn der Tod ihr einen Kuß gegeben habe.

Graf Plustra sieht sich ebenfalls seine Rekruten an, jedoch mit weit geringerem Interesse als der Premierleutnant von Ströllpitz, dann beginnt das Exerzieren mit den halben und ganzen Wendungen.

Zuletzt kommen auch noch die Rittmeister dazu; dann erhält der Diensteifer neues Feuer, die Unteroffiziere stellen sich an, als wenn sie sich und alles andere zerreißen wollten, und schließlich gibt es ein Geschrei, als wenn ganz Hasenbalg in Flammen stände.

Für einen Menschen von Phantasie ist es eine Vorbereitung zur Hölle des Dante.

Mein Gott, diese Langeweile, Tag für Tag, einen ganzen langen Winter hindurch! - Man sucht ein bißchen Abwechselung um jeden Preis; man zählt sämtliche Fensterscheiben am Markt; man zählt die vorübergehenden Bürger; man berechnet auf den Silbergroschen, wieviel Schulden man hat, man träumt auch vielleicht von irgendeinem Mädchen, dessen Blüte unsere Vergangenheit oder Gegenwart durchduftete.

Das Letztere tut z. B. der Fähnrich von Strammin, der zwischen zwei vierschrötigen Dragonern hindurch nach der Lebensversüßungsanstalt an der Ecke des Marktes blickte, wo an einem Fenster das unklare Bild der schönen Hulda sichtbar ward.

»Arme Gefangene ... konntest du dich gestern nicht deinen Fesseln entreißen? – Wirst du heute kommen, zum süßen Stelldichein der Liebe? – Siehst du mich wohl, wie ich dich sehe, und hast du dieselben Gedanken und fühlst dasselbe Sehnen?«

»Fähnrich von Strammin!« schrie in diesem Moment der Premierleutnant von Ströllpitz; »stehen Sie nicht da und schlafen, sondern machen Sie sich nützlich hinter der Front!«

Der arme Junge bekam einen Schreck, daß er ganz blaß wurde, und faßte dann von hinten einen Rekruten bei beiden Schultern, um ihm eine bessere Haltung zu geben.

Endlich schlug die Erlösungsstunde; die Rekruten wurden entlassen und gingen jeder seinem warmen Stalle zu, die Unteroffiziere gewichtig hinterher in ihren langen dunklen Reitermänteln; der Leutnant von Ströllpitz, förmlich angeschwollen vor Diensteifer, um sich ein Käsebrötchen und einen Kümmel zu spendieren; die beiden Fähnriche schritten wieder ihren Behausungen zu, und Graf Plustra hinkte krumm und zusammengesunken nach dem schmalen Giebelhäuschen neben der Hauptwache, gab erst seiner bleichen Braut einen Kuß und dann steckte er sich den Zigarrenstummel wieder an und verschluckte mit dem sichtbarsten Behagen eine bedeutende Quantität des aromatischen Blätterrauches.

Als die beiden Fähnriche nach Hause kamen, vertauschte Klötersdorf, der nachmittags keinen Dienst mehr hatte, den groben Kommißanzug mit der feinen, eigenen Uniform, um seinen Entschluß, bei der Baronin Besuch zu machen, ins Leben treten zu lassen.

»Du willst wohl zur Möhrenstolz?« fragte Strammin, in sein Zimmer tretend.

»Natürlich!« sagte Klötersdorf, Mantel und Mütze nehmend.

»Na, viel Vergnügen!«

»Danke, Danke!«

Und damit verließ er die Stube und machte sich auf den Weg.

Er schritt ganz stolz die Straße hinunter und heizte seinen Mut durch ein leises Selbstgespräch, das er mit sich führte.

»Dieser Strammin! der denkt wohl gar, daß er etwas vor mir voraus hat ... hm ... das wäre ja noch schöner ... tut so, als wenn ihm alle Mädchen an den Hals flögen ... bah ... eine Konditormamsell ... das ist auch etwas rechtes ... da ist es doch jedenfalls vornehmer zur Baronin zu gehen ... und weshalb sollte ich mich denn nicht benehmen können ... das ist mir bloß noch ein bißchen ungewohnt ... aber wenn ich einmal da bin, dann wird sich die Sache ganz von selbst machen ... sind Frauen nicht etwa auch Menschen ... und werden sie mir etwas tun ... hm ... was könnten sie mir denn tun? ... es ist ja Unsinn!«

Als er beim Konditor Schlichter vorbeikam, stand die schöne Hulda am Fenster.

Klötersdorf reckte sich noch stolzer empor und grüßte sie auf eine unbefangene, vertrauliche Art; leider machte er dabei aber einen falschen Tritt auf dem schlechten Pflaster und zerriß sich mit dem Spornrad den einen Stiefel.

Die Konditornymphe lachte und dem Fähnrich schoß siedendheiß das Blut in den Kopf.

Der Riß ging zwar nicht durch bis auf den Strumpf, aber es war doch immer ein Riß.

Im Anfang achtete Klötersdorf nicht sonderlich darauf, sondern war froh, als er aus dem Beobachtungskreis der Nymphe kam.

»Was schadet das!« richtete er sich wieder auf; »das passiert gewöhnlich, wenn man neue Stiefel an hat ... außerdem merkt es niemand ... die Damen werden einem doch nicht auf die Füße sehen ... dadurch wird man sich doch nicht etwa abhalten lassen, den Besuch zu machen ... das wäre ja noch hübscher ...«

Und er schritt weiter die lange, sanftgebogene Straße hinab, welche die ganze Stadt in der Richtung von Norden nach Süden durchschneidet.

Aber je weiter er kam, desto langsamer wurde unwillkürlich sein Gang.

»Ich bin zu schnell gelaufen«, sagte er sich selber; »ich komme ja ganz erhitzt dort an ... das macht einen schlechten Eindruck ... wir wollen uns wieder ein bißchen abkühlen.«

Als er an die Ecke der kleinen Querstraße kam, die zum Mühlentor führt, schlich er schon so matt, daß die Leute stehenblieben und ihn mitleidig ansahen, weil sie dachten, er wäre krank.

Klötersdorf merkte es und gab sich wieder einen geistigen Sporenstoß.

»Mut!« rief er sich zu; »ich werde mich doch nicht fürchten ... wovor sollte ich mich denn überhaupt fürchten?«

Er durchschritt das dunkle verfallene Tor und befand sich nun außerhalb der morschen Stadtmauer, die der ständige Westwind schon ganz schief geblasen hatte.

Da verwandelte sich das Bild plötzlich wie mit einem Zauberschlage.

Anstatt der engen Straße mit den kläglichen Kabachen und dem halsbrecherischen Pflaster, anstatt des Blickes auf dumpfige Flure, durch erblindete Scheiben in übelriechende Zimmer, nun mit einem Male die ganze Pracht der schönen Gottesnatur, die Körper und Seele erfrischt mit ihrem kräftig gesunden Hauch.

Gleich hinter dem Tor fließt die liebliche Hase. Ihr Wasser ist zwar nicht blau und klar, sondern schmutziggelb und etwas übelriechend; aber dafür kann das Flüßchen nicht, das ist die Schuld der Lohmühle, die ihm all' ihren Schmutz zuführt, und deshalb wächst an den flachen Ufern auch kein fröhlicher Grashalm und kein muntres Gänseblümchen, sondern es ist alles tot und kahl, wie in der verbrannten Umgegend einer Fabrik.

Über den unreinlich schläfrigen Fluß führt eine elende Brücke von fauligem Holz, und hinter dieser dehnt sich dann die Landschaft in all' ihrer Lieblichkeit und Frische aus.

Rechts die Lohmühle selbst, ein friedlich idyllisches Anwesen. Zuerst ein kleines, bescheidenes Häuschen, in welchem die bejahrten Eltern der Baronin wohnen, die alten Schnorcherts, einfache, ehrliche Leute, klein und zusammengetrocknet, denen man es gar nicht zutrauen sollte, daß sie eine solche Semiramis von Tochter bekommen hatten.

Aber die Natur spielt oft wunderbar.

Dicht an dies kleine Häuschen stoßend, anfangs in derselben Front, dann mit einem Flügel rechts um die Ecke biegend, liegt das Wohnhaus der Frau Baronin Möhrenstolz, geborenen Schnorchert.

Die Fenster sind von innen üppig verhangen und vor der Haustür steht eine Laube, die im Sommer lauschig und verschwiegen ist; jetzt sind aber die meisten ihrer grünen Blätter schon abgefallen und nur noch wenige derselben haben es nicht gemerkt, daß sie längst gestorben sind und klammern sich noch an die trockenen Ranken, und wenn der Westwind über das Feld kommt, dann rascheln sie leise und gespenstig, als murmelten sie im tiefen Schlaf von ihrer frohen Jugendzeit.

Dem rechts um die Ecke springenden Flügel gegenüber fließt die hier stark gebogene Hase vorbei, welche das gewaltige Rad der eigentlichen Lohmühle treibt. Dann kommen noch einige wüst aussehende Schuppen und unbedeutende Hintergebäude. Das ganze friedliche Idyll ist garniert mit drei großen unpoetischen Pappeln, von denen die höchste jenseits der Hase, zwischen dem Rade der Lohmühle steht, gerade gegenüber den beiden Giebelfenstern, welche so kindlich und keusch aus Mollys Schlafzimmer in die herrliche Landschaft blicken.

Natürlich sind die ebenen, am Horizont nur sanft ansteigenden Felder jetzt kahl und ihres grünen sommerlichen Schmuckes beraubt. Das Gras auf der torfigen Wiese ist beinahe schwarz geworden vom nächtlichen Frieren. Die lieblichen Butterblumen sind längst verwelkt, und wenn der Westwind weht, führt er auf seinem luftigen Fittich nicht mehr den aromatischen Hauch der Tabaksfelder mit sich fort, sondern er bläst nur, als Ersatz, den kräftigen Geruch der gelben Lohe in die an fragwürdige Dünste gewöhnte Stadt.

Alles öde, alles kahl und frostig, nirgends eine alte Weide, an der die Phantasie sich erwärmen könnte; aber in dieser trostlosen Eintönigkeit doch eine gewisse Erhabenheit, welche den Gedanken der Unendlichkeit in uns vorbereitet.

Der Fähnrich von Klötersdorf schien auch den ganzen Zauber des vor ihm ausgebreiteten landwirtschaftlichen Reizes zu empfinden; denn er stand auf der kleinen Brücke still und ließ den entzückten Blick hinausschweifen über die idyllische Lohmühle und ihre romantische Umgebung.

Die Natur in ihrer ursprünglichen Allgewalt übt immer einen mächtigen Eindruck auf den beschauenden Menschen aus: auf der einen Seite erhebt sich Seele und Phantasie zu den Sternen empor, auf der anderen überzeugt sie uns mit schlagender Deutlichkeit von unserer Kleinheit, unserm Nichts.

Diesen letzteren Eindruck schien Klötersdorf zu empfinden; denn, nachdem er eine Weile geschaut, senkten sich seine Blicke zum Staub hernieder, dem er entstammte, und schwächlich kleinmütige Gefühle zogen dabei durch seinen roten Kopf.

»Der Riß geht zwar nicht durch; aber es ist doch immer ein Riß«, kleideten sich seine Gedanken in leise und gehauchte Worte; »was sollen die Damen von mir denken, wenn ich so Besuch machte?... Ein Kavallerist, der sich mit dem Sporn die Stiefel zerreißt... das ist ja geradezu lächerlich... nein, nein... kehren wir um... morgen ist auch noch ein Tag.« -

Und er trat den Rückzug an durch die bekannten Gegenden; aber als er in die lange Straße kam, an deren Ende die Speiseanstalt der Offiziere sich befindet, fiel ihm ein schrecklicher Gedanke in die Brust.

»Strammin!« – Wie würde dieser ihn verspotten, wenn er ihm sagte, daß er nicht dagewesen sei ... die Geschichte mit dem zerrissenen Stiefel hätte ja keiner gelten lassen ... an solchen Kleinigkeiten kehrt man sich doch in Hasenbalg nicht ... was tun ... was tun?

Dem armen Klötersdorf wurde der Kopf noch viel röter, und seine Gedanken begannen wild durcheinander zu stürmen.

In diesem Moment schweißtreibender Verlegenheit legte sich ihm von hinten eine Hand auf die Schulter.

»Na ... gut abgelaufen?« fragte gleichzeitig die etwas näselnde Stimme des anderen Fähnrichs.

»O ja«, log Klötersdorf unwillkürlich; »weshalb sollte es denn nicht gut abgelaufen sein?«

»Alle Damen zu Hause?«

»Alle Damen zu Hause.« –

»Frau Baronin sehr liebenswürdig gewesen oder ein bißchen ablaufen lassen?«

»Ablaufen lassen?« wiederholte Klötersdorf mit empörtem Stolz; »im Gegenteil, sie hat mich gleich heute zum Abendessen eingeladen.«

Strammin bekam ordentlich ein langes Gesicht.

»Das ist ja ein Teufelskerl!« dachte er; »gleich zum Souper ... und meine Angebetete ist gestern gar nicht einmal gekommen ...«

Klötersdorf bekam den Tod in die Waden, als er die großsprecherische Lüge heraus hatte.

»Gott sei mir gnädig!« dachte er; »nun muß ich aber auf jeden Fall morgen vormittag Besuch machen ... denn wenn das herauskommt ...«

»Na, wenn ich das heute abend auf Ressource erzähle«, sagte Strammin; »die Herren Offiziere werden sich mal wundern ...«

Der andere machte eine Bewegung, als wenn er bitten wollte: »Ach nein, tu' das lieber nicht!« Aber sogleich machte er eine Geste, um diesen Gedanken aufzugeben.

Was hätte Strammin denken müssen ... er wäre ja vernichtet gewesen ... unmöglich geworden ...

»Nun werden sie dich nicht mehr necken, das ist dir doch angenehm?« fragte der befreundete Junker.

»Furchtbar!« schwitzte Klötersdorf.

Unter diesem kurzen Gespräch hatten sie den Eingang ihres Speiselokals erreicht und schritten über den mit Küchenrauch angefüllten Flur der alten knarrenden Treppe zu.

»Gott steh' mir bei!« betete der lange Fähnrich; »jetzt muß ich ja heute abend hin ... und wenn sie mich nun einladen? – Das kommt von dem verdammten Lügen her; jetzt bin ich in 'ner niedlichen Patsche!«

Bei Tische hatte er sehr wenig Appetit; aber er freute sich, als der blasierte Sponeck ihn fragte, ob er eine Flasche Rotwein mit ihm zusammen trinken wollte. Er wußte allerdings recht gut, daß er nicht viel bekommen würde; aber selbst ein Glas wäre ihm bei seinem Nervenzustande eine Wohltat gewesen.

Der Wein kam, aber diesmal vergaß Sponeck das Einschenken ganz und gar und die Flasche blieb unberührt stehen.

Nach dem Essen ging Klötersdorf allein zu Hause, weil Strammin Dienst hatte, zündete sich eine lange Pfeife an, legte sich lang auf das Sofa und versenkte sein ganzes Wesen in unklare Betrachtungen.

So lag er bis es dunkel wurde.

Dann rief er seinen Burschen, ließ Licht anzünden, zog andere Stiefel an, besah sich die Nägel, bürstete sein semmelblondes Haar glatt, stieß einen furchtbar tiefen Seufzer aus und nahm dann Mantel und Mütze.

»Es geht nicht anders ... es muß geschehen!« sagte er zu sich selbst; dann fühlte er sich die Treppe hinunter und machte den Weg im Dunkeln noch einmal.

Als er vor das Mühlentor trat, war eben der Westwind wieder erwacht und blies ihm den berauschenden, sinnbetäubenden Lohegeruch entgegen.

Klotersdorf klopften die Pulse, als wollten sie ihre Adern zerreißen, und die Lohmühle tanzte vor seinen erregten Blicken, als wenn sie Leben bekommen hätte.

»Vorwärts!« ermannte sich der Fähnrich; »Mut; es ist unabänderlich!«

Und er schritt über den Rubicon und alsdann richtig an dem Hause der alten Schnorcherts vorbei bis vor die Wohnung der Frau Baronin.

In dem Vorderzimmer brannte gar kein Licht; das ängstigte ihn. – »Wenn sie nicht zu Hause wären; wie unangenehm!«

»Ob er auf den dunklen Flur treten und klingeln sollte?«

»Besser war es wohl, wenn er einmal um die Ecke guckte, ob die anderen Fenster auch dunkel wären; das war doch immer ein Anhalt.«

Und er schlich leise auf den Zehen, damit die klirrenden Tritte ihn nicht verraten sollten, an der Vorderfront entlang der Ecke zu.

Aber von dort aus konnte er auch nichts sehen.

Das war eine schlimme Geschichte; das Wasser der Hase ging dicht bis ans Haus heran; wo sollte er denn da eine Aufstellung nehmen? – Aha ... das Rad ... jaja, das ging ... ein langer Schritt, dann trat man auf eine breite Schaufel und konnte ganz bequem nach den Fenstern des Flügels blicken. –

Das wollen wir machen ... hier erst festhalten ... so ... nun den rechten Fuß lang ausgestreckt ... da berührt die Stiefelspitze ja schon den Rand der Schaufel ... nur ein kräftiger Ruck ... den anderen Fuß nachgezogen ... schwups! ...

In demselben Moment aber, wo die Last seines Körpers auf der Schaufel ruhte, senkte sich das leicht bewegliche Rad, tauchte halb unter das Wasser, machte, dem Gesetz der Schwere folgend, eine halbe Umdrehung und blieb dann wieder stehen.

»Hilfe! Rettung!« rief Klötersdorf, als ihm das Wasser kühl bis ans Herz hinan stieg.

Einige Sekunden später befand er sich aber ganz wohlbehalten auf der andern Seite des Rades, nur mit dem Unterschiede gegen vorhin, daß er sich den Kopf gestoßen und Stiefel und Hose voll Wasser gefüllt hatte.

»Gott sei Dank!« stöhnte der Fähnrich; »die Geschichte ist noch gut genug abgegangen; ich hätte den Tod davon haben können.«

Man soll aber den Tag nie vor dem Abend loben.

Kaum hatte nämlich der bereits eingeschlafene Hofhund den Hilferuf gehört, als dieser aufsprang und nach dem Ort der Gefahr eilte.

Als er die dunkle Gestalt Klötersdorfs auf einer Schaufel des Triebrades erblickte, wurde er rasend vor Wut, bellte, daß ihm zuletzt der Atem glühte, und machte Versuche, über das Wasser hinweg auf das Rad zu springen.

»Ich bin verloren!« stöhnte der unglückliche Mensch; »wenn der Köter hier herüber kommt, reißt er mich in Stücke und schmeißt mich dann in die Hase.«

In diesem Moment nahm der Hund förmlich einen Anlauf, um die Befürchtungen Klötersdorfs wahrzumachen.

Dieser warf einen verstörten Blick um sich, ob nicht irgendwo noch eine Rettung sei ... die hohe Pappel ... wenn er die erreichen konnte ... ein Sprung nach dem andern Ufer ... ob er wohl glücken könnte? ....

Da hörte er einen lauten Klatsch im Wasser, und als er sich erschreckt umsah, gewahrte er den großen Hund, wie er mit hochgerecktem Hals zu ihm hinüberschwamm.

Die Gefahr gibt oft wunderbare Kräfte.

Kaum hatte Klötersdorf die entsetzliche Entdeckung gemacht, als er sich einen kräftigen Abstoß gab und glücklich das andere Ufer erreichte.

Aber der wütende Köter war ihm dicht auf den Fersen; er sah ihn nicht; aber er hörte ihn mit seinen scharfen Tatzen die Holzwand der Uferbrüstung emporklimmen.

»Was nun tun! – Aha! – der Baum.« – Klötersdorf war im Kadettenkorps ein guter Kletterer gewesen ... er umfaßte mit beiden Armen den dicken Stamm der Pappel.

Da fühlte er den heißen Atem des Hundes an seiner Wade, und im nächsten Augenblick machte er einen Satz, ungefähr wie ein Frosch, wenn er in die Luft springt, und klomm dann mit einer Geschicklichkeit, die ihm die Verzweiflung eingab, den Stamm hinan, bis er oben in den starken Ästen einen sicheren Halt gewann.

Der wütende Köter machte ebenfalls einen Satz, um den Baum zu erklimmen, sprang auch weit am Stamm empor, fiel dann aber zurück, schlug sich den Hinterkopf und blieb betäubt und ohnmächtig am Fuß des Baumes liegen.

»Noch einmal gerettet!« dachte Klötersdorf; »nun ist das Vieh glücklicherweise still; aber er sitzt unten und bewacht mich ... da kann ich die ganze Nacht auf meiner Pappel zubringen ... und der Strammin denkt, ich schwelge jetzt .... die Beine sind mir so kalt wie Eis ... und die Hosen habe ich mir auch zerrissen ... Herr Gott, und da geht der Mond noch auf ... wenn es wenigstens dunkel geblieben wäre ... nun müssen sie mich ja hier oben in der Luft entdecken.«

»Was ist denn das für ein Lärm?« fragte eine weibliche Stimme aus einem geöffneten Fenster; »der Hund bellt ja furchtbar.« –

»Ach, wahrscheinlich eine Katze oder eine Krähe, gnädige Frau« antwortete eine männliche Stimme vom Hofe her; »jetzt ist ja alles still.«

Das Fenster wurde wieder geschlossen.

»Na, wie Gott will«, dachte Klötersdorf; »wir halten still. Licht ist in den Fenstern am Seitenflügel; bis zu dieser Wahrnehmung bin ich wenigstens gelangt ... aber es kann mir nun nichts mehr nützen.«

Dann setzte er sich so bequem wie möglich auf einen starken Ast, umschlang mit dem rechten Arm den Stamm und baumelte mit den langen, triefenden Beinen, um sie durch die Bewegung ein wenig zu erwärmen. –

Überlassen wir ihn nun ein wenig seinem Schicksal und treten wir in das Haus der Baronin Möhrenstolz.

Auf dem Hausflur ist es dunkel, aber wir wissen Bescheid, tappen uns entlang und grabbeln hinten links nach einem Drücker, öffnen eine Tür und treten unangemeldet ein.

Das Zimmer ist für die damalige Zeit und für die Verhältnisse des kleinen Ortes sehr geschmackvoll eingerichtet. Auf den dunkelrot gestrichenen,Wänden, denn Tapeten fand man damals noch nicht, heben sich Ölgemälde in dicken, goldenen Rahmen sehr wirksam ab; der Fußboden ist mit einem weichen Teppich belegt, vor den neugierigen Augen der Fenster hängen dichte, weiße Schleier. Sofa und Sessel zeigen moderne Form und Polsterung, und eine auf dem Tische stehende große Astrallampe gießt ein mattweißes Licht durch den wollüstig duftenden Raum des mittelgroßen Zimmers.

Hier hielt sich die Familie gewöhnlich auf. Nach vornehinaus befand sich das Staatsgemach, und an das vorige grenzend noch ein Salon, in welchem das Klavier stand.

Die Mutter saß mit Molly auf dem Sofa, während Charlotte in einem Lehnstuhl Platz genommen hatte.

Betrachten wir die Damen ein wenig aufmerksamer.

Die Baronin Möhrenstolz ist trotz ihrer fünfundvierzig Jahre noch eine auffallende Schönheit und eine so stolze Figur, wie man sie selten antrifft.

Von männlicher Größe und starkem, aber vom schönsten Ebenmaß geadelten Körperbau, erinnert sie an die Vorstellung, die unsere Phantasie sich wohl von der Semiramis macht, oder an die Bilder, die wir von Katharina II. von Rußland kennen. Das Gesicht, in dessen etwas zu starke, männliche Züge die Zeit erst mit ganz leichten Strichen ihre Runenschrift begonnen, hat nichts Sympathisches, und in den grauen Augen flimmert die innere Glut einer Messaline. Ob sie im Leben als eine solche sich bewahrheitete, wollen wir nicht verraten, weil wir es nicht mit Sicherheit verbürgen können. Die Hasenbalger natürlich erzählten sich die wunderbarsten Geschichten, die aber in unseren Roman nicht gehören, weil sie weder harmlos noch komisch sind.

Links neben ihr auf dem breiten schwellenden Diwan lehnte die ältere Tochter, Molly, zu damaliger Zeit vierundzwanzig Jahre alt.

Obgleich nicht so groß wie die Mutter, ist sie doch im vollendetsten Ebenmaß schlank und schön emporgewachsen; das von tiefschwarzem Haar umrahmte Antlitz erinnert an den Vater, der Baronin ersten Mann. Die Züge sind fein und edel, und in dem dunklen Auge schillert ein so seltsames Gemisch von Wahrheit und Dichtung, daß ein langer Umgang dazu gehört, die richtigen Unterscheidungen zu machen. Neben einem wahrhaft flammensprühenden Feuer lächelt es in diesen dunklen Sternen gewöhnlich wie ein heiter naives Kind, von einer Unschuld, die man einem vierzehnjährigen Pensionsmädchen nicht mehr zutrauen würde. Obschon die schöne Molly auf der einen Seite recht klug war, besaß sie auf der andern aber auch die merkwürdige Dummheit, sich allen Ernstes einzubilden, daß man ihre wunderbaren Naivitäten für bare Münze nähme. Auf der Straße trug sie im Sommer gewöhnlich ein unschuldig weißes Kleidchen und breiten Schäferhut, und einen wahrhaft rührenden Eindruck machte es, wenn die Mutter, an jeder Hand eine Tochter, wie beim: En avant les Dames, auf der Mitte des Hasenbalger Steinpflasters dahinschritt. – Und erst auf dem Ball mußte man die schöne Molly sehen; doch wir finden vielleicht im Verlauf dieses Buches noch Gelegenheit dazu.

Charlotte, die um zwei Jahre jüngere Tochter, war auch groß und stark, aber etwas zu knochig und wie aus Holz geschnitten. Das Haar war blond, das Antlitz stets unnatürlich gerötet und auf dem einen Auge hatte sie einen schiefen Blick. Das war aber eine Ungerechtigkeit der Natur, denn es war ein gutes und vortreffliches Mädchen, welches verdient hätte, in einer anderen Familie geboren zu werden. Sie hat später auch das elterliche Haus verlassen und eine bescheidene Stelle als Wirtschafterin angenommen.

Die drei Frauen sprachen keine Silbe; die Mutter und Molly starrten träumend in das gedämpfte Licht der Lampe, und Charlotte hatte die Augen auf eine Handarbeit gesenkt.

»Ist Mamachen wieder traurig?« begann Molly endlich die Unterhaltung, indem sie den schönen Kopf ein wenig seitwärts wandte.

Die Baronin machte eine Bewegung, als wenn sie aus tiefem Sinnen erwachte.

»Ja!« sagte sie; »es ist zu einsam hier ... wenn man Zerstreuung ... Hoffnung hätte ... aber nun wieder der lange Winter ... der Wind streicht über die Felder, und man sitzt und sitzt immer allein, immer allein...«

Charlotte blickte die Mutter an, als wenn sie noch den Ausdruck anderer Besorgnisse erwartete, die schlimmer waren als die Einsamkeit.

Und eigentlich hatte die Baronin auch hauptsächlich an jene gedacht.

Ihre Vermögensverhältnisse wurden schlechter und schlechter; die Lohmühle war furchtbar verschuldet, der Betrieb des Geschäftes vernachlässigte sich von Jahr zu Jahr; die Kraft zum Emporraffen fehlte; das wenige Geld, das übrig blieb, ward verwandt, um den Leuten Sand in die Augen zu streuen und sich selbst die Hoffnung zu erhalten, daß Molly noch eine gute Partie machen könnte.

Eine gute Partie! Eigentlich konnten sie wohl selbst daran nicht glauben; aber es war doch immerhin eine Möglichkeit, daß ein Offizier oder Fähnrich eine Anwandlung bekam ... oder in eine geschickt gelegte Falle ging... das Fleisch ist ja schwach, und die Langeweile die Mutter der allerseltsamsten Gedanken.

Auf das Mittel, wie es gemacht werden konnte, kam es jedenfalls der Baronin und Molly durchaus nicht an.

»Langweilt sich denn Mamachen mit uns?« fragte Molly nach der vorigen Äußerung der Mutter.

»Das will ich nicht sagen, liebes Kind«, streichelte ihr die Baronin das glänzend schwarze Haar; »aber ich möchte noch etwas mehr Gesellschaft haben... einen Verlobten... einen angehenden Schwiegersohn...«

Molly seufzte und blickte träumend in ihren Schoß.

»Die Männer sind so schlecht«, schmollte sie dann wie ein Kind, das seine Puppe verloren hat; »was kümmert es sie, wenn sie ein Mädchenherz brechen.«

Charlotte sah ihre Schwester mit einem, teilnahmsvollen Mitleid an, als wenn sie sie betrauerte ob dieser Äußerung.

»Wie viele Hoffnungen sind schon zu Grabe getragen worden«, nickte die Baronin mit dem ernsten Kopf, »einmal glaubte man an den Leutnant von Kreidesteck...«

»Der meint es ja mit keinem Menschen ehrlich«, sagte Molly; »an seine süßen Redensarten darf man sich nicht kehren.«

Charlotte mußte jetzt unwillkürlich lachen.

»Weißt du noch, Mama,« kicherte sie; »als dir Herr von Kreidesteck einmal in den Wagen half und dann mit seinem süßen Gesicht fragte: Gnädig Frauchen, haben Sie sich auch nicht das Kniechen gestoßen?«

Die Baronin lächelte ebenfalls, und zwar in einer Weise, als wenn sie der Anekdote noch etwas hinzuzufügen hätte.

»Und Herr von Plinker kommt auch gar nicht mehr«, paute Molly.

»Ach«, bewegte die Mutter wegwerfend den Kopf; »Herrn von Plinker war es hauptsächlich um das Abendbrot zu tun. Ernstliche Absichten hatte er nicht und konnte er auch nicht haben, weil er kein Geld hat zum Heiraten. – Der Mann hat uns viel Schaden getan, durch die Familiarität, mit der er sich hier einnistete. – Seine Pfeife hierher zu stellen, wie auf der Abendressource bei Zieme; es ist wirklich empörend!«

»Wollen wir sie ihm nicht hinschicken, Mama?« fragte Charlotte.

»Nein, das geht nicht«, meinte die Baronin; »das würde nur neues Gerede machen.«

»Vielleicht holt er sie sich selbst ab«, blickte Molly auf.

»Die neuen Fähnriche kennen wir noch gar nicht«, sprach die Mutter weiter; »mit den jungen Leuten ist gar nichts mehr anzufangen; sie machen nicht einmal Besuch in Häusern, wo Damen sind.«

Wenn sie gewußt hätten, wie nahe ihnen Klötersdorf war und in wie guter Absicht, sie würden ihn hereingeholt und gesalbt haben mit köstlichen Ölen, wie die schöne Hero es getan, als Leander zu ihr durch den Hellespont geschwommen war.

Der arme Fähnrich saß noch immer draußen auf seinem schwanken Ast, der ihn bereits empfindlich zu drücken begann. Seine nassen Beine erstarrten immer mehr und mehr, und der volle Mond stieg höher und höher am Himmel empor und machte ein ganz verwundertes Gesicht, als er den Herrn von Klötersdorf auf der alten Pappel bei der Lohmühle sitzen sah.

»I«, dachte er, »so etwas bin ich wohl in Frankreich und Spanien gewohnt; aber in dem ehrlichen Hasenbalg ... das hätte ich wirklich nicht geglaubt.«

»Es sollen reiche junge Leute sein«, sagte Molly.

»Vielleicht kann man sie heranziehen«, meinte die Mama; »wenn nur erst die Tanzvergnügungen und Bälle anfingen; da machen sich die Bekanntschaften am besten.«

»Aber sie hören auch wieder auf«, seufzte Molly; »wenn ich an den Grafen Schwülenberg denke ... wie oft habe ich mit dem getanzt ... dann hat er uns auch besucht ... und nun ist er verschwunden, wie mancher andere.«

»Er hat es vergessen«, lächelte die Baronin ironisch; »er wird jetzt mit jedem Jahr gedankenloser und zerstreuter...«

»Weißt du wohl, Mama«, lachte Charlotte wieder; »eines Abends rauchte er aus der Pfeife des Herrn von Plinker und dachte, es wäre seine eigene.«

»Schade«, nickte die Mutter; »das wäre schon ein Mann für Molly gewesen... so zerstreut... und ein Graf... und zwanzigtausend Taler Vermögen hat er auch...«

»Und solchen wunderschönen schwarzen Bart, Mama«, lachte Molly, wie ein kleines Mädchen, das sich über einen Hampelmann freut.

»Was ist denn das?« horchte die Baronin plötzlich auf.

»Was denn, Mama?«

»Hört Ihr nichts?«

Die Mädchen machten nun auch aufmerksame Gesichter.

»Geht da nicht jemand auf dem Flur?«

»Ja, ja... es grabbelt an der Tür... es klappert am Schloß...«

»Mein Gott, wenn es Räuber wären, flunkerte Molly; »ich fürchte mich so sehr vor Räubern.«

In diesem Moment klopfte es.

»Räuber klopfen nicht«, sagte die Mutter; dann rief sie mit lauter Stimme: »Herein!«

Im nächsten Augenblick öffnete sich die Tür, und der alte Graf mit seinem gutmütig, ehrlich bärtigen Gesicht trat ins Zimmer.

In der ersten Minute waren die Damen sprachlos vor Staunen.

»Ja«, lächelte der alte Graf auf seine eigentümlich zerstreute Weise, nachdem er Mantel und Mütze auf einen Stuhl gelegt; »ich wollte doch 'mal wieder herkommen...«

»Sehr willkommen, Graf Schwülenberg«, verneigte sich die Baronin; »wollen Sie nicht bei uns Platz nehmen?«

»Wir sprachen eben von Ihnen«, nickte Molly, indem sie einen Sessel für den neuen Gast hinschob.

»So? - Ja...« ließ der alte Graf seine gichtischen Glieder in das weiche Polster sinken; »ich sagte neulich Abend schon auf der Ressource... oder war es beim Mittagstisch... aber irgendwo war es... ich will doch auch 'mal wieder 'rausgehen, sagte ich... die Molly ist wirklich ein teufelmäßig nettes Frauenzimmer...«

Und dabei lächelte das alte bärtige Gesicht so ehrlich, als wenn er seine innerste Überzeugung ausgesprochen hätte.

»Sie sind zu gütig, Herr Graf«, verneigte sich Molly mit einem koketten Blick ihrer tiefschwarzen Augen. »O, bitte...« machte dieser; »es ist wirklich wahr... hol' mich der Teufel... und da wollte ich doch 'mal wieder 'rauskommen...«

Dann kratzte er sich den Kopf, als wenn er darüber nachdächte, ob er nicht auch noch etwas anderes gewollt habe.

»Ja, richtig«, begann er dann wieder, indem seine Augen in den Ecken umhersuchten... »und dann wollte ich auch eine Sache zur Sprache bringen, die mir schon teufelmäßig im Kopf herumgegangen ist...«

Die Baronin und Molly blickten ihn aufmerksam an, während Charlotte ruhig weiterhäkelte.

»Ja«, fuhr jener dann fort, nachdem er den Faden schon wieder einmal verloren hatte... »ich will gerade nicht mit Bestimmtheit sagen, daß mir zu Hause... eine fehlt... aber es ist mir doch manchmal so, als wenn mir eine fehlte...«

Die Mutter warf einen bedeutungsvollen Blick auf die Tochter, dann sahen beide wieder den alten Graf an.

»Das kommt natürlich davon, weil es schon so lange her ist«, fuhr dieser mit ehrlichstem Lächeln fort; »und weil ich in der letzten Zeit nicht hergekommen bin...«

Molly bewegte wehmütig das schöne Haupt.

»Aber... was man einmal besessen hat... das will man doch nicht gern verlieren«, verfolgte Schwülenberg seinen Gedankengang weiter; »man will doch wenigstens wissen, woran man ist...«

In der Baronin und Mollys Augen leuchtete es auf und auch in Charlottens Zügen zeigte sich Verständnis für die Situation.

»Deshalb bin ich nun eben hergekommen«, beschloß Schwülenberg seine Mitteilung.

»Und Sie sollen den Weg nicht umsonst gemacht haben«, sah ihn die Baronin mit einem verheißenden Blick an, während Molly verschämt die Augen niederschlug.

»Na, das ist mir lieb«, lächelte der alte Graf; »wie gesagt, man will doch wissen, woran man ist... einem von uns beiden muß sie doch gehören... entweder gehört sie Plinker...«

»Wie können Sie glauben?« unterbrach ihn die Baronin.

»Na; dann gehört sie natürlich keinem andern als mir«, schlug sich der alte Graf auf das dürre, gichtische Bein.

»O, von ganzem Herzen!« rief Molly, wie eine Rose erglühend.

»Na... das ist mir sehr angenehm... nun wird mir doch zu Hause nichts mehr fehlen«, nickte der alte Graf; »dann kann ich sie mir auch wohl bald mitnehmen... wie?«

Die Baronin sah ihn mit einem zärtlich mütterlichen Blick an; dann machte sie Charlotte ein Zeichen, aufzustehen, das diese befolgte.

Schwülenberg erhob sich ebenfalls.

»Ich wußte ja gar nicht mehr, wie sie aussieht«, trat er zur Baronin heran; »nun will ich sie aber gleich ordentlich genießen...«

»Graf... mäßigen Sie sich... ich beschwöre Sie!« unterbrach ihn die Baronin mit leiser Stimme... »Sie sind eine wilde, leidenschaftliche Natur, die gezügelt werden muß.«

Schwülenberg sah sie mit einem Gesicht an, als wenn er sie nicht verstanden hätte.

»Ach so«, lächelte er dann gutmütig; »Sie denken wohl, es konnte zuviel werden... ach nein, seien Sie unbesorgt... das schad't mir nicht... das bin ich gewöhnt.«

»Still, Graf... Sie werden begreifen, daß ich solche Worte nicht hören darf«, sagte die Mutter wie vorhin.

Schwülenberg machte eine tief nachdenkliche Miene.

»Ach so«, dachte er dann; »sie meint, hier in dem guten Zimmer paßte sich das nicht... na, natürlich, da hat sie auch ganz recht...«

»Sie haben mich falsch verstanden, Frau Baronin«, setzte er dann laut hinzu; »es versteht sich von selbst, daß ich erst anfange, wenn ich zu Hause...«

»Ich danke Ihnen, Graf... ich hielt es auch nicht anders für möglich.

»Nun natürlich«, nickte Schwülenberg... nun mochte ich sie aber eigentlich... bald allein...«

Die Baronin verstand und trat schnell zu ihrer Tochter Molly.

»Er will mit dir allein sein«, flüsterte sie ihr zu; »er will dich um deine Hand bitten... wir dürfen das Feuer nicht erkalten lassen.«

»Ich vergehe vor Angst«, spielte Molly selber mit ihrer Mutter Komödie.

Diese ließ sich jedoch durch die Bemerkung durchaus nicht beirren, sondern ging nun zu ihrer andern Tochter.

»Setze dich ans Klavier und spiele den Sehnsuchtswalzer«, raunte sie ihr zu; »aber recht gefühlvoll und pianissimo.«

Charlotte gehorchte und ging in den Salon, dessen Tür sie hinter sich zumachte.

»Auf Wiedersehen, Graf«, verneigte sich dann die Baronin mit einem vielsagenden Blick vor ihrem Gast.

»Empfehl' mich Ihnen, Frau Baronin!« nickte dieser gutmütig.

Die Wirtin rauschte hinaus, und aus dem Salon tönten die gedämpften Klänge des Sehnsuchtswalzers.

Und draußen auf der dürren Pappel saß noch immer der unglückliche Fähnrich von Klötersdorf und klapperte vor Frost mit den Zähnen, und der Mond schwamm höher am tiefblauen Himmel empor, und sein dickes Gesicht wurde immer freundlicher.

Als die Baronin mit ihrer Tochter Charlotte das Zimmer verlassen hatte, schien Schwülenberg unschlüssig, ob er sich bis zur Rückkehr der ersteren noch einmal setzen oder gleich marschbereit bleiben solle.

Aber Molly half ihm über die Verlegenheit hinweg.

»Kommen Sie hierher an meine Seite...« deutete sie mit ihrer schmalen weißen Hand auf den leergewordenen Sofaplatz.

Der alte Graf leistete wohl oder übel dem Verlangen Folge, ließ sich stöhnend nieder und machte dann ein Gesicht, als wenn ihm die körperliche Übung schwer geworden sei.

Molly saß neben ihm, blickte lächelnd in ihren Schoß und schien sehnsüchtig darauf zu warten, daß ihr Anbeter seine zarte Verlegenheit überwinden und jene süße Rede beginnen werde, in der man gewöhnlich stecken bleibt, die fast nie zu Ende gesprochen wird, die aber dennoch eine so große Wirkung ausübt.

Aber der alte Graf überwand seine Verlegenheit nicht und begann deshalb auch nicht die süße Rede.

Molly seufzte.

»Tut Ihnen 'was weh?« wandte sich Schwülenberg aus seinem Traum erwachend, zu ihr um.

Das Mädchen nickte und legte die rechte Hand unter die Rundung ihres junonischen Busens, dessen reine Formen zu verbergen das leichte Kleid sich ohne Erfolg bemühte.

»Ach so«, blickte der alte Graf aufmerksamer hin; »Herzklopfen.. da müssen Sie ein Glas Sodawasser trinken, das beruhigt.«

Molly schien im Ernst nicht zu wissen, in welchem Sinne sie die Äußerung nehmen sollte; Schwülenberg ließ sich aber auf keine weitere Erklärung ein, sondern versank, nachdem er genug gesehen, wieder in seine sogenannten Gedanken.

»Nun... was ist denn das?« wunderte sich das Mädchen im stillen; »erst drückt er sich beinahe zu deutlich aus und nun hat er vollständig den Faden verloren... er vergißt mich vielleicht noch einmal... dazu soll es nicht wieder kommen... er darf nicht von hinnen gehen, ohne sich erklärt zu haben... ich muß alle Hilfsmittel benutzen, um über seine Teilnahmlosigkeit siegreich zu werden... erst muß man ihn wohl wieder auf die rechte Spur bringen, damit er sich weiter findet.«

»Graf!« berührte sie dann leise seinen Arm...

Schwülenberg wandte sich um.

»Weshalb heiratet eigentlich ein Mann ein Mädchen?« blickte sie ihn mit dem unschuldigsten Kindergesichtchen an.

»Na...« schmunzelte Schwülenberg; »weil er ihr gut ist...«

Molly schloß die Augen und ließ ein künstliches Zittern durch ihren Körper laufen.

»Nanu«, sagte der Graf; »was ist denn das wieder?«

»Mich überlief's... wie dem Gretchen«, hauchte das schöne Weib.

Schwülenberg sah erst nach der Decke, ob es vielleicht durchregnete, dann glaubte er, es sei ein Insekt gewesen, und zuletzt dachte er an gar nichts mehr.

Molly begann schon ungeduldig zu werden.

»Also ein Mann heiratet ein Mädchen immer, wenn er ihr gut ist«, knüpfte sie dann wieder an... »nicht wahr, dann wohnen sie bloß beieinander... und gehen zusammen spazieren... und geben sich manchmal einen Kuß... und weiter tun sie nichts.«

»Ja...« lächelte Schwülenberg; »sie bilden doch vor allen Dingen eine Familie...«

»Wie machen sie denn das, wenn sie eine Familie bilden?« fragte Molly mit naiv kindlicher Neugier.

Der alte Graf kratzte sich verlegen den schwarzbehaarten Kopf.

»Wissen Sie das nicht?« rückte ihm das Mädchen ein klein wenig näher.

Schwülenberg schien nicht zu wissen, wie er sich hier aus der Klemme ziehen sollte.

»Dann können Sie ja auch nicht heiraten.«

Der Graf grübelte noch immer.

»Und Sie wollen doch gern heiraten.«

»Hm... warum denn nicht?« schmunzelte Schwülenberg.

Molly rückte noch ein wenig näher und ihre Augen hefteten sich erwartungsvoll an seine bärtigen Lippen; aber die bärtigen Lippen machten nicht mehr den gewünschten Zusatz.

»Gott, welch ein Mann!« dachte das vor Aufregung zitternde Mädchen; »er vergißt immer wieder was er will... man müßte ihn mit Sturm erobern...«

Und sie rückte abermals näher, jetzt schon so nahe, daß ihre Schulter sich an die des Grafen lehnte, daß ihre zarte Wange die äußersten Spitzen seines langen Schnurrbarts berührte.

Schwülenberg machte ein Gesicht, als wenn ihm das behaglich wäre.

Molly legte jetzt ihre Hand der seinen so nahe, daß er nur die leiseste Bewegung zu machen brauchte, um sie zu fassen.

Schwülenberg machte diese Bewegung nicht, aber er neigte dafür den Kopf unwillkürlich ein klein wenig mehr nach links, damit das Kitzeln an seinem Schnurrbart etwas nachhaltiger würde.

Aber die schöne Molly zog aus dem kleinsten Umstande ihren Nutzen; denn kaum hatte sie die unbedeutende Annäherung bemerkt, als sie einen lauten Schrei ausstieß, sich die Hände vor das Antlitz hielt und scheu in ihre Sofaecke flüchtete.

Schwülenberg fuhr mit einem Schreck aus seiner angenehmen Situation empor.

»Mein Gott; was ist Ihnen denn?« fragte er; »haben Sie sich gestochen...?«

Molly kreischte noch lauter auf.

»Weshalb schreien Sie denn aber so?« wurde der Graf förmlich ängstlich... »so sprechen Sie doch wenigstens...«

»Lassen Sie mich... ich beschwöre Sie... lassen Sie mich!«

»Aber ich tue Ihnen ja gar nichts, wertes Fräulein...«

»Sie haben mir aber etwas getan...«

»Ich habe Ihnen etwas getan... was denn?«

»Sie haben mich geküßt... und das durften Sie noch nicht!«

Schwülenberg machte ein Gesicht, als wenn die Katze donnern hört.

»Ich habe Sie geküßt?« fragte er; »davon müßte ich doch etwas gemerkt haben; erlauben Sie also...«

»Nein, nein... nicht noch einmal... lassen Sie mich...« sprang Molly auf und floh in eine Zimmerecke.

»Aber, so nehmen Sie doch Vernunft an«, erhob sich auch Schwülenberg; »wie können Sie behaupten...?«

Molly floh kreischend in eine andere Ecke.

»Ich beschwöre Sie«, folgte ihr der alte Graf; »machen Sie doch kein Aufsehen... wenn das die Leute hören...«

»Ich fürchte mich vor Ihnen... lassen Sie mich hinaus...« zeterte das Mädchen weiter.

Schwülenberg wurde so entrüstet, wie man ihn selten gesehen hatte, und Molly bemerkte es mit glänzenden Blicken.

»Jetzt oder nie!« dachte sie; »es ist ihm wieder leid geworden; aber er soll mich jetzt bloßstellen; dann kann er nicht mehr zurück.«

Und dann floh sie nach der Flurtür, um hinauszueilen.

Charlotte spielte ihren Sehnsuchtswalzer ruhig weiter; die alte Baronin blickte durch das Schlüsselloch.

»Ich lasse Sie nicht... bleiben Sie... Sie sollen nicht das ganze Haus in Aufruhr bringen«, wollte Schwülenberg ihren Arm fassen.

»Hilfe! Rettung!« wich Molly seiner Berührung aus; öffnete mit schnellem Griff die Flurtür und eilte immer noch schreiend die Treppe hinauf, die zu ihrem Schlafzimmer führte.

Schwülenberg machte ihr einige Schritte nach, bis er gegen das Treppengeländer rannte und mit einem ächzenden Klagelaut stehen blieb.

Charlotte spielte immer noch ihren Sehnsuchtswalzer.

Was Molly betrifft, so eilte sie mit der Schnelligkeit einer Gazelle die bekannten Stufen empor, flog in ihr Schlafzimmer, ließ die Tür offen und steckte Licht an.

Dann horchte sie.

Schwülenberg, der sich unten auf dem dunklen Flur nicht zurechtfinden konnte, polterte am Treppengeländer herum.

Molly begann wieder nach Hilfe zu rufen.

»Er kommt!« dachte sie; »wenn er hier in meinem Zimmer gesehen wird, kann er nicht mehr zurück.«

Und einem schnellen, gewagten Entschluß folgend, begann sie das Tuch zu lüften, das sie über ihrem Kleide trug, und warf sich dann in nachlässiger Stellung in die Sofaecke.

Und draußen auf der dürren Pappel saß noch immer der unglückliche Klötersdorf und drückte sich Hühneraugen, wo sie eigentlich gar nicht hingehören, und klapperte mit den Zähnen vor Frost und Unbehagen.

Als er das Kreischen einer weiblichen Stimme gehört, war er aus der Seelenqual des allmählichen Erfrierens aufgerüttelt worden und hatte die matten Ohren zu spitzen versucht.

Da stammte ein Lichtschein in dem Giebelfenster auf. Er sah ein bildschönes Weib ins Zimmer stürzen; er sah ein dunkles Tuch sich verschieben... er sah... Und das erkaltete Blut begann plötzlich ihm wieder wärmer durch die Adern zu laufen; und als das schöne Weib auf das Sofa sank und den oberen Teil ihres Körpers dadurch seinen Blicken entzog, da bekam er auch wieder Leben in die erstarrten Beine und führte eine lebensgefährliche Kletterei aus, um einen tieferen Blick in das Zimmer zu bekommen.

Und der gute, verschwiegene Mond, der sich ebenfalls für solche Sachen interessiert, blickte ihm über die Schultern hinweg und machte dann ein förmlich verschmitztes Gesicht, als wenn er etwas gesehen hätte.

Als die schöne Molly eine Weile mit geschlossenen Augen in dieser verführerischen Stellung gelegen hatte, begann ihr die Sache langweilig zu werden.

»Was ist denn das?« dachte sie, »er kommt ja nicht... wo kann er geblieben sein? - Auf der Treppe alles still... sollte er gegangen sein, ohne... oh, das wäre ja abscheulich!« -

Sie hob etwas den Oberkörper und horchte.

Kein Laut; alles war still im Hause.

»Ich möchte wohl wissen, ob Charlotte noch Klavier spielt«, stand Molly dann vom Sofa auf... »wenn er gegangen wäre, würde sie doch aufgehört haben... ich will einmal das Fenster öffnen und horchen...«

Sie nahm ein Tuch um, kettelte einen Flügel auf und lehnte sich hinaus.

Charlotte hatte richtig aufgehört zu spielen.

»Er ist fort«, dachte Molly; »abscheulich... ab...«

Hier unterbrach sie sich aber plötzlich und stieß einen leisen Schrei der Überraschung aus.

»Da sitzt er auf dem Baum!... sonderbarer Mann... er hätte es doch viel bequemer haben können... wie er nur da hinaufgekommen ist mit seinen gichtischen Beinen... es war also nur Schüchternheit ... seine Seele glüht, aber er bringt die Erklärung nicht heraus... aber gleichviel, diese Situation ist ebensogut wie ein Anhalten um meine Hand... er darf nicht merken, daß ich ihn gesehen habe, damit er noch ein bißchen sitzen bleibt...«

Nach diesem Entschluß verharrte sie noch ein Weilchen in dem geöffneten Fenster; dann schloß sie dasselbe wieder und löschte das Licht, damit ihr Anbeter glauben solle, sie sei zu Bett gegangen.

»Gott sei Dank!« dachte Herr von Klötersdorf auf seiner Pappel; »sie hat mich nicht gesehen... das wäre ja auch eine gräßliche Geschichte geworden... wenn ich nur wüßte, ob der Köter noch unten säße... da ist gerade solch' tiefer Schatten... vielleicht ist er schon weg... ich kann es wahrhaftig nicht mehr länger aushalten.«

»Donnerwetter!« schmunzelte der Mond; »das ist ein hübsches Mädchen; wenn ich die Beine hätte, wie der dumme Kerl da auf dem Baum, ich wäre ins Fenster geklettert.«

Nachdem Molly das Licht gelöscht, eilte sie schnell die Treppe hinunter, um ihrer Mama und ihrer Schwester zu zeigen, zu welch' gefährlichem Abenteuer die Liebe ihren Anbeter verleitet habe.

Mit schnellem Griff riß sie unten die Tür auf, erstarrte aber vor Staunen, als sie den alten Grafen ganz gemütlich bei ihrer Mutter auf dem Sofa sitzen sah.

»Wie kommen Sie denn hierher?« fragte sie, nachdem sie sich von dem ersten Schreck erholt.

»Wie ich hierherkomme?« wiederholte Schwülenberg ruhig; »draußen wurde es mir zu kalt, und da bin ich in die Stube zurückgegangen.«

»Der Graf hat fortwährend nach dir gefragt... er wollte nicht ohne dich gehen«, lächelte die Baronin etwas gekniffen.

Schwülenberg machte ein verwundertes Gesicht und schien darüber nachzudenken, ob er das wirklich getan hätte.

Molly hörte gar nicht darauf.

»Während ich die Treppe hinuntereilte... in kaum einer Minute... haben Sie den weiten, beschwerlichen Weg gemacht?« blickte sie den Grafen starr und verwundert an.

Dieser, der die vorige Aufgabe noch nicht gelöst hatte, begann über die letzte nachzudenken.

»Das ist doch kein beschwerlicher Weg«, sagte er dann mit mattem Lächeln; »ich war ja auch schon zehn Minuten vor Ihnen hier.«

Mollys Züge nahmen jetzt deutlich den Ausdruck des Schreckens an.

»Das geht nicht mit rechten Dingen zu!« rief sie; »vor zwei Minuten saßen Sie noch auf dem Baum und jetzt sitzen Sie hier schon auf dem Sofa!?«

»Wo habe ich zuerst gesessen?« fragte Schwülenberg, der nicht recht gehört zu haben glaubte.

»Auf der Pappel draußen!«

»Auf der Pappel?« wiederholte der alte Graf; »wo ist denn 'ne Pappel?« ,

»Du phantasierst, Kind«, lächelte die Mama; »die Liebe hat dir dein Köpfchen verdreht... und unserm trefflichen Freunde hier auch...«

»Er sitzt also wirklich schon seit zehn Minuten auf dem Sofa?«

»Ganz gewiß!«

Molly stürzte durch das Zimmer nach dem Fenster, riß es auf und stieß einen abermaligen Schrei der Überraschung aus.

»Mein Gott! was ist dir?« erhob sich die Mama.

»Da sitzt ein anderer auf der Pappel!«

»Ein anderer?« trat die Baronin ans Fenster.

»Das ist ja eine teufelmäßige Geschichte!« erhob sich der alte Graf und blickte ebenfalls hinaus.

Dem armen Klötersdorf wurde jetzt furchtbar unheimlich zumute.

»Das ist ja ein Dragoner«, sagte Schwülenberg; »Sie da... was wollen Sie denn da? - Kommen Sie 'mal gleich 'runter!«

Mutter und Tochter gaben sich die größte Mühe, den verwegenen Beobachter zu erkennen.

»Sie da... Dragoner!« schrie der alte Graf; »haben Sie nicht gehört?... augenblicklich steigen Sie vom Baum und kommen hierher!«

Klötersdorf bekam eine fürchterliche Angst; was sollte er sagen, wenn er erkannt wurde... womit sollte er sich rechtfertigen... die Geschichte konnte die allerschlimmsten Folgen für ihn haben...

»Rettung!« dachte er... »um jeden Preis... schlimmer kann es nicht werden!...«

Und mit einer schnellen Bewegung ließ er sein Gesäß von dem Ast gleiten, klammerte sich gleichzeitig mit beiden Händen an einen andern, hing einen Augenblick in der Schwebe und ließ sich dann auf gut Glück niederfallen.

In demselben Moment ertönte ein furchtbares Geheul, und der betäubt gewesene Hund, dem der Fähnrich auf den Leib gesprungen war, rannte mit eingeklemmtem Schwanz, entsetzliche Klagetöne ausstoßend, der Lohmühle zu.

»I«, dachte der Mond; »ich muß doch einmal sehen, wer der närrische Kerl eigentlich ist«, und damit blickte er ihm voll ins bleiche Angesicht.

»Herrje; der sieht ja aus, wie unser Fähnrich Klötersdorf«, sagte der alte Graf; »na, so etwas lebt nicht mehr. - Fähnrich! Fähnrich!«

Der unglückliche Mensch bekam einen solchen Schreck, daß er beinahe ins Wasser gefallen wäre; dann aber hauchte ihm die Verzweiflung neue Kräfte ein, und er lief wie ein gehetzter Hirsch immer die Straße hinunter nach dem Mühlentore zu; der Mond aber, der ihn ohne seinen Willen verraten, wollte es wenigstens dadurch wieder gutmachen, daß er ihm seinen Weg erleuchtete, bis er schweißtriefend und keuchend seine Wohnung im weißen Schwan erreichte.

Die Gruppe am Fenster blieb eine ganze Weile sprachlos.

»Na, so was lebt in der Welt nicht mehr!« brach endlich Schwülenberg das lange Schweigen.

Mutter und Tochter schienen sich noch nicht klar, wie sie sich dazu benehmen sollten.

»Sie dachten also, ich säße da draußen auf der Pappel?« lachte der alte Graf; »na, das sollte mir einfallen...«

Die beiden Damen standen noch immer wie die Salzsäulen.

»Na... nun will ich mich aber empfehlen«, begann Schwülenberg zum drittenmal; »gnädige Frau, wollen Sie nun wohl die Güte haben, sie mir zu geben?«

Mutter und Tochter sahen sich mit neuer Hoffnung bedeutungsvoll an.

»Oh... von Herzen gern, Graf...« lächelte die Baronin, Mollys rechte Hand nehmend und ihm dieselbe hinhaltend: »sie ist die Ihre.«

»Das weiß ich wohl, daß sie meine ist«, sagte Schwülenberg, ohne die ihm dargebotene Hand zu bemerken; »aber ich möchte sie nun doch gleich mitnehmen... deshalb bin ich ja hauptsächlich hergekommen...«

»Aber, Graf!« sagte die Baronin, während Molly die Augen niederschlug.

»Mein Gott, da ist ja nichts dabei«, lächelte dieser; »es ist ja dunkel... wer sieht's denn... was soll ich da morgen erst meinen Burschen schicken!«

»Graf!« machte die Mutter noch einmal; »man muß Ihnen schon verzeihen, um Ihrer Leidenschaft willen... aber mitnehmen können Sie sie heute noch nicht... in vier Wochen allerfrühestens.«

»Hm!« schüttelte Schwülenberg den Kopf; »ich hatte mich so d'rauf gefreut... Sie haben wohl 'was d'ran entzwei gemacht, was Sie erst wollen ausbessern lassen?«

Mutter und Tochter wurden noch einmal starr vor Staunen.

»Ja... dann hilft's nichts«, sagte der Graf; »dann muß ich mir morgen wieder meine alte nehmen.«

»Ihre alte?« fragten die beiden Damen, wie aus einem Munde.

Schwülenberg nickte gutmütig.

»Die neue wäre mir freilich lieber gewesen«, sagte er; »und dann hätte man auch immer ein bißchen abwechseln können... aber was nicht ist, das ist nicht...«

»Haben Sie denn zwei Bräute?« fragte die Baronin ganz empört.

»Was?« machte Schwülenberg verwundert; »was soll ich haben ... zwei Bräute?«

»Gewiß!«

»Keine einzige habe ich.«

»Aber Sie sprachen doch fortwährend davon.«

»Von Bräuten... fällt mir gar nicht ein... von Pfeifen habe ich fortwährend gesprochen... Sie wollen sich wohl 'nen kleinen Spaß mit mir machen?«

»Von Pfeifen?« wiederholte die Baronin, mit langem Gesicht.

»Nun natürlich... ich sagte Ihnen ja gleich, daß mir zu Hause eine fehlte... und daß ich deshalb glaubte, sie stände hier...«

Den beiden Frauen stieg die Zornesröte ins Antlitz.

»Na... und da Sie mir selbst sagten, daß sie nicht Plinker gehörte, so mußte es doch notwendigerweise meine sein«, beschloß der alte Graf seine Auseinandersetzung.

»Dann tut es mir leid, daß Sie sich vergeblich herbemüht haben«, entgegnete mit flammenden Augen die Baronin; »weder Sie noch Herr von Plinker haben Ihre Pfeife hier stehen lassen.«

»I, das wär' der Teufel...« kratzte sich Schwülenberg den Kopf; dann muß sie mir mein Bursche gemaust haben.«

Die beiden Damen antworteten ihm nicht mehr.

»Na... dann nehmen Sie's nur nicht übel, Frau Baronin«, entschuldigte sich der Graf; »dann habe ich mich geirrt... ich empfehle mich Ihnen gehorsamst.«

Die Damen machten eine steife Verbeugung.

Schwülenberg nahm Mantel und Mütze und verließ das Zimmer.

»Das war ein abscheuliches Mißverständnis«, sagte die Baronin, als der Graf gegangen war.

»Glücklicherweise ist ihm die Sache nicht ganz klar geworden«, meinte Molly mißlaunig.

»Halten wir uns jetzt jedenfalls an den andern«, entschied die Mama; »die Situation muß ausgenutzt werden... doch nun wollen wir zu Bett gehen... ich bin müde und angegriffen... wo ist denn Charlotte?«

Die ältere Schwester nahm die Lampe und leuchtete in den Salon.

»Sie ist bei ihrem Sehnsuchtswalzer eingeschlafen«, sagte sie mit spöttischem Lächeln; »wache auf, Lottchen, und komm zu Bett.«

Die Lampe wurde ausgedreht, die Töchter sagten der Mutter gute Nacht und gingen dann in ihr Schlafzimmer hinauf, während die Baronin unten blieb.

Als der Mond sah, daß die Fenster sich erleuchteten, die ihm vorhin so viel Vergnügen gemacht hatten, machte er wieder sein altes, verschmitztes Gesicht und blickte neugierig hinein.

Aber ehe die Mädchen einen Haken geöffnet oder eine Nadel gelöst hatten, rollten schnurr... schnurr, die beiden weißen Vorhänge herunter.

»Pfui Teufel!« sagte der Mond, »das war abgeblitzt!« -

Als der alte Graf das Haus der Baronin Möhrenstolz verlassen hatte, wandelte er langsam und in Gedanken wieder dem Städtchen zu.

»Das war eigentlich 'ne komische Geschichte heute abend«, brummelte er in seinen langen, schwarzen Schnurrbart; »ein teufelmäßiges Frauenzimmer ist aber die Molly... ich gehe nicht wieder hin... und dieser Klötersdorf... der blöde Schäfer... wer hätte das von ihm gedacht... oder war es vielleicht der Strammin...«

Indem er hierüber noch tief nachdachte, kam er beim Rittmeister Schimmelmann vorbei, um über den Markt nach seiner Wohnung zu gehen.

»Donnerwetter! was grabbelt denn da bei dem alten Nachtwächterhause 'rum? ih... das ist ja der Strammin... da muß doch der andere der Klötersdorf gewesen sein... na, wir haben ein paar nette Fähnriche... das sind ja teufelmäßige Bengels.«


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