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Drittes Kapitel.
Der Retter in der Not.

Die Familien Villier und Marignan waren sowohl durch Bande der Freundschaft als des Blutes eng verknüpft und verkehrten, besonders seit die Gräfin Marignan nach dem Tod ihres Gemahls die Verwaltung ihrer Güter einem Inspektor übergeben und ihren Wohnsitz nach der Stadt verlegt hatte, viel miteinander. Heute waren die jungen Mädchen mit ihrem Vater gekommen, um Einkäufe für ihre Toilette zu machen, denn die Gräfin wollte zur Feier des einundzwanzigsten Geburtstags ihres Sohnes einen glänzenden Ball geben.

Der Marquis hatte seine Töchter begleitet, weil er gern jede Gelegenheit wahrnahm, aus der Einsamkeit seines Landsitzes heraus in die Stadt zu kommen. Sein lebhafter Geist nahm leidenschaftlichen Anteil an den großen Fragen der Zeit und er liebte es, darüber zu sprechen, sei es nun mit Gleichgesinnten in anregendem Gedankenaustausch, oder mit solchen, die anderer Meinung waren, in nicht minder anregendem Wortgefecht.

Das Vergnügen des letzteren hatte er fast immer seinen Standesgenossen und Verwandten gegenüber, denn wenig Aristokraten traten wie er für die Rechte des Volkes und die Verbesserung von dessen Lage ein. Es gab heute einen heftigen Streit zwischen ihm, seiner Schwester und deren Sohn, weil er sogar für die Abstimmung nach Kopfzahl war.

Renée hatte mit Anteil der politischen Unterhaltung zugehört, sie interessierte sich für alle ernsthaften Dinge und kannte sogar die Broschüre des Abbée Sayes. Doch wurde sie bald von Jeanne und Eugenie ins Gespräch gezogen, die wieder von Hortense Ribot redeten.

»Sie wird nicht wissen, warum wir sie auf einmal so kühl behandeln, im Kloster war sie sehr intim mit uns,« bemerkte Jeanne.

»Sie ist klug genug, die Ursache bald heraus zu fühlen und wenn sie wirklich so dumm wäre, keinen Standesunterschied zu kennen, so müßte man ihr's je eher je lieber beibringen!« sagte Renée.

»Deshalb freue ich mich, sie neulich gar nicht angenommen zu haben, als sie mich besuchen wollte, obschon ich gern mit ihr geplaudert hätte, denn Hortense Ribot war mir immer lieb,« fügte Eugenie hinzu. »Doch nun genug davon! Die Vorsehung hat einmal verschiedene Menschenklassen geschaffen; – sagt mir jetzt, was wollt Ihr zu unserm Ball anziehen?«

Das war ein wichtiges Thema, das selbst die ernstere Renée alles andere vergessen ließ und die Fragen des aufrührerischen Abbé: was ist der dritte Stand? – was ist er bis jetzt? – und was kann er werden? – traten ebenso wie die Frage, ob Fräulein Ribot salonfähig sei? auch bei ihr gegenüber der Toilettenfrage zurück.

Nach einem in bester Stimmung eingenommenen Mittagsmahl beschlossen die drei jungen Mädchen, sich sofort zur Modistin auf den Weg zu machen und zwar zu Fuß, da man befürchtete, ein herrschaftlicher Wagen könnte wieder zu viel Aufsehen erregen. Der Marquis war noch während des Nachtisches davon gestürzt, um sich nach dem Stand der Volksbewegung zu erkundigen; er wollte gleich wieder kommen um seine Kinder abzuholen, aber er kam natürlich nicht und die jungen Mädchen wußten wohl, daß er, wenn er eine interessante Gesellschaft gefunden hatte, jede frühere Verabredung vergaß. Wollten sie daher ihre Auswahl noch bei Tag treffen, so mußten sie unverzüglich fort.

»Ich gehe natürlich mit Euch!« sagte der galante Vetter und schnallte seinen Degen um.

»Mit Deiner Wunde, mein Henri, nimmermehr!« rief die Gräfin entsetzt, »und überdies würde die schwarze Binde Dich aufs neue der Volkswut aussetzen.«

»Soviel ich sehe, ist kein Volk mehr auf der Straße.«

»So können die jungen Damen auch ungefährdet durchkommen, ich gebe ihnen einen Diener mit,« sagte die Gräfin entschieden, und die jungen Mädchen erklärten, viel lieber allein gehen zu wollen. Die Herren hätten doch keine Ruhe, meinten sie, so lange zu warten, bis sie ihre Blumen und Bänder ausgewählt haben würden.

Vielleicht wäre der tapfere Vetter aber doch noch mitgegangen, wenn nicht drei seiner Freunde sich bei ihm hätten anmelden lassen, um ihn in einer wichtigen Angelegenheit zu sprechen.

»Ah, ich weiß schon, es gilt eine Organisation der Aristokratie dem Volksaufruhr gegenüber, da muß ich die Damen freilich einem anderen Schutze überlassen!« sagte Henri eifrig und verschwand mit eiligem Gruß. Die Mahnung seiner Mutter: »Henri, mein Henri, laß Dich in keine Unvorsichtigkeit ein!« hörte er gar nicht mehr, und hätte er sie gehört, so würde er sie nicht beachtet haben.

Es dauerte lange, bis die drei jungen Damen ihre Wahl bei der Modistin getroffen hatten. Renée suchte sich erst einen gelben Rosenzweig, dann weißen Flieder aus und entschied sich zuletzt für scharlachrote Granatblüten, die zu ihren blassen Wangen und dunklen Augen am besten paßten. Jeanne, die zu flüchtig war, um allzuviel Wert auf ihre Toilette zu legen, hatte sich ein abscheuliches Bouquet bunter Phantasieblumen ausgewählt; es dauerte lange, bis Renée und Eugenie sie dazu vermocht hatten, statt dessen einen täuschend nachgeahmten Kranz von rosa Rosen zu erstehen, der, seitwärts aufgesteckt, sich anmutig auf ihrer hohen Frisur wiegte und trefflich zu dem frischen, selbst einer kaum aufgeblühten Rose gleichenden Gesichtchen stand.

Eugenie ließ sämtliche Vorräte des Ladens vor sich ausbreiten, sich bald diesen, bald jenen Blumenzweig ins Haar stecken und fand schließlich, daß sie in allem »entsetzlich« aussehe, obschon sie alles zu ihrem pikanten, brünetten Gesichte vortrefflich kleidete. Nachdem sie die sämtlichen Bediensteten des Ladens fast zur Verzweiflung gebracht hatte, sie dann aber durch ein paar Scherzworte immer wieder beruhigte, kam sie doch noch zu keinem festen Entschluß und erklärte schließlich, man könne jetzt nichts mehr sehen, man solle ihr einen Kasten mit Proben ins Haus schicken. So war es ziemlich spät geworden, als man endlich fertig war. Auf den Straßen herrschte bereits tiefe Dunkelheit, denn Gaslicht kannte man damals noch nicht. Der Diener eilte deshalb in den Laden zurück, um die große Glaslaterne anzuzünden, die er den Damen vorantragen mußte. Indes diese aber wartend vor dem Hause standen, kam eine Bande aufgeregter Leute lärmend und singend die Straße herab. Man hörte laute Schimpfreden auf die Aristokraten, die mit blanken Degen friedliche Bürger niederstachen, und ehe sie sichs versahen, waren die drei jungen Damen von den rohen Burschen umringt.

»Ah, die hübschen Aristokratinnen! Kommen Sie mit, meine Schönen!« scholl es hohnlachend den zum Tode Erschrockenen entgegen. Ängstlich faßte Jeanne die neben ihr stehende Eugenie an und diese riß sie blitzschnell mit dem Rufe: »Viktor, Viktor Moreau!« mit sich fort, schnurstracks auf den jungen Rechtsgelehrten zueilend, der langsam, ohne sich um die lärmende Gesellschaft zu kümmern, die Straße hinunterging. »Retten Sie uns! Bitte, lieber Viktor, retten Sie uns!« rief sie und hing sich an seinen Arm.

Erschrocken stand Moreau still und blickte Eugenie verwundert an.

Rasch die Sachlage erkennend, zog er dann ihren Arm in den seinen und bot Jeanne seinen anderen an.

»Viktor Moreau, ah! Viktor hoch!« schrieen die Burschen und stürzten, die Hüte schwenkend, auf ihn zu. Sie hatten Eugeniens Ruf verstanden. Der Angeredete aber entzog sich der unwillkommenen Huldigung, indem er mit seinen beiden Damen in der dunklen Allee verschwand, die sich seitwärts an die Straße anschloß. Hinter den dreien her rannte der Diener mit der großen Laterne, deren vier Wachskerzen in Brand zu stecken ihm erst nach geraumer Zeit gelungen war.

Es dauerte lange, ehe die geängstigten jungen Mädchen sich einigermaßen gefaßt hatten, dann erst wurden sie gewahr, daß Renée fehlte. Sie sahen Jean mit der großen Laterne ihnen nacheilen und warteten auf ihn, sicher, daß er die Verlorene mitbringe. Doch dieser kam allein: Der Docht der Wachskerzen sei feucht gewesen und deshalb schwer anzuzünden, entschuldigte er sich. Das Fräulein Renée habe er nicht gesehen.

Moreau erbot sich sofort, zurückzukehren und sie zu suchen. Aber fester als zuvor klammerte Eugenie sich an seinen Arm. »O, lassen Sie uns nicht allein, bitte, nicht. Jean ist alt und kann uns nicht beschützen!« flehte sie; »Renée ist gewiß auf näherem Weg nach Hause gegangen und wird uns dort schon lange erwarten.«

»Das bezweifle ich,« sagte Jeanne, ernstlich in Sorge um die Schwester, »laß, bitte, wenigstens Jean umkehren und sie mit der Laterne suchen.«

»Hoffentlich ist dieser Diogenes glücklicher als der berühmte,« sagte Moreau, dem es trotz seiner demokratischen Gesinnung wohl that, daß die Tochter des ihm so verhaßten Aristokratenhauses bei ihm Schutz und Hilfe suchte.

Jeanne fand sein Scherzwort in diesem Augenblick ernster Sorge wenig passend und ging stumm und ängstlich neben ihren Begleitern her, die mit leiser Stimme von alten Zeiten sprachen, als gäbe es keine bange Furcht für ein geliebtes Wesen. Eugenie hatte nämlich den Jugendfreund daran erinnert, wie er sie schon einmal aus einer Gefahr errettet habe: damals, als ihr Hund eine junge Ente geraubt hatte, und sie als kleines Mädchen von einer Schar wilder Bauernjungen verfolgt worden sei. »O, ich erinnere mich noch, wie geborgen ich mich fühlte, als ich Sie sah und Ihre Hand erfassen konnte, Viktor!« sagte sie. »Sie hielten mich dann mit dieser einen Hand fest und mit der andern erhoben sie drohend einen Knüttel, vor dem die ganze Schar der Angreifer schreiend zurückwich.«

Moreau lächelte. Die Komtesse hatte ihm freilich seinen Ritterdienst schlecht gelohnt, denn als er von ihr verlangte, sie solle künftig ihren Hund am Strick führen, oder ihm einen Maulkorb umbinden, wenn sie mit ihm durchs Dorf gehe, hatte sie sich trotzig von ihm abgewandt und war, ihren »Ulysse« zu sich rufend, mit diesem davongerannt; – aber es war doch rührend, daß sie jene kleine Scene nicht vergessen hatte und auch jetzt in Moreau wieder ihren natürlichen Beschützer sah.

Die kleine Gesellschaft war inzwischen am Ende der Promenade angelangt und bog nun in die Straße ein, in der das Palais Marignan lag; da traf sie heller Lichterschein. Etwa fünf junge Leute, darunter Henri mit seiner schwarzen Stirnbinde, ihnen voran zwei Diener mit hellleuchtenden Pechfackeln in der Hand, kamen ihnen entgegen und waren bei ihrem Anblick hocherfreut.

»Ah, da haben wir die Flüchtlinge ja schon!« rief Henri. »Ihr bösen Kinder, was habt Ihr uns für Sorge gemacht! Soeben stürzt Mama schreckensbleich zu uns herein und fleht uns an, die verlorenen Schäflein zu suchen, deren langes Ausbleiben sie nicht begreifen kann. – Viktor Moreau! Ritter des Volkes und der Damen zugleich! Heute morgen retteten Sie mir das Leben, und nun das von Schwester und Cousine! Ich danke Ihnen, obschon ich Ihnen nicht dafür verbunden bin, daß Sie mich zu den Knaben rechnen.«

»Bitte sehr, die Sache ist nicht der Rede wert,« sagte Moreau und zog sich mit einer kurzen Verbeugung ins Dunkel zurück. Niemand hielt ihn auf, am wenigsten Eugenie, die bereits seinen Arm losgelassen hatte und scherzend auf die besorgten Worte antwortete, die ihres Bruders Freunde an sie richteten. Erst als die Fackelträger sich auf Henris Befehl wieder umwandten, um die Gesellschaft nach Hause zurück zu geleiten, blickte sie forschend umher und sagte mit naivem Erstaunen:

»Ist er fort, dieser gute Viktor? und ich habe ihm nicht einmal gedankt!«

»Als ob Du ihm jemals für eine der vielen Gefälligkeiten gedankt hättest, die er Dir erwiesen!« erwiderte Henri lachend, und seine Freunde meinten galant, es sei an dem jungen Manne dankbar zu sein, wenn eine so reizende junge Dame ihm Gelegenheit gebe, ihr einen Dienst zu leisten. In bester Laune schritt man dem naheliegenden Hôtel Marignan zu. Erst als Jeanne ängstlich rief: »Wir müssen doch erst Renée suchen! Oder ist sie schon zu Hause?« stockte die allgemeine Heiterkeit. Renée war nicht nach Hause gekommen und mit Recht warf Henri der Schwester vor, ihn nicht sofort davon benachrichtigt zu haben, daß die Cousine zurückgeblieben sei!

»Ach Jean wird sie mit seiner Laterne schon gefunden haben!« rief das sorglose Mädchen den jungen Leuten nach, die eilig davonstürmten, die Verlorene zu suchen, indes Eugenie und Jeanne den kurzen Weg nach Hause von den Fackelträgern zurückgeleitet wurden.

Aber trotz seiner Laterne hatte Jean die Verlorne nicht gefunden. Als Henri und seine Begleiter vor dem Modemagazin ankamen, stand er mit der dümmsten und unglücklichsten Miene von der Welt unter der Thür und ließ sich von Madam Duport, der Modistin den Weg beschreiben, den das gnädige Fräulein mutmaßlich gegangen sein könnte. Madame Duport selbst war übler Laune, war sie doch von Jean oben in ihrer Wohnung bei einem gemütlichen Souper, das ihr nach des Tages Last und Hitze trefflich schmeckte, gestört worden und hatte mit ihm die drei Treppen hinunter steigen müssen, weil der dumme Gesell die Richtung des Weges, den er zu gehen hatte, nicht finden konnte, wenn er ihn nicht vor Augen sah. –

»Das gnädige Fräulein ist,« so wendete sie sich jetzt an die jungen Leute, »mit Fräulein Mary Brissot, die hier arbeitet, in die Altstadt hinunter gegangen, damit Fräulein Brissots Bruder sie von dort nach Hause geleite.«

»Fräulein Mary Brissot? Die Tochter des verstorbenen Försters? –«

»Ich glaube, ja.«

»Madame, mit der ließen Sie sie gehen?«

»Fräulein Mary Brissot ist ein sehr anständiges Mädchen, das gnädige Fräulein kannte sie und ging sehr gerne mit. Es war nicht meine Sache, sie davon abzuhalten,« erwiderte Madame Duport mit beleidigter Miene.

Henri wandte sich verächtlich von ihr ab und sagte zu seinen Begleitern:

»Förster Brissot ist von meinem Onkel in Ungnade entlassen worden, die Leute hassen natürlich dessen Familie und haben Renée entführt, um sich an ihr zu rächen. Was glaubt Ihr, wird der Bruder sie nach Hause zurückbringen? Auf! laßt uns das Lamm aus der Wolfsschlucht holen!«

Die jungen Leute eilten kampfbereit von dannen, sie vergaßen in ihrem Eifer ganz, sich nach Frau Brissots Wohnung zu erkundigen. Jean, der in der Eile noch eine höchst unverdiente Ohrfeige von seinem Herrn bekommen hatte, wanderte betrübt mit seiner Laterne heimwärts.


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