Johann Karl Wezel
Herrmann und Ulrike / Band 1
Johann Karl Wezel

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Sechstes Kapitel.

Wie der Graf seinen Argwohn übertrieb, so übertrieb Schwinger die Gutmüthigkeit: er muthmaßte nicht einmal etwas Strafbares in der entdeckten Zusammenkunft, und in der festen Ueberredung, daß seinem Freunde Unrecht geschehe, tröstete er ihn unterwegs und ermahnte ihn zur gelaßnen Ertragung eines Unglücks, das ihm Jakobs Bosheit und seine eignen Verdienste vermuthlich zugezogen hätten. – »Durch Standhaftigkeit allein kannst du deine schadenfrohen Feinde demüthigen: laß dir nicht Eine Klage über dein Schicksal entwischen! Leide und freue dich ihnen zum Trotze über deine Leiden! Ein Kopf und so viele Thätigkeit, wie du besitzest, überwinden Feinde und Schicksal« – so sagte der gute Mann und gieng mit ihm zu seines Vaters Hause hinein.

Er vermuthete von Seiten der Eltern einige sehr betrübte Auftritte, wenn er ihnen Heinrichs Verweisung ankündigen würde, und 389 machte sich deshalb auf eine Trostpredigt gefaßt: wie erstaunte er, daß er mitten in seinen Tröstungen verstummte, als sich das Gesicht des alten Herrmanns immer mehr aufheiterte, je mehr er von dem gesprochnen Urtheil über seinen Sohn erfuhr. Er ließ vor Freude Schwingern nicht ausreden, sondern fiel seinem Sohn um den Hals und rief in unaufhörlichem Vergnügen: – So ist mirs recht! so ist mirs gelegen! Nun kann etwas aus dir werden, Junge! Ich hab' es dem Grafen mit dem Teufel Dank gewußt, daß er dich zu einem Stockfische machen wollte, wie er samt allen den Schlaraffengesichtern ist, die ihm den ganzen Tag die Pfoten küssen und den Rockzipfel lecken. Nun kann etwas aus dir werden. Fort mit dir, in die weite Welt! Wer da nicht klug wird, ist eine Gans von Hause aus: so ist dein Vater zum gescheiden Kerle geworden.« –

Schwingern drückte er so dankbar die Hand, als wenn er die glücklichste Bothschaft überbracht hätte, ließ ihm nicht Ruhe, bis er sich 390 niedersezte und eine Pfeife mit ihm zu rauchen versprach. Nillchen, rief er, Nillchen!

Nillchen antwortete nicht. Fama, die in solchen kleinen Städten nur in die Posaune zu hauchen braucht, um etwas, das in den verborgensten Kammern eines Hauses vorgefallen ist, zu Jedermanns Wissenschaft zu bringen, hatte das Urtheil des Grafen, so warm als es aus seinem Munde hervordrang, in jedes paar Ohren, das nicht taub war, von einem Ende des Städtchens bis zum andern ausgerufen, und das arme Nillchen, dem dieser Ruf auch in die Ohren geschallt hatte, sank in einem der Ohnmacht ähnlichen Schrecken dahin, als sie in der Küche – ihrem gewöhnlichen Zufluchtsorte bey bedrängten Umständen – Schwingers Bothschaft hörte. Kein schrecklicher Unglück konnte ihr in der Welt begegnen als eine solche Beschimpfung, und ihre Augen strömten, wie aufgezogene Schleußen, von ihrem weiblichen Thräuenvorrathe große Bäche dahin.

Nillchen! Nillchen! rief der Mann noch einmal voller Ungeduld, lief in die Küche und zog 391 sie bey dem Arme in die Stube. Schwinger, als er ihre Betrübniß wahrnahm, sezte sich in Positur, seine Trostpredigt bey ihr anzubringen: allein der Mann hieß ihn schweigen. »Was da?« sprach er. »Was trösten, betrüben und Possen! – Nillchen, ich habe heute große Freude an meinem Sohne erlebt: ich will mir mit dem Herrn da eine Güte dafür thun. Hier hast du einen ganzen Gulden: – geh zum Apotheker und laß dir von seinem besten Weine und von seinem besten Knaster so viel geben, als er dir dafür geben kann: und zwey Pfeifen, solang wie ich! Der Tag ist so gut wie dein Geburtstag, Heinrich. – Und Nillchen! fuhr er fort, als er sie schluchzen hörte – wenn du noch einmal so ein Gesichte machst und so grunzest und nicht gleich freundlich aussiehst, wie ein Maykäzchen, mit dem Ohrzipfel nagle ich dich hier an den Tisch an. Geh, und komme gleich wieder!« –

Schwinger wollte die Gasterey höflich verbitten: allein Herrmann versicherte ihm daß er ihn einmal mitten in einer Predigt öffentlich in 392 der Kirche einen Schurken nennen wollte, wenn er sein Traktament nicht annähme: und er mußte sich darein fügen.

Wein, Tabak und Pfeifen langten an, und das Gastgebot wurde eröfnet. Nillchen sezte sich in den Winkel, um ungestört ihrem Kummer nachzuhängen: ihr Mann foderte sie zum Trinken auf, sie schlug es seufzend aus. – »Nillchen!« fuhr er auf, »dich soll der Teufel holen, wenn du nicht in der Minute lustig wirst: dem Grafen zum Trotze solls heute hoch bey uns zugehn. Herr Schwinger! Sie klimpern ja auf dem Klavier: spielen Sie auf! Nillchen soll mit nur tanzen.«

Schwinger wurde mit Gewalt zum Klavier geführt und ihm befohlen, einen lustigen, extra lustigen Tanz zu spielen. Nillchen wollte entwischen: allein er faßte sie bey dem Arme, daß sie vor Schmerz schrie, und schleppte sie, die lange Pfeife im Munde, tanzend die Stube auf und nieder. Sie wollte nicht trinken, und er flöste ihr das Glas ein: der goldne Trank that seine Wirkung: sie fühlte ihr Herz um ein Glas 393 Wein leichter und gieng diesem Tröstungsmittel, nachdem sie es einmal gekostet hatte, so lange nach, bis ihr der Kopf so schwer wurde, als ihr vorher das Herz gewesen war. Der alte Herrmann hatte die ausgeleerte Flasche durch eine andre ersezt, und die ganze Gesellschaft war aufgeräumt, wie an einem Hochzeittage. Schwinger wartete die Lustbarkeit nicht bis zum höchsten Grade des Vergnügens ab, sondern stahl sich hinweg, um einen Versuch zu machen, ob sich nicht bey der Gräfin für Heinrichen ein Reisegeld oder vielleicht gar eine kleine Pension auswirken ließ, wenigstens so lange, bis er sein Unterkommen gefunden hätte.

Auch war er in seinem Gesuche glücklich: er paßte gerade die Zeit ab, als die Gräfin von Tafel in ihr Zimmer gieng, stellte sich ihr in den Weg und bat nur um einige Minuten Audienz. Die Gräfin, die bey dieser Unterredung eine Fürbitte für den exilirten Heinrich vermuthete, und besorgte, daß auch Andre sie vermuthen möchten, sah sich auf allen Seiten um, ob nicht etwa eine Kreatur von dem Maulesel 394 in der Nähe sey, und da sich kein solches gefährliches Thier blicken ließ, erlaubte sie ihm – aber noch immer nur verstohlner Weise – sie in ihr Zimmer zu begleiten. Das Gespräch eröfnete sich zwar auch mit einigen, doch sehr gemäßigten Vorwürfen über Schwingers schlechte Aufsicht, doch gestund sie ihm selbst zu, daß ihr Gemahl sich in seinem Argwohne übereilt, oder vielmehr von Heinrichs Feinden habe zur Uebereilung verführen lassen. Der nämliche Mund, der dem Verwiesnen vorher in des Grafen Gegenwart alles Verdienst abgesprochen und zum unwürdigen Buben erniedrigte, stimmte izt mit Schwingern in sein Lob ein: sie bedauerte ihn, hofte, daß die Entfernung von seinen Feinden zu seinem Glücke gereichen werde, und als Schwinger auf den eigentlichen Punkt kam und sie um eine Beysteuer für ihn bat, so wurde sie durch seine Vorstellungen und seine Freundschaft für den jungen Menschen so gerührt, daß sie lebhaft wünschte, etwas zu seinem Fortkommen beytragen zu können. Schwinger fachte die glimmende Empfindlichkeit vollends an, dankte 395 in seines Freundes Namen für ihre bisherigen Wohlthaten mit vieler Beredsamkeit, und sezte hinzu, daß er ihm ein kleines Monatgeld aus seinem eignen Beutel bestimmt habe. Nun fieng sie Feuer: sie hielt es für entehrend, daß der Informator eine Wohlthätigkeit fortsetzen sollte, die sie angefangen hatte. – »Sie sollen ihm nichts geben,« sagte sie: »ich verbiete es Ihnen. Er soll das Monatsgeld von mir empfangen: hab' ich so weit für ihn gesorgt, will ichs auch weiter thun. Aber es bleibt unter uns beiden: wenn ein Wort davon zu meines Gemahls Ohren kömmt, so hört die Wohlthat auf.« –

Sie gab ihm darauf vier Louisdor Reisegeld für Heinrichen und die Versicherung ihrer Gnade, wenn sie der junge Mensch durch seine Aufführung verdienen werde: Schwinger bat um einen Tag Urlaub, um seinen Freund zu begleiten, erhielt ihn, doch unter der Bedingung, Niemanden es merken zu lassen, schafte, sobald alle Anhänger der Gegenparthey zu Bette waren, Heinrichs Sachen zu seinen Eltern, brachte 396 die Nacht bey ihm zu, um ihn in aller Frühe in seiner Verweisung bis zum lezten Dorfe der Herrschaft zu begleiten.

Bey Heinrichen wurden durch diese Güte alle Schmerzen der Trennung von neuem aufgewiegelt: so sehr ihn auch sein Vater durch Beispiel und Ermahnungen zur Lustigkeit ermunterte, so blieb er doch sprachlos, niedergeschlagen, und oft, wenn ers am wenigsten vermuthete, überwältigte ihn die Betrübniß bis zu Thränen. Schwinger that ihm den Vorschlag, sich nach Dresden zu wenden, weil er ihm an zwey dortige Freunde, beide Advokaten, Empfehlungsbriefe mitgeben könne, die ihm vor der Hand, bis sich etwas beßres fände, den Plaz eines Schreibers verschaffen sollten: Heinrich, der einmal von der Baronesse gehört hatte, daß man sie nach Dresden thun wolle, ergriff den Vorschlag mit solcher Hastigkeit, daß Schwinger darüber stuzte. Der Vater war durch den Wein in die einwilligende Laune versezt worden, die Mutter konnte vor Traurigkeit weder billigen noch verwerfen. Sie saß im Winkel, den Kopf niederhängend, und benezte die netteltuchne Schürze mit ihren Zähren: der Alte saß am Tische, nickte und schnarchte: Schwinger schrieb die Briefe, und Heinrich, der sich nicht entschliessen konnte, sich niederzulegen, saß tiefsinnig in einer andern Ecke: seine Einbildungskraft schweifte durch die Gefilde seines künftigen Glücks oder Unglücks, und wurde nicht selten durch Intermezzos von Schluchzen und Weinen unterbrochen. Schwinger, als er mit seiner Arbeit fertig war, konnte auch zu keinem Schlafe gelangen und vermehrte die stumme, betrübte und nur Sylbenweise sprechende Gruppe durch eine neue stumme Person.

Um die Abschiedsscene weniger angreifend zu machen, wollte er die Mutter entfernen und dann heimlich mit ihm fortwischen: aber es war unmöglich. Als man sich zum Abmarsche in Bereitschaft sezte, fiel der alte Herrmann dem Sohne um den Hals. »Junge!« sagte er, »mach' es, wie dein Vater! Lebe in den Tag hinein und lerne nichts mehr als du brauchst, um zu leben! Lerne eine Profession, ein 398 Handwerk, eine Kunst, alles, was du willst, und was du umsonst lernen kannst! Nur laß dir nicht den Satan durch den Kopf fahren, daß du ein Gelehrter oder ein großes vornehmes Thier werden willst! Oder ich erkenne dich nicht für meinen Sohn. Ich bin aus meines Vaters Hause mit acht Groschen gegangen und fortgekommen: ich gebe dir sechszehn; und du bist nicht werth, daß dich die Sonne bescheint, wenn du über Noth klagst. Nimm dich vor vornehmen Leuten und Dummköpfen in Acht: geh ihnen aus dem Wege, wie dein Vater! Nun packe dich und leb wohl!«

Die Mutter konnte den Abschied nicht aushalten und wollte sich in die Küche begeben: doch ihr Mann zog sie zurück. »Nillchen,« rief er mit drohendem Finger, »wenn du nicht gleich lachst, so prügle ich dich, wie eine Korngarbe. Lache! sag' ich dir.« – Sie wurde erbittert, riß sich los und wanderte in die Küche, dem Sammelplatze ihrer Thränen.

Unterwegs stellte ihm Schwinger das Reisegeld der Gräfin zu, doch ohne etwas von dem 399 versprochnen Monatsgelde zu entdecken: auf dem Dorfe, wo sie scheiden wollten, erkundigte er sich nach der Post, bezahlte einen Platz für ihn und wies ihm eine Stube an, wo er ein Paar Tage warten sollte, bis sie abgehen würde. Nachmittags schlich er sich davon: den Schmerz des Abschiedes traute er sich nicht auszuhalten. Auf dem Rückwege faßte er den Entschluß, Heinrichen, sobald er eine Pfarrstelle haben würde, zu sich zu nehmen; und mit diesem Vorsatze gieng er ins Schloß, wie ein Wittwer ins Trauerhaus, zurück.

Schwinger hatte bey Heinrichen eine Betrübniß bemerkt, die er anfangs auf Niemanden als auf sich selbst zog: noch bey dem Abschiede trug er ein außerordentliches Verlangen wenigstens auf ein Paar Minuten, wieder ins Schloß zurückkehren zu dürfen: er wünschte das mit so vieler Sehnsucht und so zitternder Aengstlichkeit, daß Schwinger selbst nunmehr Argwohn schöpfte: doch da seine wiederholten Fragen nichts bestimmtes aus ihm herauszubringen vermochten, so maß ers derjenigen Liebe bey, die ein Ort für 400 sich in uns erweckt, an welchem man sich die ersten sechszehn Jahre seines Lebens wohl befunden hat. Du guter Schwinger! Dem Orte gehörte nicht der zwanzigste Theil des Schmerzes: Ulrike und die verhinderte Flucht mit ihr war der ganze verborgne Kummer. Indessen gab der Verwiesene den Plan noch nicht auf: mit der schmeichelnden Aussicht, daß sie nach Dresden zu einer alten Anverwandtin kommen, daß er dort zu einem Glücke gelangen und es mit ihr theilen werde – mit tausend solchen Hofnungen, denen nur ein sechszehnzähriger, der Welt unkundiger Mensch einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit geben kann, stieg er auf die Post; der Postknecht schwang die Peitsche, und die Reise gieng fort.

 


 

Ende des ersten Bands

 


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