Johann Karl Wezel
Herrmann und Ulrike / Band 1
Johann Karl Wezel

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Fünftes Kapitel.

So sehr die Baronesse über diese plözliche Trennung bewegt war, so merkte sie doch bald den Vortheil, den sie ihr verschafte: sie war nunmehr ohne Aufsicht und konnte ihren Heinrich sprechen, wenn es ihr beliebte. Schwinger hatte zu dem vorzüglichen Verstande seines Freundes ein zu unumschränktes Vertrauen und ließ ihm izt wirklich mehr Freiheit, als er sollte. In der ersten Berathschlagung, die sie in diesem Interregnum auf der Baronesse Zimmer hielten, rieth Heinrich aus allen Kräften die Beschleunigung der Flucht: er drang so lebhaft darauf, daß sie bald beide einig waren, Tag, Stunde und andre Umstände festsezten und vorher noch eine Rache an ihrem gemeinschaftlichen Feinde beschlossen.

Jakob besuchte vermöge seiner Genäschigkeit sehr fleißig einen Baum voll großer lockender spanischer Kirschen, die man für die Ehre, von dem Grafen gegessen zu werden, aufhob. 359 Jedermann floh die Gegend dieses Baums, wie einen den Göttern geheiligten Ort, um nicht den Verdacht eines vorgehabten Diebstahls wider sich zu erregen: nur Jakob wagte es, einen solchen Raub oft zu begehn, und nahm seine Maasregeln so gut, daß er nie ertappt wurde. Heinrich, der es wußte, rieth dem Gärtner etliche Schlingen dabey zu legen: anfangs wollte er aus Furcht vor dem Vater nicht daran, doch endlich ließ er sich bereden. Bey dem nächsten Diebstahle, der allemal in der Dämmerung geschah, fand sich der Dieb plözlich gefesselt; Furcht und Mangel an Kräften hinderten ihn, sich von den unschädlichen Stricken loszumachen: Zudem war die Falle sehr künstlich und mit einem Gewichte versehn, das den Knoten fest zuzog. Der Gärtner lauerte hinter einer Hecke und eilte sogleich, es anzuzeigen: allein statt der Belohnung erhielt er einen Verweis und zur Bestrafung sollte er einen Monat lang nicht die Gnade haben, den Grafen Sonntags früh ein Bucket zu überreichen. Der Dieb kam los und wurde derb von seinem Vater ausgescholten, 360 daß er sich hatte ertappen lassen; und weil dem Gärtner in dem ersten Unwillen über seine mislungenen Maasregeln ein Wörtchen entwischte, daß Heinrich sein Rathgeber dabey gewesen sey und Jakob dem Rathgeber Vorhaltung darüber that, auch ein paar Drohungen mit Rache hinzusezte, so war dies ein neuer Sporn, die Flucht um keine Stunde weiter hinauszuschieben.

Heinrich gieng seit dieser zweiten Festsetzung eines so nahen Termins beständig ängstlich um Schwingern herum: wenn er ihn anblickte, senkte er die Augen oder kehrte sich weg, um Thränen zu verbergen: jede Gypsbüste schien einen wehmüthigen Blick auf ihn zu werfen, jedes sonst geliebte Buch erinnerte ihn an eine schmerzliche Trennung. Seine Unruhe trieb ihn von einem Orte des Zimmers zum andern: nirgends fand er länger als eine Minute Rast. Wohl zehnmal gieng er des Vormittags an den Ort, der zur nachmittägigen Zusammenkunft bestimmt war, besah ihn starr von allen Seiten: es war ihm, als wenn ein Zentnergewicht auf 361 die beklemmte Brust fiel, er seufzte, zitterte, weinte und gieng. Keinen Bissen konnte er des Mittags mit dem Munde berühren, ohne daß der Gedanke in ihm aufstand – »der lezte, den du hier genießest!« – Izt fühlte er zum erstenmale, welch' eine schwere Kunst es ist, leben zu wissen, und durch wie viele Schmerzen man diese Weisheit erkaufen muß. Je näher die Stunde rückte, je beklemmter wurde seine Brust: Thränen waren izt nicht mehr in seiner Gewalt, sie rannen, wie Bäche, herunter, daß es Schwinger bemerkte, und eine Menge Muthmaßungen machte, ohne die Wahrheit zu treffen.

Die Baronesse war ungleich besser daran: wen sie liebte, folgte ihr, und die sie verließ, liebte sie nicht. Voller Munterkeit, Freude und muthiger Hofnung sprang sie nach der Rückkunft von Tafel im Zimmer herum, warf sich in ein Neglische und sezte ihr Reisebündel in Bereitschaft; was sie zuweilen beunruhigte, war Furcht vor der Entdeckung. Nur die Trennung von den Oertern, wo sie ihre fantastischen 362 Arkadienfreuden genossen hatte, erfüllten sie mit vorübergehender Wehmuth; und sonst wünschte, hofte, begehrte sie nichts, als daß die Stunde schlagen mögte, wo sie einander im Garten treffen wollten.

Wie Geschöpfe, die von der ganzen weiten Welt nichts als die Spanne kennen, wo sie spatzieren gegangen und gefahren sind, hatten sie ihren Plan angelegt: unbekümmert, wer sie speisen und beherbergen werde, wenn ihr kleiner Geldvorrath aufgezehrt ist, wollten sie ihn ausführen. Sie glaubten, daß man auf unserm Planeten nur wollen dürfe, um zu finden.

Graf und Gräfin fuhren Nachmittags spatzieren: die Baronesse entschuldigte sich mit Kopfschmerzen und blieb zu Hause. Diese daher entstandne Leerheit des Schlosses wollte sie nicht ungenüzt lassen – denn ein Theil der Domestiken begleitete die gnädige Herrschaft, und der Andre war seinem eignen Vergnügen nachgegangen – sie sagte ihrem Zimmer ein stilles Lebewohl und wanderte in den Garten hinunter, lange vorher, ehe die anberaumte Stunde schlug, holte ihr 363 Paketchen Wäsche aus dem alten Pavillon herbey und legte es in das Kabinet, das zur Zusammenkunft bestimmt war. Darauf that sie einen Spatziergang auf die Wiese hinter dem Garten, wo man Grummet machte. Sie ließ sich mit einer von den Mägden in ein Gespräch ein, wie sie schon sonst zu thun pflegte, wenn sie keine Aufsicht daran hinderte: sie lobte den Stand und die Beschäftigung des Mädchens und wünschte darinne geboren zu seyn: das Mädchen bat sie, sich nicht so zu versündigen, und versicherte, daß sie lieber eine Baronesse, als eine Dienstmagd, seyn möchte.

»Komm! wir wollen tauschen!« sagte die Baronesse lebhaft. »Gieb mir deine Kleider, ich will dein Leben auf ein Paar Stunden versuchen.« – Das Mädchen weigerte sich lange: endlich ließ sie sich zu der Maskerade bereden und wischte mit ihr seitwärts in ein Birkenbüschchen, wo sie ihre Kleider wechselten. Das Mädchen sprang vor Freuden in die Höhe, als ihr die weiße Kontusche und Rock auf dem Leibe hieng und der Sommerhut auf ihren zerstörten 364 bäurisch geflochtnen Haaren schwebte: wirklich nahm sich auch der schneeweiße Anzug zu den verbrannten Armen, bloßen Füßen und Mulattengesichte ungemein drollicht aus: sie spatzierte auf und ab und schwenkte den weißen Rock, wie einen Uhrperpendikel: nichts bedauerte sie mehr, als daß der benachbarte Wassergraben zu schmutzig und das Stückchen Spiegelglas nicht bey der Hand war, wobey sie gewöhnlich ihre bäurischen Reize ordnete. Die Baronesse nahm sich in ihrem neuen Anzuge nicht weniger gut aus: das Mädchen hatte ihr mit Ehren nichts als einen streifichten kurzen Rock abgeben können, weil sie außer einem schwarzen Mieder, dessen sie nicht begehrte, nichts auf dem Leibe hatte. Das Mädchen mußte ihr die schöne Frisur zerstören, die sie herzlich gern auf ihren Kopf ganz unversehrt hinübergetragen hätte, und ihre Haare auf dem Wirbel in ein bäurisches Nest winden. Da das Abtragen des vornehmen Gebäudes, das mit Haarnadeln, wie mit großen Balken, durchzogen war, sehr viel Zeit erforderte, so wurde die Bäuerin bey ihrer Arbeit vermißt: der 365 Vogt störte in den Büschen herum, um zu entdecken, ob sie sich vielleicht schlafen gelegt habe, und die beiden Damen hielten für rathsam, tiefer in den Busch hineinzurücken. Die Umschaffung der Frisur nahm so viele Zeit hinweg, daß auf der Wiese Feierabend gemacht wurde und die Stunde der Zusammenkunft heranrückte. Die Arbeiter giengen unter dem Kommando des Vogts nach Hause, und die beiden Verkleideten durch den Busch auf einer andern Seite nach dem Garten hin. Anfangs war die Maskerade bey der Baronesse nur ein unüberlegter Einfall gewesen, um sich zu belustigen: doch izt wollte sie Partie davon ziehen. So sehr ihre Begleiterin ihre Bauerkleider wieder foderte, um nicht durch zu langes Außenbleiben sich noch schwerere Strafen zuzuziehn, als ohnehin ihrer wartete, so bestund doch die Baronesse darauf, daß sie ihr den bäurischen Anzug gegen ihr Neglische überlassen, zu ihrer Mutter, die auf dem nächsten Dorfe wohnte, gehn und sie dort erwarten sollte. Das Mädchen wußte sich aus dem Vorschlage nichts zu machen, glaubte zwar aus 366 angewöhntem Gehorsam, daß sie einer Baronesse aufs Wort folgen müsse, sah aber doch auch einige unangenehme Scenen von Seiten derjenigen voraus, die diesen Gehorsam misbilligen könnten. Da nichts half, überwand sie die Baronesse durch eine Lüge. »Närrin!« sprach sie: »ich will meinem Onkel eine heimliche Freude machen. Morgen ist sein Namenstag: ich will mich bey deiner Mutter als eine Bäuerin anziehn: gegen Mittag wird die Tante mit ihm ins Dorf kommen, und ich werde ihm einen Blumenstrauß überreichen. Er wird mich vermuthlich nicht kennen: da wollen wir rechte Freude haben. Die Tante hat mirs selbst befohlen: und ich wollte dirs anfangs nicht sagen, aus Furcht, du möchtest plaudern.« –

Nun war das Mädchen auf allen Seiten sicher gestellt, hüpfte und freute sich über den Spaß und glaubte, daß Gehorsam gegen den Vogt dem Gehorsam gegen die Gräfin und Baronesse nachstehen müsse: sie schlich durch Büsche und Sträucher, um nicht gesehn zu werden, in dem weißen Neglische zu ihrer Mutter und 367 verkündigte ihr mit lauten Freuden den hohen Besuch, der sie heute noch beehren würde. Die gute Mutter hatte so wenig Romane gelesen als ihre Tochter, und argwohnte also nichts schlimmes. Kaum war die überredete Dirne fort, so begab sich die Baronesse ins Kabinet, um Heinrichen zu erwarten.

Der arme Pursche hatte endlich nach manchem Kampfe mit sich selbst, nach langem Hin- und Herwanken, seinem Herze einen Stoß gegeben und sich auf den Weg gemacht: allein da es ihm nicht möglich war, Schwingern zu entfernen, so ließ er sein Reisebündel im Stiche. Sein Freund las in einem Buche, den Rücken nach der Thür gekehrt: gern wäre er ihm um den Hals geflogen, aber er mußte sich mit einem stillen Abschiede begnügen: er warf ihm einen Kuß stillschweigend zu und gieng mit bethränten Augen die Treppe hinunter. Schwinger las mit voller Aufmerksamkeit und wurde sein Weggehen nicht einmal gewahr.

Die erste Empfindung bey seinem Eintritte ins Kabinet war Erschrecken, weil er Jemanden 368 anders zu finden glaubte als er wollte: aber die Stimme der Baronesse benahm ihm bald seine Besorgniß. Sie war voller Freude, so entzückt als wenn der Streich schon gelungen wäre, und tadelte ihn wegen der Aengstlichkeit, womit er einen schlimmen Ausgang befürchtete, wegen der Traurigkeit, in welche ihn die Trennung von Schwingern versezte. Auch der Gedanke, wie nachtheilig eine heimliche Flucht seiner Ehre seyn könne, fuhr ihm oft, wie ein Schwert, durchs Herz: tiefsinnig, von innern Kämpfen herumgetrieben, stund er da, und Ulrike konnte ihn mit allem Zureden, aller ihrer Freudigkeit nicht ermuntern: er wollte sich selbst in einen freudigen Taumel versenken, aber es gieng nicht: in seinem Kopfe standen alle seine Nachbarn und Bekannten in großen Haufen beysammen, redten von seiner Flucht und scholten ihn einen Entläufer.

Was weder Wille noch eine Leidenschaft sonst vermag, kann bekanntermaßen die Liebe. Sie mußten in dem Kabinete bis zur völligen Dunkelheit eingesperrt bleiben: was war in diesem 369 Zeitraum natürlicher, als daß man sich mit einigen Scenen künftiger Glückseligkeit unterhielt? Die Baronesse verfertigte schon ein ganzes vollständiges Gemählde davon und begeisterte Heinrichs Einbildungskraft so stark, daß er auch das Gemählde durch manchen reizenden Zug verschönerte. Eben so natürlich kamen sie allmälich auf Scenen vergangner Glückseligkeit, und ehe man sichs versah, waren Heinrichs Gedanken bey dem schönen marmornen Knie der Baronesse, das ihm Amor einst unter der Linde, als sie den ersten Vorsaz zur Flucht faßten, bey einem Falle zeigte: seine Fantasie mahlte es vollends aus, schöner und herrlicher, wenigstens reizender, als Correggio und van der Werft eins geschaffen haben: seine Begierden wurden durch das Bild befeuert und rissen die Hand hastig zu einer Verwegenheit hin – schnell zog sie die Scham zurück, und aus der Verwegenheit wurde eine zärtliche Umarmung. Das Bild wich nicht von der Stelle aus seinem Kopfe: er schalt sich selbst wegen seiner Schüchternheit: die Begierde brach zum zweitenmale durch: die Hand 370 rüstete sich zu einer zweiten Verwegenheit; und die Scham lenkte sie mitten auf ihrem Wege zu der Hand der Baronesse: aus der Verwegenheit wurde ein feuriger Händedruck. Wie ein durchbrechender Strom, sprengte plözlich sein Blut alle Ventile durch: alle Nerven bebten von ungewohnten Schwingungen: die Begierde siegte zum drittenmale: er warf sich ungestüm an ihre Seite und – küßte sie. Die Baronesse stritt mit den nämlichen Empfindungen: der süße Schauer, der sie durchlief, als er unter der Linde mit dem Gesichte auf ihrem Busen ruhte, kehrte bey jeder leisen Berührung zurück: sie wünschte ihn wiederholt zu fühlen, und doch ließ sie die Schamhaftigkeit nichts thun als bey jeder Annäherung schüchtern den Busen an ihn drücken: einmal wagte sie ihm mit einer Umarmung zuvorzukommen, und eine glühende Röthe deckte ihr Gesicht, als sie geschehn war. Die kindische Dreistigkeit war dahin.

Die Kleidung der Baronesse war ungemein geschickt, Begierden zu entflammen, und wenn sie einmal brannten, nicht leicht erlöschen zu 371 lassen. Ihr Busen war mehr als halb offen: das Halstuch war nur leicht darüber gelegt und durch kleine Bewegungen merklich verschoben: der kurze bäurische Rock deckte kaum einen handbreiten Raum unter den Knieen: die Arme waren bloß und leuchteten in der Dämmerung des Kabinets mit verdoppelt blendender Weiße, wie Schnee in der Nacht. Dunkelheit und Stille, die beiden Vertrauten der Einbildungskraft, erhöhte bey beiden Verliebten Reizbarkeit und Reiz: der Baronesse deuchte Heinrich ein Genius, ein Apoll, seine feurigen Augen glänzten ihr, wie ein Paar Sterne, und sein Gesicht, wie ein beseelter Marmor: seine niedlichen Hände schienen ihr wohlgebildeter, ihr Druck sanfter und seine Stimme lieblicher: es war für sie der leibhafte Amor.

Als wenn unsichtbare Mächte sie zu einander hinrissen, strebte, kämpfte, arbeitete ein Jedes, dem geheimen Zuge zu widerstehn und zu folgen: jedes Abendlüftchen, das durch die alten zerbrochnen Fensterscheiben hereinschlich, schien ihnen mit der Stimme eines Liebesgottes 372 zuzuflistern – »seyd kühn und unverschämt!« – und mit jedem Herzschlage ertönte in ihnen ein strenger Befehl – »wagt nichts!« – Aber der Rath der Liebe überstimmte jeden Gedanken: sie schlang in Einem Augenblicke beider Arme um beider Schultern, warf Heinrichs Gesicht auf den klopfenden Busen, in welchen er einst den Schmerz seiner gekränkten Ehre weinte, führte seine verwegne linke zu dem Saume des Rockes und – plözlich öfnete sich die Thür, die beiden Verliebten erwachten durch das Geräusch aus der Trunkenheit, und vor ihren Augen stand – der Graf, Jakob und sein Vater. Ihr gemeinschaftlicher Feind war Heinrichen nachgeschlichen, als er zur Zusammenkunft gieng, hatte, so bald sie beide im Kabinete waren, die Thür außen leise verriegelt, seinem Vater die Einsperrung angezeigt, der nicht zauderte, die empfangne Nachricht dem Grafen mitzutheilen; und der Graf mußte, weil ers verlangte, sich von ihm und dem Angeber an den Ort führen lassen: sie besezten die Thür, und Jakob und 373 sein Vater waren sogar mit langen Kutscherpeitschen bewafnet.

Der Graf konnte vor Zorn nicht schelten, sondern brauste und schnaubte blos den Befehl heraus, sie zu fangen und ins Haus zu führen. Jakob rückte vorwitzig an, glaubte die Peitsche nicht vergebens führen zu müssen und holte mit der süßesten Schadenfreude der Rachsucht einen Streich aus, der Heinrichs Kopf treffen sollte: doch sein Gegner war schnell, faßte die lange Peitsche, die in dem engen Raume schlecht regiert werden konnte, mit der Hand auf, als sie eben auf ihn herabfallen wollte, bemächtigte sich ihrer und stieß den entwafneten Feind, der nunmehr einen Angriff mit der Faust wagte, zurück, daß er seinem hereintretenden Vater in die Arme stürzte und die ganze Armee um ein paar Schritte rücklings in die Flucht trieb. Jakobs Vater ergrimmte, fuhr mit blinder Wuth auf den Feind los: allein das sogenannte Kabinet, wo die Belagerung geschah, war vor alten Zeiten ein Schießhaus gewesen und hatte folglich in dem Geschmacke dieser alten Zeiten sehr niedrige 374 Thüren: der erboste Maulesel verlor in der Hitze das Augenmaaß und rennte mit der ganzen Stärke des Angriffs seinen Kopf wider den obersten Querbalken der Thüröfnung, daß er vor Schmerz ächzte: er fuhr zurück, ließ die Peitsche sinken, lehnte sich an die Wand und hielt mit beiden Händen seinen sinnlosen Kopf, den er für zerbrochen achtete. Um die Wunden seines Vaters zu rächen, rafte sich der Sohn auf und griff so schnell zu, daß er mit einer Hand Heinrichen an der Brust fest hielt und mit der andern nach der Kehle griff – ob er sie ihm zudrücken, oder was er sonst thun wollte, weis der Himmel. Die Baronesse sah ihren Heinrich kaum in so großer Gefahr, als sie den Feind bey den Beinen faßte und sie ihm so hastig wegrückte, daß er seinen Schwerpunkt verlor und rückwärts auf die Backsteine daniederschlug: alle vier Winkel des Kabinets warfen, wie sein Hirnschädel den Fußboden traf, den leeren Schall einer hölzernen Büchse zurück: zwar wollte er im Hinstürzen auch den Feind mit sich herabziehn und er hatte ihn bereits zum Sinken gebracht, allein die Baronesse 375 stach mit einer Stecknadel, wie mit einem Speere, so heldenmäßig auf die umklammernden Hände, daß sie blutend ihre Beute fahren ließen.

Izt lag ein Feind wimmernd auf der Erde, der andre trug ächzend den geschmetterten Kopf in den Händen: der Graf allein war noch frisch und gesund, aber zu steif, um ohne Beistand die Belagerung mit Nachdruck fortzusetzen: die Belagerten nahmen des Vortheils wahr und drangen Hand in Hand zur Thür heraus. Der Graf hielt es für eine Flucht und warf ihnen in der lezten Verzweiflung des Zorns mit ohnmächtiger Gravität sein Rohr nach: das lichtbraune Rohr, für zwanzig Dukaten in Holland gekauft, stolperte, wie ein Pfeil, von einer schlaffen Sehne abgeschossen, zwey Schritte von dem Wurfe auf das Steinpflaster hin, und die porzelläne Sirene, mit zwey vollwichtigen Carldoren auf der Stelle bezahlt, brach den Hals, ihr schöngekrümmter Schwanz prellte in zehn Stücken empor, und der weitbauchichte Leib riß sich von dem vierfarbichten goldnen Ringe los, daß die Eingeweide von Werg aus dem gespaltnen Bauche 376 hervorquollen. Der Graf hörte den tönenden Fall der geliebten Sirene und beklagte ihn mit einem lautschallenden – Ach!

Doch izt war es nicht Zeit zu Klageliedern: kaum war das Ach über die Lippen, so sezte er schon den Fliehenden in einem halben Galope mit krummen Knien und ausgespreiteten Beinen nach, erwischte die Baronesse bey dem streifichten groben Rocke und bildete sich ein, sie von einer schändlichen Entfliehung auf immer zurückgeholt zu haben, ob sie gleich schon völlig still stunden und nichts weniger als fliehen wollten – die Heldentat hatte ihm so viel Anstrengung gekostet, daß er dreimal keuchte, ehe er seine Truppen zum Beistande rief.

»Wir werden uns beide nicht weigern zu gehn, wohin wir sollen,« fieng Heinrich an, »wenn nur diese beiden Spitzbuben uns nicht berühren dürfen; kömmt uns einer zu nahe, so muß er sterben oder ich.« Diese sechzehnjährige Tapferkeit begeisterte die Baronesse doppelt. »So muß er sterben oder wir!« wiederholte sie mit der Heldenstimme einer Amazonin. Jakob 377 und sein Vater hatten genug mit ihren Köpfen zu thun, um sich der Drohung zu widersetzen: sie lasen auf Befehl des Grafen das beschundne Rohr und die Trümmern des Knopfs auf, und die beiden feindlichen Heere langten also mit zwey Verwundeten und einer todten Sirene im Schlosse an. Die Baronesse wurde von ihm selbst in ihr Zimmer gesperrt und ein Heiducke zur Wache davor gestellt, Heinrich auf der Stelle dem andern Heiducken übergeben, um ihm vor dem Zimmer der Baronesse dreißig lautschallende Stockschläge zu ertheilen und nach richtigem Empfange aus Schloß und Herrschaft auf ewig nebst aller seiner männlichen und weiblichen Nachkommenschaft bis ins dritte und vierte Glied zu verweisen. Der Heiducke fand seine Ehre durch den Auftrag beleidigt und schlug ihn muthig aus, aus der Ursache, weil er kein Henkersknecht oder Büttel seyn wolle.

Während daß der Graf so sein Richteramt pflegte und keinen Exekutor seiner Sentenz finden konnte – denn alle Bedienten liefen davon, um nicht dazu aufgerufen zu werden – 378 kam Schwinger herbey: er hatte Heinrichen, weil er ihn zu lange vermißte, aufsuchen wollen. Der Graf stürmte ihm mit Verweisen seiner schlechten Aufsicht entgegen und muthete ihm die Ausübung seines Urtheils zu: der gute Mann entschuldigte sich, that Vorstellungen wider die Strenge desselben und bat um Untersuchung, wie sehr der junge Mensch strafbar sey: der aufgebrachte Graf war gegen alle Vorstellungen taub. Er schickte den triumphirenden Jakob, der vor Verlangen brannte, die Exekution selbst zu vollstrecken, wenn nicht der Graf zu viel Mistrauen gegen die Stärke seiner Arme gehabt hätte, noch einmal aus, herbeyzurufen, wen er nur fände: aber er kam mit der Nachricht zurück, daß Niemand zu finden sey: aus Liebe für Heinrichen und aus Groll gegen seine Widersacher hielt sich Jedermann versteckt und lief willig Gefahr, sich einen derben ungnädigen Verweis zuzuziehn. Heinrich sah das ganze Vorspiel zu seiner Züchtigung unerschrocken an; und die eingesperrte Baronesse hätte vor Ungeduld und Besorgniß die Thür mit den Zähnen durchnagen mögen.

379 Da also von allen Seiten Unmöglichkeit war, das gesprochne Urtheil zu vollstrecken, so ließ mans bey der Verweisung bewenden. – Schaffen Sie den Schurken den Augenblick aus dem Schlosse! sagte der Graf zu Schwingern; morgen in aller Frühe soll er die Stadt meiden, und sich nimmermehr wieder in meinen Landen betreten lassen. – In meiner Herrschaft, wollte der Herr Graf sagen, allein es entwischte ihm zuweilen der Ausdruck eines Suveräns. Der »Schurke« fuhr durch Heinrichs ganze Seele mit einer verwundenden Schärfe: er rüstete sich schon zu einer Antwort, doch Schwinger riß ihn mit sich hinweg, um ihn zu seinen Eltern zu führen. Die Baronesse lief, wie unsinnig in dem verschloßnen Zimmer herum, als sie hörte, daß er fortgieng, riß das Fenster auf, ihm nachzusehn, der Himmel weis, ob nicht auch, ihm nachzuspringen – foderte mit zornigem Ungestüm von den apfelgrünen Wänden des Zimmers ihren Heinrich zurück; denn sonst konnte sie Niemand hören.

Der Graf erhub sich von seinem Richterplatze 380 gerades Wegs zur Gräfin: die gute Dame saß am ofnen Fenster und stund auf, als er zu ihr hereintrat, weil sie glaubte, daß es der Bediente sey, der ihr die Abendmahlzeit ankündige. Wie erschrack sie, als ihr die Stimme ihres Gemahls entgegenbrauste: – »Da haben sie die Frucht Ihrer Liebe, Ihrer übel angewandten Gnade! An Ihnen sollt' ich meinen Zorn zuerst auslassen: Sie sind die einzige Ursache unsers Unglücks.«

Die Gräfin erschrak, weil sie nichts von dem Vorfalle wußte, faßte sich gleich wieder und küßte seine Hand. – »Mildern Sie meine Strafe, gnädiger Herr!« sprach sie mit bittendem Tone. »Ich weis zwar nicht, wodurch ich Ihre Ungnade verdient habe« –

»Wodurch?« unterbrach sie der Graf hastig. – »Daß Sie wider meinen Willen einen Jungen aufs Schloß nahmen, der unser Haus entehrt hat! Daß Sie bey jeder Gelegenheit seine Beschützerin wurden, wenn ich darauf drang, ihn fortzujagen!«

Die Gräfin. Ich hätte freilich voraussehen 381 können, daß es üble Folgen haben müßte, wenn ich etwas uebte und vertheidigte, das Ihnen misfällt. Aber sie verzeihen ja meiner Schwäche täglich –

Der Graf. Und Sie sollten einmal aufhören, Verzeihung nöthig zu haben!

Die Gräfin. Freilich könnt' ich durch Ihre Lehren und Ermahnungen weise geworden seyn: allein ich bin einmal so unglücklich, daß ich Ihre Gnade nicht verdienen soll.

Der Graf. Und doch wärs Ihnen so leicht! Wenn sie nur hörten! nur folgten: und zwar zu rechter Zeit!

Die Gräfin. O ich elende Frau! Ich weine manche Thräne über meinen Ungehorsam.

Der Graf. Aber ich will in Zukunft alle Achtung gegen Sie vergessen: ich will meinen Willen durchsetzen, wenns Ihnen auch noch so wehe thut.

Die Gräfin. Ich bitte Sie darum, gnädiger Herr. Beugen Sie das verzärtelte Kind mit Strenge! Ihre Nachsicht verdirbt mich. Behandeln Sie mich als eine Blödsinnige, die sich 382 nicht selbst regieren kann, sondern regiert werden muß. Lassen Sie mich nie einen Willen haben!

Der Graf. Das soll geschehn! Ich will mich zwingen, grausam gegen Sie zu seyn. Wenn Sie nur erkennen wollten, wie viel Güte eine solche Grausamkeit ist!

Die Gräfin. Mit Freuden, gnädiger Herr! Ich werde meine angelegenste Bemühung darauf machen, dies einsehen zu lernen. – Darf ich indessen auch izt eine Verzeihung hoffen, die Sie mir so oft haben angedeihen lassen? Haben Sie Mitleid mit meiner Reue, gnädiger Herr! –

Der Graf reichte ihr stolz die Hand zum Kusse dar und sezte mit halb entwafnetem Zorne hinzu: »Wenn sie nur durch Ihre Reue das Uebel ungeschehen machen könnten!«

Die Gräfin. Für das Geschehne kann ich freilich nicht: aber für die Zukunft! Ich will Heinrichen in dieser Minute selbst ankündigen, daß er noch heute zu seinen Eltern zurückkehren soll. –

383 Der Graf hielt sie zurück. – »Das ist längst geschehen,« sagte er. »Er ist fort: aber das Unglück, das er gestiftet hat, bleibt zurück.«

Die Gräfin stuzte: es that ihr leid, daß man Heinrichen, wie sie besorgen mußte, vielleicht zu hart verabschiedet hatte, um so viel mehr da sie sich blos darum selbst zu seiner Verabschiedung erbot, um sie nicht zu empfindlich zu machen: demungeachtet verbarg sie ihren Misfallen und dankte dem Grafen sehr freudig, daß er ihr ein unangenehmes Geschäfte erspart habe.

»Warum unangenehm?« fuhr der Graf auf. »Können Sie dem Buben noch immer Ihre Gnade nicht entziehn? Er ist sie nicht werth, sag' ich Ihnen.«

Die Gräfin. Er kann die meinige nicht einen Augenblick länger behalten, da er die Ihrige nicht hat. Ich hasse ihn.

Der Graf. So werden Sie ihn verfluchen, wenn sie das Bubenstück wissen –

Die Gräfin. Verschonen Sie mich damit, gnädiger Herr! Es schmerzt mich ohnehin 384 genug, daß ich meine Gewogenheit so lange an einen Unwürdigen verschwendet habe.

»Sie müssen es wissen,« fiel der Graf ein, und erzählte ihr die gemachte Entdeckung nach der Länge, und begieng dabey den gewöhnlichen Kunstgriff oder Fehler – was es unter diesen beiden bey ihm war, will ich nicht bestimmen – daß er die gemuthmaßten Bewegungsgründe der entdeckten Zusammenkunft für ertappte Wahrheit ausgab: er wußte gewiß, daß sie hatten entfliehen wollen, ob ers gleich im Grunde nur als eine Möglichkeit vermuthen konnte: er wußte gewiß, was im Kabinet zwischen den beiden Verliebten vorgegangen war, und fürchtete Folgen! schreckliche Folgen für die Ehre seines Hauses! Die Gräfin fürchtete sie aus Gefälligkeit mit ihm, wiewohl sie im Herzen ganz das Gegentheil glaubte: sie opferte dieser traurigen Gefälligkeit die arme Baronesse auf, und dachte ihren Gemahl am sichersten wieder auszusöhnen, wenn sie nichts zu ihrer Vertheidigung oder Entschuldigung sagte, sondern sich ohne Verhör und Untersuchung – wie der 385 Graf zu verfahren pflegte – zu ihrer Strafe mit ihm vereinigte.

Die erste Strafe, die der Stolz dem Grafen eingab, war die Verbannung aus seiner Gegenwart und von seinem Schlosse – in seinen Augen das empfindlichste, was Jemanden begegnen konnte! Ulrike sollte in diesem Leben sein gnädiges Angesicht nicht wieder schauen: aber wohin mit ihr? – Wäre es ihm nachgegangen, so hätte sie zu ihrer Mutter wandern müssen: doch die Gräfin, die aus Liebe zur Baronesse dies nicht wünschte, stellte ihm vor, daß es für die Baronesse eine unendlich größre Bestrafung seyn müßte, wenn man sie an einen ganz fremden Ort thäte und sie also noch weiter aus der Gegenwart des Grafen verbannte. Die Vorstellung schmeichelte ihn, und man beschloß, sie entweder zu einer alten Anverwandtin nach Berlin oder zu einer andern nach Dresden zu schicken und Pension für sie zu bezahlen – »um doch die gute Erziehung, die ihr der Graf Ohlau bisher gegeben und deren sie sich so wenig würdig gemacht habe, einigermaßen 386 fortsetzen zu lassen« – gab die Gräfin zur Ursache an. Auch das schmeichelte ihn, und also wurde auch das bewilligt: es sollte an die beiden alten Damen geschrieben werden, und welche sie für die geringste Pension zu sich nehmen wollte, die sollte die Ehre haben, dies Meisterstück seiner Erziehung vollends auszubilden. Die Baronesse mußte einige Tage Arrest auf ihrem Zimmer halten, wurde von der Gräfin heimlich über ihre Zusammenkunft verhört, und in Ansehung ihrer Liebe unschuldig befunden, das heißt, sie war bey aller Unschuld schlau genug, die Zusammenkunft für eine Wirkung des Zufalls und die Umtauschung der Kleider mit der Magd für einen Spaß auszugeben, wodurch sie Heinrichen hätte in Verlegenheit setzen wollen. Die Noth machte sie so erfindrisch, daß sie ihrer Lüge den völligen Anstrich von Wahrheit gab. Die Gräfin hielt es für ausgemacht, daß ihr Gemahl seinen Argwohn einmal übertrieben und Dinge gesehn habe, die er nur muthmaßte, und war beinahe willens, ihn durch ein Paar Schmeicheleyen zur Wiederrufung seines 387 strengen Edikts zu bewegen: doch da ihr der Aufenthalt in einer großen Stadt vortheilhaft für die Baronesse schien, so schmeichelte sie ihm nicht und ließ ihn aus Ungnade eine Wohlthat erzeigen. 388

 


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