Johann Karl Wezel
Herrmann und Ulrike / Band 1
Johann Karl Wezel

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Fünftes Kapitel.

Die Begebenheit brachte bey Heinrichen in dem Reiche seiner Neigungen eine mächtige Revolution hervor: die Liebe, welche die Baronesse bey dieser Gelegenheit ihm so thätig bewies und in dem Gespräche mit seiner Mutter auf der Treppe erklärte, – er hatte dieser Unterredung, als er bey seinem Vater in der Stube eingesperrt war, durch das Schlüsselloch zugehorcht – diese so thätig erwiesene, so deutlich erklärte Liebe zündete seine bisherige Zuneigung bis zur Flamme an. Der zwölfjährige Pursche war ihr nicht mehr gut, wie in seinem achten 248 Jahre, als er beschloß, der Gräfin zum Trotze mit ihr umzugehn, und eben so bald seinen Trotz wieder aufgab, weil ihn sein Lehrer durch Beschäftigung und Zerstreuungen davon ablenkte: die Liebe foderte izt den Ehrgeiz, der bisher in seiner Seele den Ton angegeben hatte, wirklich zum Kampfe auf, und er fühlte den ersten starken Streit der Leidenschaften in sich. Vorher waren es nichts als kleine Scharmützel gewesen: zuweilen ein flüchtiger Wunsch, eine kleine Unzufriedenheit mit seinen gewohnten Beschäftigungen, ein Zuck am Herze, ein inneres unbestimmtes Verlangen nach einer Erweiterung seines Wirkungskreises, so ein schwankendes Gefühl als wenn ihm etwas fehlte, auch oft ein wirklicher Schmerz über das Verbot, das seinen Umgang mit der Baronesse hinderte! weiter gieng es nicht; und wenn ihn sein Lehrer wieder in das ordentliche Gleis hineinführte, so lief er darinne mit beruhigtem Herze fort.

Izt ward die Sache ernster. Er suchte Gelegenheiten, die Baronesse zu sehn, ihr süße Blicke zuzuwerfen: wenn er an Schwingers 249 Seite vor ihrem Zimmer vorübergieng, stand sie hinter der halbofnen Thür, und hurtig schlüpften ein Paar wechselseitige Blicke durch die schmale Oefnung. Wenn er in den Garten gieng, stand sie am Fenster: unaufhörlich hatte er Ursachen sich umzusehn, und wenn Schwinger nach dem Gegenstande fragte, so fehlte ihm nie einer voller Merkwürdigkeit: während daß jener diese meistens schwer zu findende Merkwürdigkeit daran aufsuchte – husch! flog ein Wink, auch wohl mit unter ein Kuß ins Fenster hinauf und blieb nie unbeantwortet. Dergleichen Spatziergänge in den Garten hatte er izt täglich so viele zu machen, daß Schwinger sich darüber verwunderte und in der Länge verdrießlich wurde, die Treppen so oft mit ihm auf und nieder zu laufen, besonders da er nie weiter als in die ersten Alleen zu bringen war, aus welchen er die Baronesse am Fenster sehen konnte: wenn er durch keinen Vorwand Schwingern bewegen konnte, vorn bey dem Eingange herumzuspatzieren, sondern ihm weiter folgen mußte, so währte es nicht fünf Minuten, und 250 es fand sich ein Kopfweh oder eine andre dringende Ursache ein, warum er ihn bitten mußte, wieder aufs Zimmer zu gehn. – »Der junge Mensch ist wohl krank,« dachte Schwinger bey sich selbst, »daß er so unruhig ist und auf keiner Stelle bleiben kann:« – und in dieser Voraussetzung gehorchte er allen seinen Verlangen, strengte ihn weniger zu Arbeiten an, und wanderte aus gutem Herzen wohl zehnmal in Einem Vormittage auf seine Bitte mit ihm in den Garten und aus dem Garten, daß die Leute im Hause verwundert stehen blieben und fragten: Kommen Sie denn schon wieder? Sie gehn ja izt sehr fleißig spatzieren! – »Ach!« zischelte ihnen Schwinger leise zu, »mein armer Heinrich ist krank: er kann an keinem Orte bleiben: seine Unruhe beweist es deutlich: es wird vielleicht eins von den herrschenden Fiebern werden.«

Wenn er aufs Zimmer kam, nahm er einen lateinischen Schriftsteller: zwey Zeilen! – und in seinem Kopfe stand die Baronesse: er sah starr und unverwandt auf sein Buch, und durch seinen Kopf liefen Projekte, wie er die Baronesse 251 öftrer sehen könnte. Schwinger sah ihm von der Seite zu, wie er nach seiner Meinung an einer Stelle so lange mit einem Ernste nagte, als wenn er den Kopf sprengen wollte. – »Greise dich nicht zu sehr an!« sagte der gutmüthige Lehrer und nahm ihm das Buch weg. »Komm! wir wollen uns die Zeit vertreiben.«

Er holte Kupferstiche oder die Gipsabdrücke der römischen Kaiser; keiner, an welchem Heinrich nicht eine Aehnlichkeit mit der Baronesse Ulrike fand! Augustus hatte ihr Kinn, Nero die Stirn, ein andrer das, ein andrer jenes, und selbst dem alten Nerva fehlte es nicht an Reizen, um ihr völlig ähnlich zu seyn. Er störte in den Kupferstichen: alle niederländische Bauerscenen, die ihn sonst so sehr ergözten, wurden verächtlich zurückgelegt, wenn nicht ein Mädchen darinne schäkerte. – Alexander mit seinen Heldenthaten, alle berühmte große Männer, die er sonst zu Viertelstunden anstaunte, mußten ungesehen vorbeymarschiren. Izt kam ein Urtheil des Paris – ah! hier ist Ulrike, wie sie leibt und lebt! Dreyfach steht sie da! Jede Göttin sieht ihr so gleich, als wenn sie dem Künstler 252 bey jeder gesessen hätte! – Hier wurde Halt gemacht: er sah den Göttinnen ins Gesicht: sie schienen ihn anzulächeln: er winkte ihnen mit den Augen, und es war nichts gewisser als daß sie ihm wieder winkten: er berührte mit schüchternem Finger ihre Wangen, wagte sich an die vollen Brüste, strich die sanften, federweichen Arme, ein süßer Schauer lief über seine Brust hin, und er zog schamhaft den Finger zurück, als wenn er zu viel gewagt hätte. Izt erst wurde er den glücklichen Paris gewahr. »O wer Paris wäre!« dachte er und legte den Kupferstich auf die Seite allein. Er blätterte weiter – da war nichts, gar nichts sehenswürdiges mehr! Weg mit den Kupferstichen! Die Göttinnen wurden auf die Kommode quartiert, um sich an ihrem Anblicke weiden zu können, so oft es ihm beliebte.

»Bist du's schon wieder überdrüssig?« – fragte Schwinger und erbot sich, ihm etwas auf dem Klavier vorzuspielen: er schien sich über das Anerbieten zu freuen. Sein Lehrer spielte alle seine vorigen Lieblingsstücke nach der Reihe, die brausenden Allegro's, die 253 majestätischen, pathetischen, großen Arien, die er sonst so aufmerksam bewunderte: nichts reizte ihn: er stand bey den drey Göttinnen, hörte kaum darauf, und bat Schwingern um etwas neues. –

»Des Tages Licht hat sich verdunkelt« –

fieng dieser zu singen an. Heinrich horchte.

»Komm, Doris, komm zu jenen Buchen« –

Sein Herz klopfte: die ganze Buchenhecke, von welcher er so oft der Baronesse zuwinkte, stund vor seinem Gesichte

»Laß und den stillen Grund besuchen
»Wo nichts sich regt als ich und du« –

Er schwamm in sanftem, rührendem Vergnügen: er fühlte sich in eine höhere Sphäre versezt, seine ganze Einbildungskraft erweitert.

»Und winket dir liebkosend zu« –

Nun konnte er sich nicht mehr halten: er wiederholte mit entzückungsvollem Accente den Vers leise, eilte zum Klavier, ließ nicht nach, bis ihm Schwinger die ganze Ode durchgesungen hatte und fand jedes Wort darinne so vortreflich, daß er viele Tage nichts anders hören wollte.

Die Baronesse, welche Fräulein Hedwig weder mit Kupferstichen noch Liedern zerstreute, 254 ergriff die einzige für sie übrige Zuflucht – sie las, sah freilich sehr oft ins Buch, indessen daß ihre Einbildungskraft an allen Orten, wo ihr Heinrich ein Zeichen der Liebe zugeworfen, herumschweifte, und ihr künftige angenehme Scenen vormahlte: sie labte sich an diesen Luftbildern so herrlich als Heinrich an seinen drey Göttinnen.

Schwingern wurde sein Schüler etwas verdächtig, daß er beständig, auch bey der entferntesten Gelegenheit, Ulriken herbeyzubringen wußte: um dahinter zu kommen, ließ er ihm völlige Freiheit allein zu gehn, wohin er wollte, und beobachtete ihn von fern in einem Winkel oder auf eine andre Art, doch daß er ihn nie zu beobachten schien: er spürte lange Zeit gar nicht einmal Lust an ihm, das Zimmer zu verlassen. Eines Nachmittags, als er ihn so sich selbst überlassen hatte, – welches jedesmal wie von ohngefähr geschah – gieng er die Treppe hinunter in den Garten. Die Baronesse, die seinen Gang genau kannte, hörte ihn kaum kommen, als sie an der Thür war: er wollte nicht blos mit einem zugeworfnen Blicke sich begnügen, sein Herz strebte nach der Thür hin: schon hatte er einen 255 Schritt zu ihr hingewagt – hurtig zog ihm ein Etwas den Fuß zurück; er gieng verschämt, als wenn die ganze Welt den Schritt gesehn und doch nicht merken sollte, daß er um der Baronesse willen geschehn sey, mit niedergeschlagnen Augen dicht an der andern Wand weg, warf keinen verliebten Blick nach ihr, sah sich vor dem Garten nicht nach ihrem Fenster um: nur zween Gänge durch den Garten! – und er wanderte wieder zurück: ein flüchtiges Hinschielen auf dem Rückwege konnte er sich nicht verwehren, aber es war nur wie weggestohlen, und mit desto gesenkterm Kopfe und desto dichter an der Wand gieng er vor ihrem Zimmer vorbey. Unmuthig über die Scham, die ihm seine Absicht vereitelt hatte, eilte er ans Fenster und zürnte auf sich und seine Schüchternheit.

Das Verlangen war zu dringend, die Gelegenheit zu günstig: er mußte einen zweiten Versuch wagen. Aller mögliche Muth wurde in der Brust gesammelt, er spornte sich selbst durch Vorwürfe über seine Feigheit an: entschlossen gieng er fort, marschirte ziemlich nahe an der geliebten Thür vorbey – da war keine 256 Baronesse! Wie mit einer Keule vor den Kopf geschlagen, blieb er eine halbe Minute dabey stehen:– »wenn dich nun Jemand sähe!« rief die Scham in ihm; und als wenn zehn Peitschen auf seinen Rücken loshieben, rennte er die Treppe hinunter in Einem Zuge in den Garten: auf dem Rückwege, der unmittelbar darauf erfolgte, schielte er nach dem Fenster – da war keine Baronesse! Traurig langte er von dieser zweiten Reise an, die noch unglücklicher ausgefallen war, als die erste. Er sann und sann, warum die Baronesse nicht erschienen seyn möchte: der arme Verliebte wußte nicht, daß er bey allem geschöpften Muthe auf den Zehen zur obersten Treppe herabgegangen war: seine Venus hatte ihn gar nicht kommen hören.

Er fühlte nunmehr, was für ein großer Unterschied es sey, in seinem sechsten Jahre eine Baronesse küssen, und im zwölften, wenn man durch tägliche Erfahrung an den Unterschied des Standes gewöhnt ist, eine Baronesse lieben: dort machte ihm kindische Unbesonnenheit alles leicht, und hier die Ueberlegung alles schwer. Der vertrauliche Umgang mit ihr hatte schon 257 seit vier Jahren aufgehört: er war durch Schwingers Wachtsamkeit, ohne Zwang, sogar ohne daß ers merkte, in Einem Hause von ihr getrennt und gewissermaßen fremd gegen sie geworden: die häufigen Beschäftigungen und Zerstreuungen, in welchen ihn sein Lehrer gleichsam ersäufte, hatten zwar seine erste Zuneigung nicht ausgelöscht, aber doch nicht weiter aufbrennen lassen, da hingegen die Baronesse bey ihrer völligen Muße, bey allem Mangel an für sie anziehenden Zerstreuungen, die ihrige frisch unterhielt, durch Einsamkeit, Lektüre und Nachdenken stärkte, belebte, glühender machte.

So sehr Heinrich die Schüchternheit seiner Liebe fühlte, so beschloß er doch eine dritte Reise: izt war nichts gewisser als daß er sich ihr näherte, ihr eine Hand bot, und der Himmel weis was weiter that: es war so ausgemacht, daß er im Heruntergehen stark auftreten und husten wollte, um sie herbeyzulocken: er schritt mit ängstlicher Herzhaftigkeit schon daher – Himmel! da trat Schwinger herein – und er hatte sich so schön zubereitet!

258 »Wo willst du hin?« fragte sein Lehrer. – Diese unvermuthete Frage schlug seine Unerschrockenheit danieder, wie ein Hagelwetter: er erröthete von einem Ohre zum andern, daß er glühte, ward verwirrt, wiederholte die Frage und stammelte, statt der Antwort, ein nichtssagendes – Nirgends.

»In den Garten?« fuhr Schwinger fort. »Bist du schon vorhin unten gewesen?« – Die glühenden Wangen wurden wie mit Blut übergossen: er antwortete – Nein.

Das war bedenklich: Schwinger hatte ihn belauscht, als er seine zwo verliebten Reisen gethan hatte: er, der für seinen Lehrer sonst nichts Geheimes hatte, läugnet izt eine so gleichgültige Handlung? Die Spatziergänge müssen Bewegungsgründe haben, deren er sich schämt – dachte Schwinger, sezte nicht weiter in ihn und behielt seine Muthmaßungen für sich, um sie durch neue Versuche zu bestätigen oder zu widerlegen.

 


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