Johann Karl Wezel
Herrmann und Ulrike / Band 1
Johann Karl Wezel

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Fünftes Kapitel.

Die Reue des alten Herrmanns war wirklich Schuldigkeit: er hatte ihr durch seine Vermuthung, daß sie den kleinen Heinrich heimlich ihm zum Trotze fortgeholfen habe, Unrecht gethan; denn der Knabe war des Morgens noch vor sechs Uhr aufgestanden, hatte sich selbst angekleidet, hatte, wie ein wahrer Inamorato, das Bild der Gräfin um den Hals gehangen, sich leise aus dem Hause hinausgeschlichen, und langte, des Laufers Berichte gemäß, mit dem Schlage sechs auf dem Schlosse an. Der Graf trug anfangs Bedenken, ihn ohne Vorwissen der Eltern dazubehalten, allein da der Knabe sich weinend und flehend allen Vorstellungen widersezte, ließ ihn der Graf verbergen und beschloß, seiner Gemahlin den folgenden Tag auf eine eigene Art ein Geschenk mit ihm zu machen.

Es war bereits zu ihrem hohen Geburtsfeste ein herrlicher Aufsaz auf die Tafel 95 verfertigt worden, der die Gärten der Alcina vorstellte: aus Bretern, die auf kupfernen Füßen ruhten, prangten Alleen und Hecken von grünem Wachs, Parterre, Boulingrins und breite Gänge zum Lustwandeln aus bunten Zuckerkörnern, klare Seen, Teiche, Bassins von Spiegelglas, Statüen von meißner Porzellän, Nischen, Pavillons, Eremitagen, Monumente, in Wildnissen versteckt – alles, was nur einen französischen Garten verschönern kann, auf das sauberste nach einem ziemlich großen Maasstabe nachgeahmt. In den beiden entferntesten Enden des Gartens hatte der Künstler zwey große Tempel aus Teig, statt des Marmors mit einem nachahmenden weißen Zuckergusse überzogen, auf zwey Bergen symmetrisch aufgebauet. Beide sollten im antiken Geschmack seyn: ein majestätischer Säulengang umgab einen jeden, und durch die gläsernen Wände leuchtete die porzelläne Gottheit hindurch, welcher sie geweihet waren. Ueber den beiden entgegenstehenden Eingängen, zu welchen hohe breite Stufen hinanführten, kündigte eine goldene lateinische Inschrift den Namen der 96 Gottheit an: der eine war der Treue, der andere der Glückseligkeit gewidmet. Die zween Tempel gaben dem Grafen einen Einfall, der vermuthlich der einzige war, so lange die ganze Konditorwelt steht: es sollte mitten in dem Garten auf einem besondern Brete ein großer Tempel eingeschoben werden, der den kleinen Heinrich, als Amor gekleidet, anständiger Weise in sich faßte; und der Graf erfand selbst auf der Stelle die Inschrift Amori dazu. Der Künstler wandte demüthig die Schwierigkeiten ein, stellte den Uebelstand vor, den ein so ungeheures Gebäude unter den andern, nach einem viel kleinern Maasstabe verfertigten Gegenständen hervorbringen müßte, ließ auch mit unter versteckter Weise ein Paar Wörtchen über das Lächerliche und Abentheuerliche der Idee fallen, daß sich der Erfinder derselben entrüstete und mit einem gebietrischen – »ich will«– alle Einwürfe, wie mit einem Donnerkeile, niederschlug. Bald darauf besann er sich aber, daß die Kürze der Zeit den Bau eines so großen Tempels nicht wohl erlauben möchte, und befahl wegen dieser 97 weisen Voraussehung, blos eine große Nische von grünem Lattenwerke auszuführen. Es geschah: man nahm den kleinen Heinrich das Maas zu seiner Hütte, und war schon im Begriffe, Hand an die Arbeit zu legen, als in des Grafens Kopfe eine viel sinnreichere Idee aufstand. In dem Nachdenken über die Verschönerung und den wahrscheinlichen Effekt des großen Tempels gieng er in sein Kabinet, und siehe da! – bey dem ersten Aufschlagen der Augen traf sein Blick auf einen Kupferstich, wo ein verliebter Schäfer den kleinen muthwilligen Amor in einem Vogelbauer seiner Geliebten überreichte. Das Bild war wie für ihn erfunden: die Vorstellung reizte ihn so mächtig, daß er sogleich den Konditor holen ließ, um ihn zu befehlen, daß aus der großen Nische ein großer Vogelbauer werden sollte. Der Künstler war über diesen Antrag noch mehr betreten, und zeigte ihm die Unschicklichkeit, einen ungeheuren Vogelbauer ohne allen Zusammenhang mitten in einen kleinen Garten hinzustellen, und zugleich die Misdeutung, der ein Amor im Käfig, 98 seiner Gemahlin an ihrem Geburtstage geschenkt, unterworfen wäre: allein der Graf entrüstete sich zum zweitenmale und ward höchst ungehalten, daß man beständig der Ausführung seiner Einfälle so viele Schwierigkeiten mache, da sie doch größer und sinnreicher wären, als die elenden Pößchen, die der Konditor auf etliche Breter hingeklebt hätte. Der Zuckerarchitekt wurde empfindlich über diesen verächtlichen Ausdruck, bat sich die Bezahlung für seine Arbeit aus, empfahl dem Herrn Grafen, sich seine Vogelbauer selbst zu bauen, und reiste wieder in die Stadt zurück, woher man ihn verschrieben hatte.

Unter seinen Bedienten hatte der Graf einen, Siegfried genannt, der die andern alle an Dummheit und Bosheit übertraf und wegen der erstern bey ihm in vorzüglicher Gunst stand: deswegen trug er auch eine auszeichnende, mit Gold fast bedeckte rothe Liverey nebst einem rothen Federbusch auf dem Huthe, welches einen witzigen Kopf unter seinen neidischen Kameraden auf den Einfall brachte, ihn des Grafen 99 Maulesel zu nennen, und diese Benennung bey dem Publikum des ganzen Städtchen gebräuchlich und beliebt zu machen. Er war der Rathgeber oder vielmehr Beherrscher des Grafen: denn weil er alles ohne das mindste Bedenken billigte und lobte, was seinen Herrn durch den Kopf und über die Zunge fuhr, wenns gleich die größte Abgeschmacktheit war, so besaß er dafür das Recht, mit eben so wenig Bedenken auch die größten Abgeschmacktheiten zu fodern und zu erlangen. Gemeiniglich leuchtete sein Verdienst am hellsten, wenn der Graf eine ähnliche Widerwärtigkeit, wie izt bey den Konditor, erlitten hatte, daß klügre Leute eine von seinen rohen Ideen nicht billigen wollten: sogleich berief er alsdenn seinen Maulesel zu sich, stellte ihm die bestrittene Sache begreiflich vor Augen, und es fehlte ihm niemals, daß sein Rathgeber sie nicht so bewundernswürdig fand, als sie klügern Leuten verwerflich und ungereimt schien: oft war seine Billigung List, meistens aber Mangel an Einsicht. Er hatte sogar jederzeit die Unverschämtheit, sich zur Ausführung zu erbieten, 100 und das besondre Glück, daß ihm der Graf nie Vorwürfe machte, wenn sie ihm auch mislang, obgleich dies in den meisten Fällen geschah.

Durch die nämliche Oefnung der Thür, die der beleidigte Konditor machte, um aus dem Zimmer zu gehen, wurde auch der Maulesel hereingerufen: es versteht sich, daß er kaum vom Amor im Vogelbauer etwas gehört hatte, als er schon in lautes Lachen und laute Lobeserhebungen ausbrach. – Ich will das schon besorgen: verlassen Sie sich auf mich! sagte er mit weiser Miene. Der Zuckerbecker versteht das nicht so wie ich: ich weis besser, wie man einen Spaß machen soll. – Morgen soll Ihr Vogelbauer auf dem Tische stehen – verlassen Sie sich auf mich! –

Er hielt Wort. Der Tischer mußte von Latten einen runden Käfig zusammennageln, ihn grün anstreichen, und weil das Gebäude zu Ehren eines Geburtstages ausgeführt wurde, gerieth Siegfried auf die glückliche Erfindung, von dem Koche, statt des Knopfs, eine große runde Biscuittorte darauf setzen zu lassen, an 101 welcher rings herum in einem weißen Zuckergrund mit Pistatien, blauen, gelben und rothen Körnern, ein Vivat nebst dem Namen der Gräfin eingelegt war. Um Niemanden einen Augenblick die Mühe des Nachsinnens zu verursachen, was für einen Vogel der Käfig enthielt, ließ der Graf um den obersten Rand desselben, wo das spitzige Dach anfieng, einen zierlich ausgeschnittenen Streifen Postpapier, mit der schwarzen leserlichen Aufschrift L'Amour encagé kleistern.

Der Mittag des festlichen Tages erschien. Der kleine Heinrich war bereits im fleischfarbnen Atlas gekleidet, sein lichtbraunes Haar in kurze frey hinwallende Locken geschlagen und mit einer Rose geschmückt, sein Rücken mit einem Paar Flügeln von Gaze und Fischbein geziert, über die Schultern herab hieng ihm an einem blauseidnen Bande ein Köcher von Pappe mit Goldpappier überzogen, statt verwundender Pfeile mit friedlichen Gänsefedern angefüllt; seine Rechte hielt den niefehlenden Bogen, dessen Sehne eine Vorhangsschnur und so schlaff war, 102 als da das gute Kind um Mitternacht in dem schrecklichsten Regenwetter bey den alten Anakreon einkehrte. Venus hätte sich eines solchen Sohns nicht schämen dürfen, so lieblich lächelte sein weißes rundes Gesichtchen mit den runden rothen Backen, und so schalkhaft sah sein geistreiches Auge unter den schwarzen gewölbten Augenbraunen hervor. Dreymal trat der kleine Bube vor den Spiegel und fühlte die Macht seiner Reize so sehr, daß er seinem eignen Bilde einen Kuß zuwarf.

Das ganze Städtchen hatte sich itzo schon vor zwey Stunden gesättigt: der Ackerknecht spannte die ausgeruhten Ochsen an den Pflug: die gemolknen Stadtkühe wandelten unter dem Peitschenschalle ihres Monarchen durch das Thor auf die Weide hinaus, und die hochgräfliche Gesellschaft schritt feierlich durch die weiten Flügelthüren zur Tafel. Der kleine Amor hatte sich zwar sehr stark geweigert, in den Käfig zu kriechen, und versichert, daß es wider seine Ehre wäre: der Graf mußte sogar in eigner Person ins Tafelzimmer gehen und seinen Ehrgeiz 103 durch die Vorstellung einschläfern, daß ers aus Liebe zur Gräfin thun solle: ohne Anstand sprang er auf den Stuhl und ließ sich in seine enge Wohnung hineinstecken.

Die Gesellschaft war sehr zahlreich und von allen gräflichen und adlichen Sitzen aus der Nachbarschaft zusammen geladen. Erstaunt rissen die Damen sich von den Händen ihrer Führer los, erstaunt ließen die Kawaliere ohne Verbeugung die Hände der Damen fahren, als man beym Eintritte in den Saal den hohen babylonischen Thurm mit dem Knopfe von Kraftmehl mitten auf der Tafel erblickte: nur die Gräfin war mehr verlegen als erstaunt. Sie mußte ein Lachen verbergen, das ihr die Gestalt des Käfigs abnöthigte; sie hielt lange meisterhaft an sich, doch bey Erblickung des Biscuits, der wie ein runder Strohhut auf dem spitzen Dache steckte, überwand das Lächerliche alle ihre Stärke: sie mußte das Schnupftuch herausziehen und sich so lange hinter ihm räuspern, bis ihr Gesicht wieder in ernste Falten gelegt war. Noch einen größern Sturz mußte sie aushalten, 104 als sie den fleischfarbenen Amor darinne sitzen sah: ihre Einbildungskraft mahlte ihr schlechterdings, wegen der vollkommenen Aehnlichkeit des Hauses, einen Liebesgott vor, der gewisse menschliche Bedürfnisse abwartete. Sie nahm Tabak, sie räusperte sich, sie aß Suppe, sie sprach mit ihrem Nachbar: nichts half! immer kam das verzweifelte Bild wieder zurück, immer wollten ihre Lippen lachen. Zum Unglück bemerkte Jedermann ihre Verlegenheit, ob man gleich die wahre Ursache derselben nicht errieth: doch schien der Graf etwas schlimmes zu muthmaßen. Er war ohnehin schon mißmüthig genug, daß man so stumm dasaß und seine Erfindung auch nicht mit einem Bröckchen Beifall beehrte; geschah es weil man mit der Gräfin gleiche Empfindung hatte, oder weil man noch so ganz nichts von dem Sinnreichen darinne begriff, daß man auch nicht aus Schmeicheley zu loben wagte, ohne sich zu verrathen, daß es bloße Schmeicheley sey? – das kann ich nicht entscheiden: so viel bleibt gewiß, daß es bey vielen die 105 lezte Ursache größtentheils wirkte, wenn auch die erste nichts dabey that; und diese Ursache zu entfernen, das heißt, sich nach der Absicht des großen mittlern Korbes zu erkundigen, hielt jedermann nach hergebrachter teutscher Sitte für unanständig.

Ein alter Oberster, der sich gänzlich über Zwang und Zurückhaltung hinwegsezte, brach endlich die Bahn: er wäre schon längst so vorlaut gewesen, wenn ihn nicht bisher die Betrachtung des Gartens beschäftigt hätte: doch izt kam die Reihe an Amors Käfig. – »Was ist das für ein Stall hier in der Mitte?« fragte er den sogenannten Maulesel des Grafen, der horchend hinter den Stühlen herumschlich und spionirte, was für Urtheile man über seine Arbeit fällte. – »Das ist kein Stall,« antwortete der empfindliche Erfinder. – »Es steckt ja doch da ein Vieh darinne: was solls denn seyn?« fragte der Oberste weiter – »Lesen sie doch nur!« war die höchsttrotzige Antwort hierauf.

Der Oberste folgte seinem Rathe, sezte die Brille auf, las die Inschriften und brachte mit 106 Hülfe der gegenübersitzenden Nachbarin heraus: Vivat Sophia Eleonora l'Amour encagé. – »Hm!« brummte der Oberste, »das sollte ja wohl heißen: Vivat Sophia Eleonora et l'amour encagé

»So?« unterbrach ihn die Gräfin lächelnd. »Das hieße ja so viel als ob ich und die Liebe am besten aufgehoben wären, wenn man uns einsperrte.«

Er sann nach: – »Der Teufel! ja, das hieß es,« fuhr er heraus. »Haben Sie das gemeint, Herr Graf?«

Die Gräfin winkte zwar dem Obersten, ihrem Gemahl, der keinen Spaß verstund, die Frage nicht zu wiederholen: allein der übereilte Mann achtete auf keinen Wink, sondern schrie den ganzen streitigen Punkt mit allen Clauseln über die lange Tafel hinauf: der Graf wurde roth, weil ihm das Gespräch einen Tadel über sein Werk in sich zu schließen schien, und verbarg sein Misfallen damit, daß er sich stellte, als wenn er nichts verstehen könte. Unterdessen wurde die Materie um und neben dem Obersten, unter 107 seinem Vorsitze, noch genauer untersucht. So bald nur Fräulein Hedwig – eine weitläuftige Anverwandtin der Gräfin, die als Wirthschaftsdame bey ihr lebte und zugleich die Stelle einer Guvernante bey der Baronesse Ulrike versah, die Krone aller häßlichen Fräulein – so bald sie, sage ich, heraus hatte, daß ein Amor im Käfig steckte, so konte sie nicht unterlassen, die Gesellschaft mit einem Gerichte von ihrer beliebten Gelehrsamkeit zu bedienen. »Das ist ja,« fieng sie an und reckte den dicken Kopf in die Höhe, »wie dort bey dem Virgilio Marus, wo die jungen Grafen des Aeneas den Amor in einen Topf steckenDer Himmel weis, was für eine Stelle das hochgelehrte Fräulein Hedwig meint. So viel ist mir bekannt, daß sie zuweilen die Verwegenheit hatte, in den lateinischen Text der alten Autoren hineinzusehen, und weil sie nur hin und wieder ein Wort verstand, war ihre Uebersetzungsart ganz drollicht. Comites Aeneae waren ihr die jungen Grafen des Aeneas: wo sie duces erblickte, sezte sie Herzoge hin, und jeden Caesar machte sie zum Kaiser: auf diese Art gelang es ihr, die sämtlichen Stände des heiligen römischen Reiches in den Virgil hineinzubringen. Vielleicht hat sie durch eine ähnliche Auslegungskunst ihren Amor im Topfe herausgekünstelt. Vermuthlich fand sie in einer ältern Ausgabe irgend eines Autors amor in ollam statt illam: denn das begegnete ihr sehr oft, daß sie einem Schriftsteller zuschrieb, was ein anderer tausend Jahre vor oder nach ihm gesagt hatte.

108 »Doch nicht in einen Nachttopf?« schrie der unsaubre Herr Oberste. Ob sich gleich Fräulein Hedwig bey seiner unanständigen Frage die Nase zuhielt, und die Mine des Ekels sich in ihrem Gesichte auf das lebhafteste ausdrückte, so erwischte sie doch die günstige Gelegenheit, ihrer Gelehrsamkeit Ehre zu machen, mit großer Herzensfreude. »Ach,« fuhr sie fort, »der arme Bube hat schon viel Herzeleid ausstehen müssen: wie dort bey dem Ambrosius wird er gar mit Stecknadeln gestochen, und im Cicero Marcus binden ihn die Hofdamen der Königin Semiramis mit ihren jartieres« –

»Womit?« unterbrach sie der Oberste. Fräulein Hedwig wiederholte es.

»Mit den Strumpfbändern also?« rief der Oberste.

109 Fi! antwortete das Fräulein mit Naserümpfen und nahm Tabak. Wer wird denn so etwas über Tafel nennen?

Der Oberste. Warum denn nicht?

Fräulein Hedwig. Ueber Tafel darf man von nichts reden, was unter der Tafel ist.

Der Oberste. Das mag wohl bey Ihren Carus und Narrus und wie die Kerle weiter heissen, Mode gewesen seyn: aber ich wüßte nicht, wer mirs wehren sollte, von Strümpfen und Schuhen –

Das Fräulein. Schämen Sie sich doch! Wer wird denn dergleichen Sachen deutsch nennen? Wenn Sie ja davon sprechen müssen, so dürfen Sie ja nur chaussure sagen.

Der Oberste. Was ist denn das bessers? – Ob ich, zum Exempel, sage: Votre cû large oder –

Indem er die Uebersetzung hinzufügen wollte, zog ein allgemeiner Aufstand an dem andern Ende der Tafel seine Aufmerksamkeit von der vorhabenden Disputation ab. Der kleine Amor hatte in seinen Käfig Langeweile: durch die 110 Ausdünstungen des Essens, die eine Atmosphäre von Wohlgeruch um ihm bildeten, wurde sein Appetit ungemein rege gemacht: – diese beiden Ursachen trieben ihn an, mit seinen kleinen Fingern in die Biscuittorte, die auf dem Dache des Käfigs ruhte, hineinzubohren, und sich ein Stück herauszuzwicken. Der Genuß feuerte die Begierde noch mehr an, und da er ringsrum alles, was er durch die ofnen Zwischenräume der Latten erreichen konnte, heruntergeholt und verzehrt hatte, suchte er durch einen Stoß mit dem Bogen der Torte eine Wendung zu geben, daß sie ihm eine noch unangetastete Seite zukehrte: allein der Stoß gerieth in der Hitze der Leidenschaft zu stark, die Torte stürzte herab, in die Gärten der Alcina hinein, zerschmetterte Bäume, Hecken und Pavillons, taumelte über die Gartenmauer hinaus und fiel mit lautem Geräusche in eine Assiette hinein, daß ein dichter Platzregen von schwarzer Brühe auf die dort sitzenden herabströmte. Alles sprang auf, seine Kleider zu retten, als schon die ganze herumgesprühte Essenz auf ihnen lag: in 111 Einem Tempo wurde eine ganze Reihe Stühle zurückgeworfen: Bediente schrieen, daß man ihre Zehen quetschte: die Kawalliere, denen die emporschnellenden Fischbeinröcke der Damen bey dem Aufspringen Ohrfeigen gaben, stolperten, um ihnen zu entgehen, über die Stühle hinweg: der kleine bucklichte Herr von E** wurde durch den einen Windflügel der Frau Geheimeräthin von S** so gewaltig aus allem Gleichgewichte gebracht, daß er zu Boden stürzte, und weil sich die Dame sogleich auf den zurückgestoßnen Stuhl wieder niedersezte, um sich die entstandnen Flecken abzuwischen, so deckte sie den ganzen kleinen gestürzten E** mit ihrem ungeheuren Fischbeinrocke zu, und in der Hofnung, daß sie bald ihren Sitz verändern möchte, blieb er geduldig liegen. Die gehofte Veränderung erfolgte nicht, und er fieng also an, sich aus seinem Zelte herauszuarbeiten. Der Kammerherr T**, der daneben stund, sah unter der Schleppe der Geheimeräthin zween ihn bekannte Menschenfüße hervorkommen und fragte: E**, wo sind Sie denn? – Hier! seufzte der arme Junker unter 112 dem Fischbeinrocke hervor, spannte seine Schnellkraft an und kroch mit den Bewegungen einer Raupe, auf allen vieren aus der erstickenden Atmosphäre heraus.

Noch wußte Niemand, daß der Vogelbauer eine lebendige Kreatur verbarg, sondern man bildete sich ein, daß die Torte durch ihre eigne Schwerkraft den gefährlichen Fall gethan habe: Amor hatte sich, dem gegebnen Befehle gemäß, so still darinne gehalten, daß man ihn für eine Wachspuppe ansah, und seine Bewegungen bey dem Bestehlen der Torte wurden durch das Geräusch des Gesprächs verschlungen. Izt aber ward es ihm unmöglich, länger eine Puppe vorzustellen: der genoßne Biscuit fieng an, heftige Unordnungen in seinem kleinen Körper zu verursachen: die Schmerzen wüteten so heftig, und die Besorgniß vor einer entehrenden Aufführung quälte ihn so sehr, daß sich der arme Bube niedersezte und bitterlich weinte. Es war gerade Ebbe in der Unterhaltung, und alle Ohren wandten sich verwundrungsvoll nach dem Orte hin, woher die Klagetöne kamen: einige suchten 113 unter der Tafel, aber die Gräfin lenkte ihre Augen sogleich auf den Käfig, sah aufmerksamer, als bisher, durch die schmalen Zwischenräume der Latten und wurde mit Erstaunen ihren lieben kleinen Heinrich gewahr. Hurtig gab sie Befehl, ihn herauszulassen: der schöngelockte Liebesgott drückte sein verschämtes Gesicht dicht an die Brust des Bedienten, der ihn herausnahm, und ließ sich voll von innerlichen Martern der gekränkten Ehre zum Zimmer hinaustragen. Knirschend trat er vor der Thüre hin, stampfte und warf, voll Aergers über sich selbst, den Bogen auf den Fußboden und deckte mit den kleinen Händen das glühende Gesicht zu. Man sprach ihm Trost ein; aber sein kindisches Herz fühlte schon zu sehr die Stacheln der Ehre und Schande, um sich durch Worte beruhigen zu lassen.

Die Gräfin war für ihn besorgt und zürnte bey sich nicht wenig über den tollen Einfall ihres Gemahls, der nicht weniger bey sich über den unschuldigen Liebesgott ungehalten war, daß er ihm durch sein unzeitiges Weinen den 114 schönen Plan verrückt hatte: denn nach seinem Willen sollte er nach der Tafel mit dem Käfig abgehoben und seiner Gemahlin, wie ein Papagey, zum Geschenk überreicht werden. Beide sprachen seit dieser Begebenheit in den übrigen drey Stunden, die man noch bey Tafel zubrachte, wenig oder gar nichts mehr; und die Gäste aßen, tranken und hatten Langeweile während dieser Zeit auf die gewöhnliche Art.

 


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