Johann Karl Wezel
Herrmann und Ulrike / Band 1
Johann Karl Wezel

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Zweites Kapitel.

An einem sehr heißen Sommertage, gerade als die Sonne in den Krebs treten wollte, gieng der Graf Ohlau, seine Gemahlin am Arme und in Begleitung seiner sämtlichen Domestiken, überaus prächtig in der neuangelegten Lindenallee spatzieren, welches er jeden Sonntag bey heiterm Wetter zu thun pflegte. Das ganze Städtchen, das seine Liebe zur Pracht kannte, paradirte alsdann auf beiden Seiten der Allee in den auserlesensten Feierkleidern: Männer und Weiber, Kinder und Eltern machten eine Gasse auf beiden Seiten und sahen mit gaffender Bewunderung das starre goldreiche Kleid ihres hochgebornen Herrn Grafen nebst einem langen Zuge von reicher Liverey durch die doppelte Reihe gravitätisch dahinwandern. Nero konnte nicht grausamer zürnen, wenn er auf dem Theater sang und diesen oder jenen Bekannten unter den Zuschauern vermißte, als der Graf Ohlau, wenn bey diesem sonntägigen 9 feierlichen Spatziergange Jemand von den Einwohnern des Städtchens fehlte: ob er gleich einen solchen Verächter seiner Hoheit nicht, wie jener Heide, köpfen ließ, so war doch allemal in so einem Uebertretungsfalle auf einen heftigen Groll und bey der nächsten Gelegenheit auf eine empfindliche Rache zu rechnen. Obgleich zuweilen die Sonne so brennende Strahlen auf die Versammlung warf, daß die kahlen Köpfe der Alten, wie Ziegelsteine, glühten, daß die weißgepuderten Parucken der Rathsherrn von der geschmolzenen Pomade mohrenschwarz, und die schönen schneeweißen Mädchengesichter rothbraun und mit Sommersproßen und Blattern von der Hitze gezeichnet wurden, so wagte es doch Niemand, so lange sich der Graf in der Allee aufhielt, den Schatten zu suchen: man schwizte, ächzte und ward gelassen zum Märtirer des herrlichen Kleides, das der Graf zu begaffen gab. Er selbst machte sich mit der nämlichen Standhaftigkeit zum Opfer seines Stolzes, und seine Gemahlin – mehr aus Gefälligkeit gegen ihn als aus eigner Neigung – 10 steckte sich jedesmal in einen großen Fischbeinrock und ein schweres reiches Kleid, um die Herrlichkeit seines Spatziergangs vermehren zu helfen.

Die Last dieser Feierlichkeit war noch keinen Tag so drückend gewesen, daß der Graf sie nicht hätte ertragen können: doch izt am gemeldeten Sonntage schoß die Sonne bey ihrem Eintritte in den Krebs so empfindliche Strahlen, die wie Pfeile verwundeten. Die Augen der Zuschauer waren matt und blickten mit schwacher Bewunderung auf das apfelgrüne Kleid, in dessen Stickerey die Silberflittern, wie ein gestirnter Himmel, glänzten, und die Folie mit allen Farben des Regenbogens spielte: Jedermann lechzte und dachte, empfand und sagte nichts als – »das ist heiß!« Der Graf wedelte sich unaufhörlich mit dem musselinen Schnupftuche das Gesicht, blies um sich und seufzte einmal über das andre seiner Gemahlin zu – »das ist heiß!« Die Frau Gräfin gieng geduldig an seiner Seite unter dem rothtaffetnen Sonnenschirme, mit glühendem aufgelaufenen 11 Gesichte und klopfendem Busen, wo große Schweißtropfen, wie die Perlen eines starken Morgenthaues, standen, zerrannen und in kleinen Bächen hinabliefen, athmete tief und keuchte nach ihrem Gemahle hin – »das ist heiß!« Laufer, Heiducken, Jäger und Lackeyen, so stolz sie sonst in ihren Galakleidern daherschritten, schlichen mit gesenkten Häuptern, muthlos und schmachtend hinter drein und brummten einander, ein Jeder mit seinem Lieblingsfluche, zu – »das ist heiß!« Es war nichts anders übrig als der Sonne nachzugeben und dem Schatten zuzueilen.

Gerade mußte sich es treffen, daß unter der schattichten Linde, wo der Graf mit seinem Gefolge Schutz suchte, der kleine Herrmann mit einigen seiner Kameraden sein gewöhnliches Spiel spielte: er war König, theilte Befehle aus, die die übrigen vollziehen mußten, und saß eben damals mit völliger Majestät und Würde auf der Bank unter der Linde, um einem Paar Abgesandten Audienz zu geben. So bald sich der Graf dem Baume näherte, liefen die 12 erschrocknen Abgesandten davon, nur der kleine König blieb, in die Hoheit seiner Rolle vertieft, mit gravitätischem Ernste sitzen. Die Mutter, die in der Ferne gegenüber stand, biß sich vor Aerger über die Unhöflichkeit ihres Sohnes in die Lippen, und der Vater hub schon mit Zähneknirschen und einem unwilligen – »du sollst es kriegen« – sein Rohr drohend in die Höhe. Die Gräfin lächelte über die Unerschrockenheit, mit welcher sie der Knabe erwartete, und sagte freundlich zu ihm: Rücke zu, mein Kleiner! – Nein, das kann ich nicht! antwortete der Knabe. Ich muß in der Mitte sitzen; denn ich bin König, und Sie sind nur Graf. – Man lachte und gab, aus Ehrerbietung gegen seine königliche Würde, seinem Verlangen nach.

Ohne langes Besinnen fuhr er in seiner Rolle fort und gab mit der nämlichen Dreistigkeit, womit er seine Gespielen beherrscht hatte, auch dem Grafen Befehle, und weil dieser nicht für nöthig erachtete, sie zu vollstrecken, so versicherte ihn der kleine Monarch, daß er sich einen bessern Unterthan in ihm versprochen hätte, und drohte ihm 13 für seinen Ungehorsam die fürchterlichsten Strafen an. Die Gräfin, die sehr bald merkte, daß alle diese Ideen, ob es gleich nur Kinderspiel war, dem Stolze ihres Gemahls widrig wurden, suchte den Knaben auf etwas anders zu lenken und bat ihn, seine Majestät einmal bey Seite zu setzen und ihr ein Paar Blumen zu pflücken. Pfeilschnell sprang er von der Bank hinweg, sezte sich ins Graf, pflückte Blumen und band mit dem sorgfältigsten Fleiße ein sehr zierliches Buket, das er der Gräfin mit dem verliebten Anstande eines Schäfers und einem Handkusse überreichte, nebst der galanten Versicherung, daß er sie sehr lieb habe. – Mein Sohn, sagte die Gräfin darauf, du wirst einmal ein großer Mann oder ein großer Narr werden. – Ach, erwiederte der Knabe mit kindischer Naifetät, mit dem großen Narren hats keine Noth: das will ich wohl bald werden, wenn ich nur erst ein großer Mann bin. –

Gräfin. Hast du denn Lust ein großer Mann zu werden? 14

Der Kleine. Ja, das werd' ich, und weiter nichts!

Gräfin. Auch ein großer Narr?

Der Kleine. Nein, das ist meine Sache nicht. – Das ist einer, sezte er hinzu und wies mit dem Finger auf den Grafen.

Steifigkeit und Gezwungenheit müssen auf jede richtig gestimmte Seele einen unmittlbaren widrigen Eindruck machen; sonst hätte unmöglich diesem kleinen Schwätzer ein so kindischer Sarkasmus, so voll der bittersten Wahrheit, entwischen können. Der Graf fühlte ihn mit Widerwillen, und es that ihm sehr wehe, daß er nicht zürnen konnte, weil ihn ein Kind gesagt hatte: seine Gemahlin, die seinen Stolz und seine ceremoniöse Eitelkeit innerlich sehr misbilligte und sich nur nicht offenherzig gegen ihn herauszulassen getraute, freute sich im Herzen über den Vorwitz des Bubens und ermahnte ihn zur Behutsamkeit und zum Respekte in seinen Ausdrücken, vielleicht gar in der boshaften Absicht, seine Unverschämtheit noch mehr zu reizen.

15 Was hast du denn an mir auszusetzen? fragte der Graf mit hastigem Tone, um seine Empfindlichkeit zu verstecken.

Der Kleine. Sehr viel! – Warum ziehen sie sich denn so warm an? izt in der Hitze? – Sehn Sie! das ist gescheidt angezogen! (wobey er seine kleine rothstreifigte Leinwandjacke aus einander zog und von der Luft durchwehen ließ.)

Die Gräfin verbarg eine boshafte Freude hinter dem Fächer und machte ihm den Einwurf, daß sich eine solche Kleidung nicht für den Grafen schicke.

Der Kleine. Warum denn nicht? Wenn sie sich für mich schickt!

Die Gräfin. Und du bist doch ein König!

Der Kleine. O sie sind eine scharmante Frau: ich habe Sie wahrhaftig recht lieb, das können Sie glauben. Wenn ich groß bin, will ich Sie heirathen.

Die Gräfin. Du mich? – Ich habe ja schon einen Mann.

Der Kleine. Ja – (wobey er den Grafen 16 mit schiefem verächtlichen Blicke vom Kopf bis zu den Füßen übersah) – den hätt' ich nicht genommen.

Die Gräfin. Warum denn nicht?

Der Kleine. Weil er so viel Silber auf dem Rocke hat.

Die Gräfin. Du wirst also vermuthlich kein Silber tragen, wenn wir einander heirathen?

Der Kleine. Also wollen Sie mich? – Geben Sie mir Ihre Hand darauf!

Die Gräfin. Hier ist sie. – Warum bist du denn aber dem Silber so gram?

Der Kleine. Weil es zu gepuzt aussieht.

Die Gräfin. Ich merke also wohl, du bist kein Liebhaber vom Gepuzten.

Der Kleine. Garnicht! Wenn ich auch einmal ein großer Mann bin, geh ich doch nicht anders wie itzo.

Die Gräfin. Was für ein großer Mann denkst du denn zu werden?

Der Kleine. Das weis ich selber noch nicht recht. Sonst wollt' ich immer ein König 17 werden: aber das gefällt mir nicht mehr. Ich will lieber zur See gehen und Länder entdecken.

Die Gräfin. Da wirst du mich bald zur Wittwe machen.

Der Kleine. Ja, wenn ich Sie heirathe! – (Vor Freuden that er zwey große Sprünge bey diesen Worten.) – Da bleib' ich lieber zu Hause bey Ihnen und werde recht gelehrt – recht erstaunend gelehrt! Hernach müssen die Leute aus der ganzen Welt zu mir kommen und mich sehen wollen: die Königin aus Saba muß zu mir kommen: da lös' ich ihr Räthsel auf.

Die Gräfin. Die gute Frau ist schon lange todt.

Der Kleine. Es wird doch wohl eine Andre wieder da seyn. Die bringt mir dann große Geschenke – Gold, Silber, Weihrauch –

Die Gräfin. Du bist ja kein Liebhaber von Gold und Silber.

Der Kleine. Ach, ich behalte nichts davon: ich schenke alles wieder weg, alles.

Die Gräfin. Das ist edelmüthig. – Ich dächte, so ein munterer Bursch, wie du, gienge lieber in den Krieg.

Der Kleine. Nein, das ist gar nicht meine Sache.

Die Gräfin. Warum nicht?

Der Kleine. Das Pulver macht schmuzige Hände: die Soldaten sehen mir alle zu wild aus; und im Kriege wird man ja todt geschossen!

Die Gräfin. Du mußt die Andern todt schiessen, damit sie dich nicht todt schießen können.

Der Kleine. Ich sollte Jemanden todt schießen? – Das könnt' ich nicht. Das thät mir so weh als wenn meine Mutter eine Henne abschlachtet. – Ich kann gar kein Blut sehn – (sezte er mit leisem Tone und halbem Schauer hinzu)

Die Gräfin. Bist du so mitleidig?

Ach, seufzte der Knabe, und Thränen standen ihm in den dunkelblauen Augen, ich kann gar nicht sterben sehn! Auch keinen Menschen, dem etwas weh thut! Der lahme Görge hier in der Stadt – wenn ich den mit seiner Stelze 19 kommen sehe – ach, da geh' ich allemal in eine andere Gasse, daß ich nicht vor ihm vorbey muß. –

Dort kömmt die Kutsche! unterbrach der Graf freudig ihr Gespräch, der unterdessen voller Ungeduld, wie auf Feuer, dagesessen, und nach der lange verschobnen Ankunft des blauen Staatswagens geseufzt hatte.

Bey seinem Vergnügen an der Pracht spielten Kutschen und Pferde keine geringe Rolle: er verschrieb sich alle mögliche Risse von Staatskarossen und den sämtlichen übrigen Arten von Wagen, und Niemand durfte ihm leicht ein merkwürdiges Fuhrwerk oder Pferdegeschirr nennen, ohne daß er nicht den Auftrag bekam, eine Zeichnung davon zu schaffen. Keine Schmeicheleyen und kein Geld wurden dabey gespart, den Zeichner und Kommissionar zur Beschleunigung seines Wunsches aufzumuntern: empfahl sich einer unter den erhaltnen Rissen durch unwiderstehliche Schönheiten, so wurde er ausgeführt, und jedesmal, wenn so ein neues Werk vollendet und zum erstenmale gebraucht wurde, 20 empfieng das ganze Schloß einen Schmaus, wie andere Leute zu geben pflegen, wenn sie ein Haus gebaut haben. Schade war es nur, daß die herrlichen Gebäude allemal aus einem doppelten Grunde unbrauchbar und meistens auch ziemlich abgeschmackt waren: seine Leidenschaft für die Pracht zog Schönheit und Geschmack so wenig zu Rathe, daß jedes Fleckchen von der Decke bis zur Radeschiene, von dem äußersten Ende der Deichsel bis zu der äußersten Spitze des lezten Eisens hinter dem Kasten, mit Gold beklebt werden mußte, wofern es andre Ursachen nur im mindsten zuließen: auf der andern Seite wollte sein Geiz – wovon ihm eine starke Dosis zu Theil geworden war – jenen prächtigen Kunstwerken die Dauerhaftigkeit einer ägyptischen Pyramide geben und rieth ihm, sie so massiv, so plump bauen zu lassen, daß selten eine Kutsche nach geendigter Schöpfung mit weniger als acht Pferden von der Stelle gebracht werden konnte. Dieselben Ursachen machten auch seine Pferdegeschirre zu wahren Meisterstücken des schlechten Geschmacks: sie waren alle so 21 schwer, daß unter der kostbaren Last die armen Rosse ihres Lebens nicht froh wurden und meistens zwey Tage eine Entkräftung fühlten, wenn sie einmal eine Stunde lang in ihrem ganzen Schmucke an so einem vergoldeten Hause gezogen hatten. Bey einer solchen Bewandniß ist es kein Wunder, daß der Herr Graf während der vorhergehenden Unterredung seiner Gemahlin mit dem kleinen Herrmann so lange auf den blauen Wagen warten mußte, ob er gleich beinahe schon angespannt war, als der Spatziergang eröfnet wurde: das ungeheure Gebäude konnte bey der gewaltigen Hitze nicht anders als in dem Tempo eines gemeinen Mistwagens fortbewegt werden, und noch blieben die niedergeschlagnen Pferde alle sechs Schritte einmal stehen, um auszuschnauben.

Endlich langte die blaue fensterreiche Karosse bey der Linde an: sechs Perlfarben zogen sie unter einem blausamtnen, mit goldnen Tressen und unzählbaren Schnallen gezierten Geschirre: sie hiengen traurig den schöngeflochtnen, mit goldnen Rosen geschmückten Hals, und fühlten 22 ihr glänzendes Elend so stark, daß sie nicht einmal die funkelnde Quaste auf dem Kopfe schüttelten. Graf und Gräfin stiegen hinein, und ohne daß man es gewahr wurde, wie ein Wind, wischte der kleine Herrmann hinter ihnen drein – pump! saß er da, dem hochgebornen Paare gegenüber. Der Graf erschreckte ihn zwar durch die auffahrende Frage – »was willst du hier?« – allein der Knabe antwortete ihm unerschüttert: »Ich will einmal sehn, wie sichs in so einem Wagen fährt.«

Unterwegs machte er sehr oft die Anmerkung, daß diese Art zu fahren für ihn erstaunend langweilig wäre, bezeugte auch zuweilen ein großes Verlangen, aus dem Kasten herauszugehn, und da ihn die Gräfin zur Ruhe vermahnte, versicherte er, daß er nur aus Liebe zu ihr sich so lange darinne zurückhalten ließe.

Allmählich begann der zweite Akt des Spatziergangs. Wenn der Graf sich bey dieser Sonntagskomödie mit der ganzen Commun seiner Residenz einige Zeit von der Sonne hatte sengen und brennen lassen, erschien gewöhnlich, wie itzo, eine 23 von seinen schwerfälligen Staatskutschen, worinne er mit der Langsamkeit einer Leichenbegleitung durch die Alleen eines Lustwäldchens fuhr: die ganze Stadt folgte ihm alsdann zu Fuß auf beiden Seiten und hinten nach, und jeder Knabe hatte die Erlaubniß, ein Band, ein Schnupftuch oder jede andre Sache, die weich genug war, um keine Beulen zu machen, wenn sie einen Kopf traf, in den Wagen zu werfen. Nach geendigter Spatzierfahrt sammelte der Kammerdiener alle hineingeworfne Lappen in einen Korb, trat mit ihm mitten auf den Schloßhof, die Stadtjugend stellte sich in einem Zirkel um ihn, und sobald der Graf das Fenster öfnete, fieng er an, ein Band, ein Tuch nach dem andern in die Höhe zu halten und nach dem Eigenthümer desselben zu fragen: wer sich dazu bekannte und sein Recht aus gültigen Gründen beweisen konnte, erhielt bey der Rückgabe etwas Geld: waren die Ansprüche so verwickelt und zweifelhaft, daß sich der Kammerdiener ohne Verletzung seines Richtergewissens nicht zu entscheiden getraute, so mußte der Zweykampf 24 den Ausschlag thun: die Kompetenten traten in die Mitte des Kreises, rangen mit einander, und wer den andern zuerst niederwarf, besaß das Band und den damit verbundnen Preis ungestört bis in alle Ewigkeit, wenn es auch gleich dem Ueberwundnen gehörte. Während der Austheilung wurde ein Faß voll Bier in Bereitschaft gesezt, auf einen kleinen Wagen geladen; und hatte jedes Band seinen Besitzer gefunden, so spannte sich ein Trupp Knaben daran und zog ihn, Musik voraus, in den herrschaftlichen Garten, wo in einem alten Pavillon die Mädchen warteten, um mit ihnen gemeinschaftlich den Abend unter Tänzen und Liedern hinzubringen. Sehr oft sah der Graf mit seiner Gemahlin ihren jugendlichen Ergötzlichkeiten zu, wenigstens waren doch auf allen Fall die Eltern zugegen, um Unordnungen vorzubeugen und durch ihre Gegenwart Reizungen zu unterdrücken, welche der Tanz leicht erweckt.

Der kleine Herrmann, der aus Liebe zur Gräfin die ganze Fahrt hindurch bis zur Ankunft auf dem Schlosse in der Kutsche ruhig 25 ausgehalten hatte, bat sich die Erlaubniß aus, bey der darauf folgenden Preisaustheilung die Stelle des Kammerdieners zu vertreten: und auf Zureden seiner Gönnerin bewilligte ihm der Graf seine Bitte. Er sammelte die zahlreichen Bänder und Tücher aus dem Wagen mit eilfertiger Geschäftigkeit zusammen und trat mit dem völligen feyerlichen Anstande eines Richters, unter der Begleitung des Kammerdieners, der Korb und Geld neben ihm her trug, in den Kreis seiner erstaunten Kameraden. Sie murmelten zwar einander einige kleine Hönereyen zu, daß ihres Gleichen über sie erkennen sollte: allein Graf und Gräfin öfneten das Fenster, und man schwieg. Der neue Richter schwenkte ein Band in die Luft, fragte, wem es gehörte, gab es dem ersten, der mit einem deutlichen Mir antwortete, aber kein Geld, verfuhr mit den übrigen eben so, und Niemand bekam Geld. Der Kammerdiener, dieser neuen Praxis ungewohnt, wollte ihm ins Amt greifen; die ganze versammelte Jugend wurde schwürig und wollte die alte Prozeßordnung hergestellt wissen: doch 26 die Gräfin rief – »laßt ihn nur machen!« – und man mußte sich beruhigen. Als der Korb ausgeleert war, befahl er einem Jeden nach der Reihe, seine eingelösten Bänder zu zählen, und wer die meisten hatte, bekam das wenigste Geld: ein einziger Knabe, der nur eins in den Wagen geworfen und auch nur eins zurückgefodert hatte, erhielt den höchsten Preis – gerade so viel, als alle übrige zusammen. Natürlich mußten die Andern über ihre getäuschte Unverschämtheit unwillig werden, und weil kein Mittel zu einer größern Rache vorhanden war, schimpfte, schmähte, verspottete man die neue Weisheit des Richters: der Kammerdiener, dem es auch nicht anstund, daß der Knabe klüger seyn wollte, als er alter Mann, suchte ihn anzuhetzen und in einen Streit zu verwickeln, wo er nothwendig den Kürzern ziehen würde. Leid' es nicht! zischelte er ihm leise zu: allein er bekam nichts als die stolze Antwort – »Das schadet mir nichts, ich bleibe dennoch, wer ich bin« – und so wanderte unser kleine Herrmann, voll edlen Bewußtseins, nach dem Zimmer des Grafen.

27 Der Empfang von Seiten der Gräfin war ungemein lebhaft und freundlich, und selbst ihr Gemahl fühlte in dem Verfahren des Knaben bey der Preisaustheilung so etwas, das mehr als einen gemeinen Geist voraussezte. Sie lobten ihn beide, beschenkten ihn, und der Graf gab sich selbst die gnädige Mühe, ihn mit hoher Hand in seinen Staatszimmern herumzuführen; denn nach seinen Begriffen war es die größte Gnadenbezeugung, wenn er Jemandem Gelegenheit gab, ihn in seiner Pracht zu bewundern. – Wie gefällt dir das alles? fragte der Graf. – »Ganz wohl, erwiederte der Knabe; nur das viele Gold kann ich nicht leiden.« – Was möchtest du nun am liebsten unter allen diesen Sachen haben? fieng die Gräfin an. – »Nichts als das!« antwortete der Kleine und wies auf ein Porträt der Gräfin.

Die Vorstellung – »ich gefalle« – verbreitet über weibliche Nerven jederzeit so eine eigne lebhafte Behaglichkeit, daß ihr ein Frauenzimmer auch bey einem sechsjährigen Knaben nicht widerstehen kann: die Gräfin gieng, ohne 28 ein Wort zu sagen, in ihr Zimmer und kam mit einem Miniaturgemählde zurück, das sie ihrem Lieblinge – denn das war er nun völlig – zum Geschenk überreichte. – Wenn dir, sagte sie, die Frau auf dem großen Gemählde hier so wohlgefällt, so will ich dir ihr Porträt im Kleinen geben: behalt es zu meinem Andenken! – Der Knabe that einen freudigen Sprung, seine ganze Miene wurde Vergnügen, er küßte das Bild etlichemal und bat um ein Band: die Gräfin vertröstete ihn bis zur Zurückkunft in ihr Zimmer: hurtig machte sich der galante Bube sein Knieband los, zog es durch das Oehr des Porträts und hieng es um den Hals. – »Mein Orden ist tausendmal schöner als Ihrer,« sprach er zum Grafen und drückte sich das Bild so fest an die Brust, daß die Gräfin sich nicht enthalten konnte, ihm für diese unschuldige Schmeicheley einen derben Kuß auf die runden rothen Backen zu drücken.

Man öfnete die beiden Flügel der Thür: der Graf erblickte die Spieltische in völliger Bereitschaft: – »zum Spiel!« rief er und bot seiner 29 Gemahlin die Hand, die sie ungern annahm, weil sie sich von ihrem kleinen Liebhaber trennen sollte. Zugleich gab er einem Laufer Befehl, den Knaben zu seinen Eltern zurückzubringen: das war ein Donnerschlag für den armen Verliebten. Er schluchzte, gieng niedergeschlagen und langsam zur Gräfin, faßte ihre Hand, küßte sie und brach in lautes Weinen aus: die Dame ward durch die kindische Betrübniß so gerührt, daß ihr eine Thräne über die Wange herabrollte: mit hastiger Bewegung riß sie den weinenden Knaben zurück, gab ihm zween recht feurige Küsse, reichte mit einem Seufzer dem versilberten strotzenden Herrn Gemahle die Hand und gieng an den Spieltisch.

Die Mutter erwartete ihn an der Thür, als er mit dem Laufer angewandert kam, und empfieng ihn mit lautem Jubel über das Glück und die Gnade, die ihm heute wiederfahren wäre, und belud seinen Ueberbringer mit so vielen unterthänigsten und allerunterthänigsten Danksagungen dafür, daß sie einen Maulesel nicht schwerer hätte bepacken können. Desto 30 mehr war der Vater wider sie und seinen Leibeserben aufgebracht: er hielt es schlechterdings für eine Beschimpfung seiner Familie, daß sein Sohn sich zu dem Grafen drängte, und wollte ihn kraft der väterlichen Gewalt, zu seinem Besten, mit einer nachdrücklichen Züchtigung bestrafen, wenn nicht die Mutter noch zu rechter Zeit hinzugesprungen wäre und den armen Jungen unter dem ausgeholten Ruthenhiebe weggerissen hätte. – »Mag er mich schlagen! sagte der kleine Heinrich; hab ich doch mein liebes Bild« – und dabey küßte er das Porträt der Gräfin.

Dies war, beyläufig gesagt, der Zeitpunkt, wo das Stadtpublikum an der ehelichen rechtmäßigen Zeugung des Knaben zu zweifeln anfieng.

 


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