Johann Karl Wezel
Herrmann und Ulrike / Band 1
Johann Karl Wezel

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Drittes Kapitel.

Unmittelbar nach der Erscheinung des Grafen in der Höle war Schwinger mit seinem neuen Untergebenen davon geeilt, um sich mit ihm über die Verbindung zu freuen, in welche sie treten sollten. Er fand sehr bald in ihm viel Talente, schnelle Begreifungskraft, festes Gedächtniß, Witz und einen hohen Grad von der vorzeitigen Wirksamkeit der Urtheilskraft, die man gewöhnlich Altklugheit bey Kindern nennt. Ueber die Vorfälle und Revolutionen des Hauses, über die Handlungen der Personen, die es ausmachten, über die Art, wie man bey gewissen Gelegenheiten verfahren sollte, entwischten ihm oft so glückliche Bemerkungen und Urtheile, daß sein Lehrer wünschte, sie selbst gesagt zu haben. Gegen den eigentlichen Bücherfleiß hatte er eine große Abneigung. Sachen, die man gewöhnlich nur lernt, um sie zu wissen, nahm sein Kopf, wie eine unverdauliche Speise, gar nicht an: was ihm die Unterredung seines 157 Lehrers darbot, faßte er gierig auf und erlangte durch diesen Weg eine Menge Kenntnisse, die ihn selbst in den Augen der hochgelehrten Fräulein Hedwig zu einem Wunder von Gelehrsamkeit machten. Genau betrachtet, merkte man deutlich, daß sein Kopf nicht gestimmt war, Eine Wissenschaft durchzuwandeln und in ihre kleinsten Steige und Winkelchen zu kriechen, oder jedes Blümchen und Grashälmchen, das Alte und Neuere in ihr gesät, erzeugt, geärntet haben, genau zu kennen; sein Blick gieng beständig ins Weite, war beständig auf ein großes Ganze gerichtet: was er lernte, verwandelte sich unmittelbar, so zu sagen, in seine eignen Gedanken, daß ers nicht gelernt, sondern erfunden zu haben schien, und seine Anwendungen davon bey den gewöhnlichen Vorfällen des Lebens waren oft sehr sinnreich und nicht selten drollicht.

Was seinem Lehrer die meiste Besorgniß machte, war der ungeheure Umfang seiner Thätigkeit und Leidenschaft. Dieser junge Mensch, sagte er sich oft, muß dereinst entweder sich selbst, oder Andre aufreiben. Seine große 158 Geschäftigkeit, wenn sie der Zufall unterstüzt, und ihr nicht Unglück, Warnung, Erfahrung und natürliche Rechtschaffenheit beyzeiten die nöthige Richtung und Einschränkung geben, wird alles in ihren Wirbel hinreißen, sein Ehrgeiz alles erringen und sein Stolz alles beherrschen wollen: stößt ihn aber das Schicksal in einen engen Wirkungstrieb hinab, der seine Thätigkeit zusammenpreßt, dann wird er, wie eine zusammengedrückte Blase voll eingeschloßner Luft, zerspringen, sich selbst quälen und auf immer unglücklich seyn. Gleichwohl kann ich nach meiner besten Einsicht nichts für ihn thun, als daß ich seinen Ehrgeiz auf nüzliche, gute und wahrhaftig große Gegenstände leite, sein natürliches Gefühl von Rechtschaffenheit belebe und durch unmerklich eingeflößte Grundsätze stärke; daß ich ihn im strengsten Verstande zum ehrlichen Mann zu machen suche, und dann alle Leidenschaften in ihm aufwecke, damit sein Ehrgeiz durch ihr Gegengewicht gehindert wird, sein Herz ganz an sich zu reißen. Ob aus ihm das Schicksal einen Lasterhaften oder Tugendhaften, einen großen 159 Mann oder stolzen Windbeutel werden lassen will, das steht in seiner Gewalt: ich habe wenigstens verhütet, daß er nie ein Bösewicht oder Schurke seyn wird.

Nach diesem Plane predigte er ihm nie die Unterdrückung der Leidenschaften, gebot ihm nicht, sie niemals ausbrechen zu lassen, sondern ließ der Wirksamkeit seiner Natur freyen Lauf, und war blos bedacht, seine Denkungsart durch Beispiele und seltne, gleichsam nur hingeworfne Maximen zu bilden. Mit den großen Männern der Geschichte ward sein Lehrling in kurzem so bekannt, wie mit Vater und Mutter: ihre guten und bösen Handlungen wußte er auswendig: sie begleiteten ihn ins Bette, bey Tische und auf den Spatziergang: sie waren seiner Einbildungskraft allgegenwärtig, wie das Bild einer Geliebten: er unterredete sich in der Einsamkeit mit ihnen, sah sie vor sich hergehn, tadelte und bewunderte sie. Ihre Büsten, in Gyps geformt, waren seine tägliche Gesellschaft: er stellte den Kopf des Cicero auf den Tisch, einen weiten Halbzirkel bärtiger Römer, wenn 160 sie auch hundert Jahr vor ihm gelebt hatten, um ihn herum, und hielt dann hinter ihm eine nervöse durchdringende Rede wider den Katilina, ermahnte die ehrwürdigen Väter der Stadt, das Ungeheuer zu verbannen und beseelte ihren schlaffen Muth mit römischem Feuer. Am öftersten mußte Kato die ausschweifenden Sitten, die Pracht und Verschwendung seiner Mitbürger schelten und sie zur Mäßigkeit, Sparsamkeit und wahren Größe des Herzens ermuntern, wobey er niemals vergaß – so sehr es auch wider die Chronologie war – ihnen sein eignes Beispiel zu Gemüthe zu führen. Wenn in seinem Gypssenate Unterhandlungen über Krieg und Frieden gepflogen wurden, so konnte man allemal sicher seyn, daß es zum Frieden kam: war aber vielleicht einer von den asiatischen Königen, ein Antiochus oder Mithridat, zu übermüthig, so entstand zuweilen in der Rathsversamlung selbst so heftiger Krieg, daß sich die streitenden Gypsköpfe die Nasen an einander entzwey stießen. Wenn eine Scene aus der neuern Geschichte aufgeführt wurde, so 161 brauchte er die nämlichen Schauspieler dazu, und nicht selten traf das Unglück den armen Kato, daß er den Thomas Becket vorstellen mußte. Das härteste Schicksal wiederfuhr jederzeit Leuten, die ihr Wort nicht gehalten, andre betrogen, überlistet, oder niederträchtig gehandelt hatten: sie wurden mit Ruthen gestäupt, und dem Nero grub er einmal die Augen förmlich aus, weil er ihm zu geldsüchtig war. Dergleichen Schauspiele wurden meistentheils in Gesellschaft der kleinen Baronesse aufgeführt, die oft, starr und steif vor Aufmerksamkeit, unter den alten Römern saß und einmal bey einer Leichenrede des Julius Cäsar durch die Beredsamkeit des kleinen Redners bis zu Thränen gerührt war. Zu gleicher Zeit grub sich seine niedliche Figur, die sie bey solchen Gelegenheiten in so mancherley vortheilhaften Stellungen und Wendungen, in so einnehmenden Bewegungen erblickte, immer tiefer in ihr Herz, und man kann behaupten, daß sie von jedem seiner Spiele um einen Grad verliebter hinweggieng. Wenn man noch überdies erwägt, daß seine dabey gehaltnen Reden, 162 entweder durch die Stärke des Tons, womit er sie ans Herz legte, oder auch durch den Ausdruck und die eingestreuten Sentiments, die er aus den Unterredungen seines Lehrers aufgefaßt hatte, jederzeit einen Eindruck auf sie machte, so wars kein Wunder, daß sie schon in ihrem neunten und zehnten Jahre von den großen Eigenschaften und dem Reize eines achtjährigen Redners so gut hingerissen wurde, als ein achtzehnjähriges Mädchen von einem schöntanzenden Jünglinge. Einem schönen Körper in reizender Bewegung widersteht eine weibliche Seele in keinem Alter.

Bey ihrem Geliebten hingegen war jede Liebkosung, die er ihr verstohlner Weise gleichsam hinwarf, jede Gefälligkeit, womit er sie überhäufte, mehr kindische Galanterie als Liebe. Es ließ sich zwar mit einer kleinen Aufmerksamkeit wahrnehmen, daß die tägliche Gesellschaft der Baronesse in den Lehrstunden, ihr Umgang bey seinen Spielen, ihre zudringliche Gutherzigkeit bey den kleinsten Gelegenheiten, ihre Lebhaftigkeit und angenehme Bildung auch in seiner 163 kleinen Brust den Keim einer Zuneigung befruchtet hatte, die vielleicht bald Wurzel fassen, Aeste und Zweige treiben würde, nur mit der Axt umgehauen und nie ausgerottet werden könnte: allein es war doch eben so sichtbar, daß er sich ohne große Schmerzen von ihr getrennt und sie vergessen hätte, wenn man ihn damals außer dem Hause des Grafen in eine Laufbahn brachte, die seine Thätigkeit erschöpfte und ihm die Aussicht auf eine Befriedigung seines Ehrgeizes gab. Er durfte nur in eine öffentliche Schulanstalt oder Pension versezt werden, wo Wetteifer seine Kräfte anspannte, wo er Lob und Ehre zu erringen hofte: nicht eine Minute würde er angestanden haben, das Schloß des Grafen mit allen seinen Herrlichkeiten zu verlassen, wenn man ihm seinen neuen Aufenthalt von jener Seite vorgestellt hätte, da hingegen die Baronesse ihm vielleicht nachgelaufen und ohne Einsperrung nicht zurückzuhalten gewesen wäre: Sie gieng wirklich schon einmal mit diesem Plane um, als Fräulein Hedwig der Gräfin den vertrauten Umgang der beiden Kinder 164 verdächtig gemacht und sie beredet hatte, Heinrichen auf eine Schule zu thun. Alles suchte sogleich den Vorsatz der Gräfin rückgängig zu machen: Schwinger stellte ihr die Mangelhaftigkeit und Sittenverderbniß öffentlicher Anstalten vor, und malte ihr ein schreckliches Bild von der dort herrschenden Verführung, daß sie sich der Sünde geschämt hätte, durch ihre Wohlthat zu dem Verderben des Knaben etwas beyzutragen. Der Hofmeister, dem eine solche Trennung das Leben in seiner gegenwärtigen Stelle unleidlich gemacht hätte, trug durch seine einseitigen Vorstellungen den Sieg über Fräulein Hedwig davon; und die Baronesse wußte ihre Guvernante so unvermerkt in ihr Interesse zu ziehen, daß sie gern nicht mit Einem Worte an ihre erregte Besorgniß dachte und sie sogar der Gräfin wieder zu benehmen suchte.

Die Sache war – Fräulein Hedwig hatte ihr vierzigiähriges Herz durch den sogenannten Stallmeister des Grafen, einen Menschen ohne Geburt, tödtlich verwunden lassen – so tödtlich, daß Tag und Nacht das kurze untersezte 165 Männchen im grünen Reitkollete und in lichtgelben Beinkleidern auf dem kastanienbraunen Engländer in ihrem Kopfe herumritt. Sie gab ihm sehr oft auf ihrem Zimmer Zusammenkünfte, auch fand sie sich nicht selten bey nächtlicher Weile bey dem kleinen Boulingrin im Garten mit ihm ein. Bey Vermeidung der größten Ungnade durfte sie eine solche Liebe nicht entdecken lassen, da sie eine Anverwandtin des Grafen war: gleichwohl wurde die Entdeckung unvermeidlich, sobald sie die Baronesse wider sich aufbrachte. Sie überlegte sich diesen gefährlichen Umstand beyzeiten und bemühte sich von selbst, die Gräfin wieder auf andre Gesinnungen zu bringen: besonders da sie durch ihre unüberlegte Anzeige auch Herrn Schwinger beleidigt hatte, so fürchtete sie desto mehr, und arbeitete deswegen aus allen Kräften, sich ihn verbindlich zu machen.

Noch nicht genug! Diese Wendung nahm die Sache, ohne daß eine von den Parteyen sich gegen die Andre in eine wörtliche Erklärung eingelassen hatte: die Baronesse dachte in aller 166 Unschuld gar nicht weiter daran. An einem Sommerabende geräth Schwinger auf den Einfall, einen Spatziergang nach Tische in den Garten zu thun; und weil er noch einen Brief zuzusiegeln hatte, so gab er Heinrichen, der ungeduldig nach dem Abmarsche verlangte, die Erlaubniß voranzugehn. Er that es: kaum hatte ihn die Baronesse aus dem Fenster gehen sehn – husch! war sie hinter drein. Heinrich gieng, den Kopf voll von römischen Kaisern, die mittelste Allee hinauf: eh er sichs versah, hatte er einen Kniff von hinten zu in den Nacken, und ein freundliches »Guten Abend« benahm ihm sogleich die Furcht, die der Kniff zu erregen anfieng. Kaum waren sie einige Schritte mit einander gegangen, so hörten sie hinter einer Hecke auf der linken Seite den Sand knistern: die Baronesse, der man so vielfältig und ernstlich alle Vertraulichkeit mit ihrem geliebten Heinrich untersagt hatte, besorgte verrathen zu werden, gab ihrem Begleiter noch einen leichtfertigen Kniff und wanderte durch eine Oefnung der Hecke in einen Seitengang. Als sie 167 um die Ecke herumkömmt, steht ihre Guvernante in Lebensgröße da: sie hat, trotz der Ueberraschung, Besonnenheit genug, daß sie die Salope vor das Gesicht nimmt, als wenn sie sich vor der Abendluft verwahren wollte; und nun linksum nach einer andern Seite, als wenn sie Niemanden gesehen hätte. Die Baronesse war für ihr Alter ziemlich groß und hatte nichts als einen gelben Unterrock an: die halbblinde schielende Hedwig sieht in der Dämmrung diesen gelben Jüpon für die lichtgelben Beinkleider ihres Adonis und die schwarze Salope für sein grünes Reitkollet an: um die Illusion zu erleichtern, hatte der schadenfrohe Zufall der Baronesse eingegeben, den Capuchon über den Kopf zu ziehen. Fräulein Hedwig vermuthete anfangs, daß er sie nicht wahrgenommen habe, und schickte ihm deswegen einen scharmanten Adonis nach dem andern nach: da keine Antwort erfolgte, so hielt sie sein Stillschweigen für eine verliebte Neckerey, und um ihrer Seits gleichfalls nichts an dem Spaße fehlen zu lassen, gieng sie den vermeinten gelben 168 Beinkleidern, wie einem hellleuchtenden Sterne, nach. Die Baronesse stand in dem Wahne, daß ihr ihre Guvernante nachsetze, um sie auf der That zu ertappen und dann recht exemplarisch auszuschelten, und verdoppelte deswegen ihren Schritt. Wie das alte Meerkalb hinter drein trabte! und keuchte, halb vor Erschöpfung, halb aus verliebter Inbrunst! Und einmal über das andre röchelte sie: Du schalkhafter Adonis! – Du muthwilliger Narcissus! – Ich will dich wohl haschen, du loser Koridon! – Da hab' ich dich, du dicker Amyntas! – rief sie an dem Gatterthore und griff zu – Pah! da stand sie! erstarrt vor Schrecken, als sie statt der gelbledernen chaussure, wie sie zu sagen pflegte, einen seidnen Unterrock in ihren Händen fühlte, als sie aus ihrer verliebten Täuschung erwachte und vor sich die Baronesse und die Sekunde darauf Herrn Schwinger erblickte, der eben zu dem Gatterthore hereintrat. Das Bewußtseyn ihrer verbotnen Absicht und die Besorgniß, sich verrathen zu haben, raubten ihr so ganz alle Ueberlegung, daß sie nicht einmal eine Lüge 169 fand, ihren Fehlgriff zu bemänteln, sondern die Augen niederschlug und zitternd an allen Gliedern hinweggieng. Die Baronesse begleitete sie.

Für Schwingern war der ganze Auftritt ein unauflösliches Räthsel, und die Baronesse machte auch nichts als schwankende Muthmassungen. Die Hauptsache errieth sie: ihre ähnliche Situation in Ansehung des kleinen Heinrichs führte ihr augenblicklich bey den Ausrufungen ihrer Guvernante die Vermuthung herbey, daß sie mit ihr auf Einem Wege gehen müßte. Als sie hinter ihr die Treppe hinaufstieg – keins von beiden sprach Eine Sylbe – fiel ihr ein, daß Fräulein Hedwig sehr oft den Stallmeister des Grafen, wenn er vor ihnen vorbeygegangen war, einen dicken Amyntas genannt hatte: – nun war sie auf der Fährte!

Nach ihrer Ankunft in dem Zimmer fieng die Baronesse an, aber ohne boshafte Absicht, ohne spotten zu wollen: – Sie dachten wohl, ich wäre der dicke Stallmeister? –

Die Frage versezte sie in Todesschrecken: sie 170 schwieg, die Kniee sanken ihr, sie sezte sich auf den Sofa, die breiten Lippen zitterten, als wenn sie ein Krampf auf und nieder risse. Die Baronesse besah indessen einen Finger ihrer rechten Hand am Lichte und saugte das Blut aus einer Wunde, die ihr unterwegs eine Stecknadel gemacht hatte. – Hab' ich nicht Recht? fragte sie noch einmal, während ihrer Operation.

Ach, Ulrikchen! – stöhnte von hinten zu aus der dämmernden Ecke, wo der Sofa stand, eine schwache erlöschende Stimme zu ihr her. Sie drehte sich um, blickte hin, ergriff das Licht und beleuchtete ihre todtblasse, mit der Ohnmacht ringende Guvernante, zog ihr Riechfläschgen aus der Tasche und schwenkte ihr einen großen Strom ins Gesicht, daß das Kinn, wie ein Drachenkopf an einer Dachrinne, triefte: voll Lebhaftigkeit holte sie das Waschbecken, und ehe noch das Fräulein die Hülfe verbitten konnte– pump! lag ihr der ganze Seifenstrom im Gesichte: sie riß ein Bindel Federn aus dem Tintenfasse, zündete sie an und hielt ihr den brennenden Wisch unter die Nase, daß sie vor dem 171 Höllendampfe hätte ersticken mögen. Hustend schlug sie den stinkenden Federbusch von sich weg und versicherte, daß sie nicht ohnmächtig sey. Die Baronesse that alles mit so geschäftiger Liebe, so gutherziger Besorgniß! und stund, nachdem ihre Hülfe verbeten war, mit so unruhigem Erwarten da, in einer Hand das Licht, in der andern die verbrannten Federn, mit starrem Blicke auf Fräulein Hedwigs Gesichte geheftet!

Ach, Ulrikchen! sprach das Fräulein mit bebender Stimme: verrathen Sie mich nicht: Ich bitte Sie um Gottes willen, verrathen Sie mich nicht! –

Die Baronesse begriff nichts von dem Galimathias. – Warum denn? fragte sie verwundernd.

Fräulein Hedwig. Ach, Sie wissen alles: ich bin in Ihrer Gewalt.

Die Baronesse. Was soll ich denn wissen?

Fräulein Hedwig. Ach, verstellen Sie sich nicht! Sie wissen alles: Sie wissen, daß ich dem Stallmeister zu Gefallen gegangen bin – 172

Die Baronesse. Ich weis nicht ein Wort davon.

Fräulein Hedwig. Verstellen Sie sich nur nicht! Sie wissen, daß wir einander lieb haben: – lieber Gott! man ist ja auch von Fleisch und Blut geschaffen wie andre Menschen – wenns denn nun gleich kein Edelmann ist. Aber wenn das der Herr Graf erführe! Ich müßte mit meinem dicken Narcissus den Augenblick aus dem Hause. – Gerechter Gott! über das Unglück! die Ungnade! Ich müßte verhungern und verderben. – Ich will Ihnen herzlich gern in allem zu Gefallen seyn, Ulrikchen: nur verrathen Sie mich nicht! –

Die Baronesse versprachs und gab ihr ungefodert ihre Hand drauf. Indessen war sie doch durch die übermäßige Angst der Guvernante wegen einer Sache, die sie nach ihrem Begriffe für eine so unendliche Kleinigkeit hielt, nicht wenig neugierig geworden und erkundigte sich also, was sie mit dem dicken Narcissus hätte machen wollen. 173

Fräulein Hedwig. Sie sind auch zu neugierig: das läßt sich ja so nicht sagen. In Ihrem Alter darf man darnach gar nicht fragen.

Die Baronesse. Warum denn nicht? – Ist es denn in meinem Alter etwas böses, Jemanden lieb haben?

Fräulein Hedwig. Ja, wenns bey dem Liebhaben bliebe! Aber wir sind böse von Jugend auf.

Die Baronesse. Was sollte denn weiter geschehn? – Wenn man nun auch Jemanden, den man lieb hat, in die Backen kneipt, oder in die Waden zwickt, oder kitzelt, oder einen Kuß – ein gage d'Amour, wie Sies nennen –

Fräulein Hedwig. Ach, das hat alles nichts zu bedeuten: aber, aber! Der Teufel schleicht umher, wie ein brüllender Löwe. – Wenns nur der Graf nicht erfährt!

Die Baronesse. Wenn das alles nichts zu bedeuten hat, warum fahren Sie mich denn immer so an, wenn ich Heinrichen zwicke oder küsse? – Auch sogar die Tante untersagte mirs 174 neulich so scharf; und es hat doch nichts zu bedeuten, wie Sie selbst sagen.

Fräulein Hedwig. Ja freilich hat das nichts zu bedeuten: aber liebes Kind! es geht weiter.

Die Baronesse. Ich wüßte nicht – es fällt mir gar nicht ein, weiter zu gehen: was sollte man denn sonst thun?

Fräulein Hedwig. Das schickt sich noch nicht für sie zu wissen. Die Mannspersonen sind gar zu verführerisch. Wissen Sie nicht, daß sich Iupiter optimus maximum in einen Schwan verwandelt hat – in cygnus mutatus est steht in einem lateinischen Buche – und blos um die arme unschuldige Helena zu verführen, die hernach zwey Knäblein und zwey Mägdlein auf einmal zur Welt gebracht hat. – Ja, sehn Sie, das ist eben der Spektakel! Wenn das nicht wäre! – Versprechen Sie mir ja, daß Sie Niemanden etwas sagen wollen! Wenn Sie auch der Graf oder die Gräfin fragt, thun Sie nur, als wenn Sie gar nichts wüßten!

Die Baronesse. Herzlich gern! Aber Sie müssen es auch der Tante nicht wieder sagen, 175 wenn Sie mich einmal mit Heinrichen schäkern sehn, und mich nicht immer von ihm jagen, wenn ich ihn etwa an der Hand führe! Es hat ja nichts zu bedeuten, wie Sie selbst sagen. Wenn Sie mir das versprechen –

Fräulein Hedwig. Ich versprech' es Ihnen ja, wenn Sie nur ihr Versprechen halten!

Die Baronesse. Und müssen mir auch nicht immer so nachgehn und mir auflauren, ob ich etwa mit ihm allein bin – es hat ja nichts zu bedeuten. Dafür will ich Ihnen auch ein andermal, wenn wir einander, wie heute, antreffen, gleich sagen: ich bin nicht der dicke Amyntas. – Sie können mit ihm machen, was Sie wollen: ich will gar nicht hinsehn. Wollen Sie das?

Fräulein Hedwig. Ich will ja: nur verrathen Sie mich nicht! –

Nur verrathen Sie mich nicht! war noch ihre lezte Bitte, als sie ins Bette stieg. Als sie ihr Gespräch nunmehr bey ruhigem Blute überdachte, so merkte sie wohl, daß sie eine Narrheit begangen und in der ersten Angst zu übereilt angenommen hatte, die Baronesse wisse um alles: auch fühlte sie ein wenig, daß sie sich zu einer beständigen Verletzung ihrer Guvernantenpflicht anheischig gemacht habe: doch über dergleichen Gewissensvorwürfe wischte sie bald weg und bereitete sich nun zu einer Unterredung mit Schwingern zu, um zu erfahren, ob er auch etwas von ihrer Liebesangelegenheit wisse: denn sie hatte ihn im Verdacht, als ob er wider seine Gewohnheit so spät um ihretwillen in den Garten gegangen sey.

Die Baronesse schlief eine gute Stunde weniger als sonst, weil sie verschiedene Spekulationen beschäftigten. – »Wenns bey dem Liebhaben bliebe!« – »Es geht weiter.« – »In ihrem Alter darf man das nicht wissen« – ewig kamen diese und ähnliche Reden ihrer Guvernante in ihr Gedächtniß zurück: sie wollte sich davon losmachen, sie schloß die Augen, um einzuschlafen, sie wandte sich bald rechts, bald links: nichts half! in ihrem Kopfe schwammen immer die nämliche Gedanken herum.

Den folgenden ganzen Morgen über lauerte 177 Fräuleln Hedwig am Fenster auf Schwingern, wie ein Kater auf eine Maus: er gieng nicht vorbey. Ihre Unruhe ließ sie nicht länger warten: sie mußte eilen, Gewißheit über ihre Besorgniß zu haben, und im Nothfalle durch eine untergeschobne Lüge der Ausbreitung der Wahrheit zuvorkommen. Sie nahm also einen alten Autor in die Hand und gieng unter dem Vorwande, ihn über den Sinn einer Stelle um Rath zu fragen, zu ihm auf das Zimmer. Ohne lange Umschweife lenkte sie sogleich die Unterredung auf ihr gestriges Zusammentreffen im Garten; und Schwingers Antworten auf ihre Fragen über diesen Punkt, machten es ihr unzweifelhaft, daß er weiter nicht daran gedacht hatte, noch haben würde, wenn sie ihn izt nicht darauf brächte. Schwinger war ein sehr ehrlicher Mann, besonders aller Verstellung unfähig; er gieng seinen Gang in diesem Leben vor sich hin, ohne sich sonderlich um die Handlungen andrer links und rechts neben ihm zu bekümmern, wenn sie nicht auf sein Wohl oder Weh unmittelbar wirkten, oder seine besondre Pflicht ihn nöthigte, Acht auf sie zu haben: weil sie das gewiß wußte, so hielt sie die Mühe, mit welcher er sich an die Umstände jenes Zusammentreffens erinnerte, für aufrichtig. Indessen war es doch einmal so weit gekommen, daß ihm nun der ganze Vorgang wieder einfiel: er besann sich, daß sie die Baronesse bey dem Rocke erwischt und dabey gerufen hatte – »da hab' ich dich, du dicker Amyntas!« und erkundigte sich nunmehr nach der Veranlassung dieses seltsamen Auftritts.

Warum ich das that? antwortete sie und freute sich im Herzen, ihre ausgedachte Lüge an den Mann zu bringen. – Das war ein Stratagematum. Sie wissen, daß die Baronesse beständig ihrem Heinrich nachläuft und ihm zuweilen sehr viele marques d'amour giebt. Es ist meine Pflicht, über das Mädchen zu wachen, daß sie mit einem so gemeinen Jungen nicht zu weit geht: man weis ja, wie leicht der Satan durch seine fallacibus Alt und Jung betrügt. – 179

Schwinger. O für den Satan ist mir nicht leid, wenn nur nicht das böse Beispiel – –

Fräulein Hedwig. Ja, das weis man wohl, daß die Herren, die in Academiis – sprech' ich nicht so recht?

Schwinger. Völlig recht!

Fräulein Hedwig. Die in Academiis et Gymnasibus gewesen sind, keinen Teufel glauben: aber der Glaube kömmt ihnen mannichmal in die Hände.

Schwinger. Vor dem Teufel ist ihre Baronesse und mein Heinrich sicher: den Schaden, den er ihnen zufügt, nehm ich über mich. Wenn wir sie kein böses Beispiel sehen lassen, noch geben –

Fräulein Hedwig. Sie denken doch nicht etwa, daß ich der Baronesse ein böses Beispiel gebe? – Sie könnten mich in einen hübschen Ruf bringen –

Schwinger. Nein, das war mein Gedanke gar nicht. In Ihrem Alter, gnädiges Fräulein, ist man darüber hinweg, ein böses Beispiel zu geben. 180

Fräulein Hedwig. Das ist nun eben kein galantes Kompliment.

Schwinger. Weder etwas Galantes noch ein Kompliment will ich Ihnen sagen. Ich hoffe aber, Ihnen auch nichts Ungalantes noch Beleidigendes zu sagen, wenn ich Ihnen alle die Geseztheit und Ruhe der Leidenschaften zutraue, die Ihr Alter und Ihre Aufsicht über eine junge Dame erfodert.

Fräulein Hedwig. Immer das Alter! Immer das Alter! Mein Alter ist ja noch kein Jahrhundert.

Schwinger. Man wäre sehr unglücklich, wenn man so lange Zeit brauchte, um weise zu werden. – Aber wir kommen von Ihrer Erzählung ab. Sie haben also die Baronesse im Verdacht –

Fräulein Hedwig. Nicht im Verdacht! ich weiß es gewiß, daß sie den Jungen liebt.

Schwinger. Das sollte mir lieb seyn.

Fräulein Hedwig. Lieb seyn? – Sie haben wohl nicht ausgeschlafen.

Schwinger. Ich spreche mit völligem 181 Bewußtseyn. Ich wollte noch oben drein wünschen, daß auch mein Heinrich sie liebte.

Fräulein Hedwig. Bedenken Sie doch, was daraus entstehn könnte! Wenn sie nun in amori weitergiengen!

Schwinger. Das müssen wir verhüten. Vor allen Dingen muß man ihnen aus der Liebe kein Verbrechen machen, es ihnen nicht untersagen, Zuneigung zu einander zu fühlen und zu bezeigen. Eine solche Zuneigung ist meistens nichts als ein hoher Grad kindischer Freundschaft: untersagt man ihnen diese, so nöthigt man sie selbst, an der Liebe eine andre Seite aufzusuchen, die die Natur die meisten Kinder nur spät kennen lehrt. Die innere Empfindlichkeit kann man durch kein Verbot unterdrücken: sie verschließt sich, wie ein unterirrdisches Feuer, und steckt entweder die Einbildungskraft oder den Körper in Brand. Vergeben Sie mir, daß ich Ihnen bey der Gelegenheit einen Vorwurf machen muß! Wenn die Baronesse weiter geht – ihren Ausdruck zu gebrauchen – so sind Sie schuld daran. 182

Fräulein Hedwig. Was sagen Sie? – Sie werden doch nicht denken, daß sie mein Beispiel verdirbt?

Schwinger. Nein, das nicht, aber Ihr Verbot! Was haben Sie dadurch gewonnen? Daß sie Schlupfwinkel sucht! daß sie eine kindische Neigung, die sie vor Ihnen nicht blicken lassen darf und doch nicht unterdrücken kann, nur dann äußert, wenns am gefährlichsten ist, das heißt, wenn sie beide allein sind! Durch die Zurückhaltung in Ihrer Gegenwart wird sie, wie verschloßne Luft, stärker und ihre Ausbrüche desto gewaltsamer, wenn ihr äußerer Widerstand weggeschaft ist. Hätte man sie nicht gehindert, so wäre sie vielleicht in einem halben Jahre abgenuzt worden, daß ich so sagen mag: sie hätten nie die Heimlichkeit, die Einsamkeit gesucht, und wir hätten sie mit geringer unmerklicher Wachsamkeit dafür bewahren können: doch izt brauchten wir Argus Augen, und noch wärs mißlich.

Fräulein Hedwig. Wir müssen uns nur nicht, wie Argus, durch die Flöte des 183 Ambassadeurs Mercurii einschläfern lassen, so wird sichs wohl geben.

Schwinger. Nein, es giebt sich nicht so leicht! Man hat sie einmal auf den Weg hingestoßen: fünf Minuten Einsamkeit! – und wer kann diese in einem Hause, wie das unsrige, ganz vermeiden? – ein tête-à-tête von fünf Minuten kann sie auf diesem Wege zu Entdeckungen führen, vor denen ich zittre.

Fräulein Hedwig. Sie müssen nur Ihren Heinrich gewöhnen, daß er nicht alle unanständige Sachen so deutlich heraus sagt, wie ich mit der Baronesse thue: aber sie will sich auch nicht daran gewöhnen. Es ist mir recht ärgerlich, wenn sie alles, wie die Grasemägde, deutsch nennt und nicht lieber eine anständige französische oder lateinische Expression gebraucht.

Schwinger. Was hülfe denn das? Bleibt der Sinn nicht derselbe?

Fräulein Hedwig. Behüte! man muß angenehme Umschreibungen machen und viele Sachen gar nicht nennen. Die Worte führen weiter als man glaubt.

Schwinger. Sehr richtig! aber nur dann am weitesten, wenn man die Zahl der unanständigen Dinge und Worte zu sehr vergrößert! Sie meinen doch vermuthlich solche Unanständigkeiten, die wegen ihrer Verbindung mit der körperlichen Liebe Kindern gefährlich werden können? – Eben diese Verbindung muß man verringern: je mehr Sachen, die ihrer Natur nach nur in einer entfernten Beziehung mit ihr stehen, man für unanständig erklärt, je mehr Dinge gewöhnt man sie in einer solchen Beziehung zu denken; und auf das Denken kömmt es an, nicht aufs nennen. Die Delikatesse muß in diesem Punkte in die engsten natürlichsten Schranken zurückgeführt werden. Warum sollte man in Gegenwart eines Knaben einen Busen nicht einen Busen nennen?

Fräulein Hedwig. Schämen Sie sich doch! Vor einem Frauenzimmer so etwas zu nennen!

Schwinger. So wenig als ein Frauenzimmer sich schämt, einen zu haben! Mein Untergebner muß einen Busen mit eben solcher Gleichgültigkeit nennen, als einen Finger oder ein 185 Gesicht: ich will alles Spiel seiner Einbildungskraft dabey hindern, einen Busen so wenig in Verbindung mit der Liebe setzen als einen Finger. Einen schönen Busen soll er schön finden, wie ein schönes Gesicht, eine schöne Hand: so wenig ich verhüten kann, daß ein schönes Gesicht gewisse Empfindungen bey ihm veranlaßt, so wenig kann ichs auch bey dem Anblicke eines schönen Busens thun: aber das hab' ich doch gewonnen, daß sie ein schöner Busen nicht mehr veranlaßt, als eine schöne Hand.

Fräulein Hedwig. Nun weis ich doch, warum er so gern nach den Autels de l'Amour schielt!

Schwinger. Das ist einer von Ihren delikaten Ausdrücken, die unendlich mehr Schaden thun als die bestimmteste Benennung. Sie lehren ja durch solche Umschreibungen ihrer Baronesse selbst Beziehungen, die sie so spät als möglich denken sollte. Mein Heinrich schielt nach keinen Altären der Liebe, sondern er sieht mit dem nämlichen Vergnügen einen Busen, womit er ein Gesicht ansieht, das ihm gefällt: an die Liebe denkt er gar nicht dabey: diese hat sich seiner Einbildungskraft noch nicht bemächtigt: er fühlt sie blos, wie sie ihn die Natur fühlen läßt.

Fräulein Hedwig. Ja, das Fühlen! das ist eben das schlimme Ding.

Schwinger. Lange so schlimm nicht als Sie sich einbilden! Man muß nur ein solches unvermeidliches, und im Grunde auch nicht tadelhaftes Gefühl immer mehr in Freundschaft verwandeln, und ihm beyzeiten zween Hüter entgegenstellen – Scham und Ehre.

Fräulein Hedwig. Das thu ich fleißig: ich erinnere die Baronesse daran, daß er nur ein gemeiner Pursche ist.

Schwinger. Und geben ihr, um sie vor Fehlern zu bewahren, ein Laster! den unerträglichsten, armseligsten Stolz! – Nein, die Ehre, die ich meinem Untergebnen einpflanzen will, ist ein Grad von Rechtschaffenheit, ein beständiges Bestreben, nichts zu thun, was andern schaden oder misfallen kann –

Vergeben Sie, fiel ihm Fräulein Hedwig ins 187 Wort, daß ich Sie unterbreche! Ich bin noch im Neglische, wie Sie sehen: ich muß nunmehr an meine Toilette. –

Sie machte eine tiefe Verbeugung und wanderte die Treppe hinunter, voller Freuden, daß sie der Entdeckung ihrer Liebesangelegenheiten auf allen Seiten vorgebaut hatte. Vermuthlich um ihr Gewissen wegen des Versprechens zu beruhigen, das sie gestern Abend in der Uebereilung der Baronesse that, und auf eine andre Art den Folgen vorzubeugen, die aus der angelobten Unachtsamkeit auf die Tändeleyen ihrer Untergebnen entstehen könnten, gieng sie, nachdem sie angezogen war, sogleich zur Gräfin und bat sie noch einmal um ein geschärftes Verbot an die beiden Kinder, mit dem Zusatze, daß sie nicht verrathen werden möchte, weil die Baronesse einen Groll auf sie werfen würde, welcher alle gute Wirkungen Ihrer Erziehung hinderte – und was dergleichen Beschönigungen und Gründe mehr waren!

Die Gräfin versprach Verschwiegenheit. Es wurde ihr nunmehr selbst bange, daß ihr 188 Gemahl, wenn er hinter das Verständniß käme, allen seinen Zorn über sie ausschütten und ihr allein die Schuld beymessen würde, da sie die Veranlassung gewesen war, den jungen Herrmann ins Haus zu nehmen. Die Furcht mahlte ihr die Sache viel schrecklicher vor, als sie war, und ließ sie alle mögliche Folgen, die ein Liebesverständniß begleiten können, schon als völlig gewiß besorgen. Alle Vertraulichkeiten und Freiheiten der Liebe, heimliche Flucht, Entehrung der Familie, allgemeine Nachrede, Verachtung bey allen von ihrem Stande – aus diesen und ähnlichen Zügen sezte sich ihre Besorgniß ein fürchterliches Bild zusammen, bey dessen Vorstellung sie erschrak, daß sie zitterte. Eilfertig ließ sie Schwingern zu sich rufen und schärfte ihm neue Wachsamkeit ein: er mochte ihr sagen, so viel er wollte, daß die Liebe bisher noch unschuldig sey und daß man sie zuversichtlich durch ein neues Verbot strafbar machen werde: da half nichts! Die Gräfin gab ihm alles das zu und sagte nichts als daß sie einmal über das andre wiederholte: – 189 »Werde daraus, was auch wolle! wenns nur der Graf nicht erfährt!« – Sie war in zu heftiger Wallung, um sie nicht durch fortgesezten Widerspruch zum Unwillen wider sich zu reizen: Schwinger schwieg also, gelobte verdoppelte Wachsamkeit an und gieng ab.

Die Gräfin war wirklich in der äußersten Unruhe. Den Knaben, nach einer zweyjährigen bessern Erziehung den Eltern zurückzugeben, schien ihr schimpflich und unbillig; ihn auf eine Schule zu thun, zu kostbar: und gleichwohl stand der Zorn des Grafen, wie ein Ungeheuer, das ihr mit der Dorngeißel droht, vor den Augen. Sie wußte keinen bessern Ausweg, als daß sie die beiden Verliebten zu sich kommen ließ, und durch Furcht in die nöthigen Schranken zurückscheuchte. Der junge Herrmann mußte zuerst erscheinen: aller vertraulicher Umgang mit der Baronesse wurde ihm schlechterdings untersagt, und in dem Eifer des Verbotes brach ihr Stolz so sehr durch den Schleier der Politesse, daß sie ihm seine niedrige Geburt als eine Ursache vorrückte, warum ihm ein solcher Umgang 190 nicht erlaubt sey: auf den Uebertretungsfall, der schon in einem Berühren der Hände bestehn sollte, sezte sie die Verbannung aus dem Schlosse und Städtchen zur Strafe. Das nämliche Verfahren wurde auch unmittelbar darauf gegen die Baronesse beobachtet und ihr die Zurücksendung zu ihrer Mutter – einer Wittwe, der die Verschwendung ihres Mannes nicht das mindste übrig gelassen hatte, einer Frau ohne Erziehung und voller Strenge – zur Strafe angekündigt.

Heinrich, ob er gleich der Gräfin nicht Einen Laut antwortete, kam in Einer Gluth auf das Zimmer seines Lehrers: sein Ehrgeiz war durch den Vorwurf seiner Geburt und das Verbot so beleidigt, daß ihn Schwinger lange Zeit nicht besänftigen konnte. Er wollte mit aller Gewalt von dem Schlosse und aus der Gegend weg: sein Lehrer mochte ihm noch so dringend die Undankbarkeit vorstellen, die er durch einen so ungestümen Abschied aus dem Hause seiner Wohlthäterin begieng – noch so fürchterlich die Gefahren vormahlen, denen ein Pursche 191 von seinem Alter in der weiten Welt ausgesezt sey, wo man Geld haben oder verdienen müßte, um fortzukommen: er blieb unbeweglich in seinem Vorsatze. Schwinger, der ihn, wie seinen Sohn, liebte und seine rasche Gemüthsart kannte, besorgte in der That eine Entlaufung. Er gieng brausend und schnaubend in den Garten: Schwinger in einer kleinen Ferne folgte ihm nach, doch ohne daß er schien, ihn beobachten zu wollen. Er eilte gerade nach der Gartenmauer, erblickte eine Leiter, sezte sie an: Schwinger lauerte verborgen hinter der Hecke. Heinrich sah sich noch einmal um und – husch! war er die Leiter hinauf. Schwinger stürzte sich aus seinem Hinterhalte hervor und ertappte ihn bey dem Rocke, als er eben den Fuß aufhub, um von der Mauer hinabzuspringen: er zog ihn nach sich her und trug ihn in den Armen die Leiter herab.

Lieber Sohn, sprach er, als er herunter war und hielt ihn noch immer in den Armen fest – ich bitte dich um Gottes willen, begehe keine Unbesonnenheit! Ich muß dir folgen, wenn du 192 gehst. Ich liebe dich zu sehr, um dich auf immer unglücklich werden zu lassen. Willst du mir zu Liebe nicht Eine kleine Beleidigung ertragen? – Verschmerze sie und mäßige dich!

Dabey drückte er ihn so fest an sich, daß der junge Mensch laut schrie. Er ließ ihn los. Heinrich stund vor ihm und sah in den Sand. Mit halber Rührung und halbem Zorne stampfte er auf die Erde und sprach: Ich kann unmöglich bleiben.

Schwinger. Wohl! so gehe! – Aber ich schwöre dir, ohne mich sollst du nicht! Ich habe dich so weit gebracht, daß ich mich deiner freuen kann; und nun sollt' ich dich allein, hülflos, halb gebildet in die Welt, in Mangel, Elend, Gefahr und Verführung hineinrennen lassen, ohne dir beyzustehn? – Nein, ich bin dein Begleiter: ich will mit dir betteln, arbeiten, hungern, schmachten und sterben. Aber ehe du deinen Entschluß ausführst, nur Einen Augenblick Ueberlegung! Bedenke, daß du dich und mich, deinen einzigen Freund, der Schande aussetzest, als wären wir wie Schelme 193 durchgegangen, daß du mich, den du so kindlich liebst, ins Unglück mit dir hineinziehst, daß du mich zwingst, meine Liebe gegen dich als eine Thorheit anzusehn, als eine Schwachheit, die mich elend macht! – Kannst du es ertragen, daß dich Jedermann für einen Undankbaren, einen jachzornigen, unbesonnenen Buben, einen entlaufnen, liederlichen Menschen schilt, dessen Namen man mit Verachtung und Abscheu nennt? Kannst du es ertragen, daß du deinen Lehrer auf immer unglücklich machtest, weil er dich zu sehr liebte? – Izt beweise, ob ich Recht hatte, daß ich dich für einen edeldenkenden Jüngling hielt, den Ehre und gutes Herz regieren, oder ob du ein schlechter und niederträchtiger Mensch ohne Ehre und Gewissen bist! – Willst du nun, so gehe! Ich folge dir. –

Heinrich faßte seine Hand und sprach mit nassen Augen: Ich bleibe: aber ich kann unmöglich die Gräfin wieder ansehn.

Schwinger. Das sollst du nicht, bis daß du wieder gesund bist. Du liegst itzo gefährlich krank am Zorne; und von Kranken kann man 194 nicht verlangen, daß sie billig seyn sollen. Komm. Wir wollen einen Spatziergang zu unserm Freunde, dem Pastor Schweder, thun: Bewegung, Zerstreuung, Gesellschaft wird dich gewiß kuriren.

Heinrich. So eine entsezliche Beleidigung! – Wenn ich gleich kein Graf bin, muß ich denn darum ein schlechter Kerl seyn, der mit einer Baronesse nicht einmal umgehen darf?

Schwinger. Lieber Sohn, wenn man so tödtlich krank ist wie du, da kann man nicht richtig urtheilen: sobald du wieder völlig gesund bist, dann wollen wir von deiner Beleidigung zusammen sprechen. Izt denke nicht an so eine verdrießliche Sache, damit du desto geschwinder genesen kannst.

Mit diesen Worten ergriff er seine Hand und gieng mit ihm, Arm in Arm, zu ihrem Freunde, der auf einem nahgelegnen Dorfe wohnte. Unterwegs beschäftigte er ihn unaufhörlich mit Erzählungen, die er freilich nur mit halber Aufmerksamkeit hörte: gekränkte Ehre und vielleicht, auch ohne sein Bewußtseyn, gekränkte Liebe 195 nagte zu sehr in ihm: und seine innerlichen vielfachen sich kreuzenden Empfindungen und Gedanken nahmen allmählich so eine Wendung, daß er sich vorsezte, die Baronesse, der Gräfin zum Trotze, zu sprechen und zu lieben. Seine bisherige Neigung zu ihr, die gleichsam eingehüllt in einem Winkel seines Herzens gelegen hatte, wagte sich auch in diesem Augenblicke so weit hervor, daß sich seine Gedanken einen grossen Theil des Wegs über mit einer zärtlichen Betrübniß von der Baronesse unterhielten. Er sann auf Mittel, sie öftrer heimlich zu sehn, und es schien ihm zu seinem Vergnügen und seiner Rache so schlechterdings nothwendig, sie öftrer zu sehn, daß er izt schon Unruhe empfand, weil er durch den Spatziergang abgehalten wurde, seinen Troz in der Minute zu befriedigen. Schwinger glaubte ihn durch seine Erzählungen beruhigt zu haben: weit gefehlt! die Aussicht auf seine ausgedachte Rache war es, die ihn vor der Ankunft bey ihrem Freunde schon ganz wieder aufheiterte. Der gute Mann wußte nicht, wie richtig er prophezeiht hatte, daß 196 harter Widerstand aus kindischer Freundschaft wahre Liebe machen werde.

Auf die Baronesse, weil sie schon wirkliche Liebe in sich fühlte, und zwar mit Bewußtseyn fühlte, that das Verbot eine andre Wirkung: es machte sie traurig, niedergeschlagen. Sie bekam Kopfweh, daß sie nicht zur Tafel gehen konnte: sie holte sich ein Buch aus der Bibliothek der Gräfin, und der Zufall mußte ihr gerade Geßners Daphnis in die Hände spielen. Sie las die Scenen verliebter Traurigkeit mit einem Interesse durch, das ihr bisher fremd gewesen war. Da ihre Empfindung nicht mehr in Blicke, Küsse und Händedrücke ausbrechen durfte, so trat sie zurück und warf sich auf die Einbildungskraft: jede Nische im Garten war ihr seit diesem Augenblicke eine Jasminlaube, wenn sie auch gleich nur aus grünen Latten bestund, jedes Rosenparterr eine grasreiche Ebne, voll Thymian und Quendel, wo wollichte Schafe herumirrten und junge muthwillige Lämmer hüpften: hinter jeder Hecke lauschte eine Phillis, um den lieblichen Liedern ihres Schäfers 197 zuzuhorchen: auf den Kastanienbäumen und Linden in den Alleen saßen Dryaden, Waldgötter, Amors haufenweise: jeder Sperling und jede Meise, die mit zwitscherndem Geschrey sich um die dunkelrothen Herzkirschen zankten, war eine Nachtigall, die mit melancholischen Accenten um ihren Gatten trauerte. Kein Frosch sprang bey ihrer Annäherung in das Bassin des Springbrunnens, ohne daß er in eine Nymphe umgeschaffen wurde, die schamhaft ihre entblößten Hüften im Wasser verbarg. Der ganze Garten wurde ihr ein Arkadien: in der Einsiedeley des Tannenwäldchens wohnte ihre Mutter, ihr Schäfer auf dem Schneckenberge, der sich jenseits auf der Wiese emporwand, und sie spielte vor sich in Gedanken den ganzen eingebildeten Roman durch. Fräulein Hedwig durfte sie keinen Augenblick verlassen: sie folgte ihr überall nach, und während daß die Guvernante sich in Gedanken von ihrem dicken Amyntas unterhielt und mit den Augen auf seine gelblederne chaussure Jagd machte, ergözte sich die Baronesse mit ihrem fantastischen Schäferspiele.

198 In der Einsiedeley, bildete sie sich ein, wohnte ihre Mutter, eine grausame Frau, die ihr Umgang, Gespräch und Liebe mit ihrem Daphnis untersagte. Phillis – diesen Namen hatte sie sich selbst gegeben – bat sie mit allen Wendungen ihrer kleinen Beredsamkeit, ihr nur einen viertelstündigen Besuch bey Daphnis zu gestatten: die Mutter war unerbittlich. In der Begeisterung dieses Gedankenspiels murmelte sie oft, wenn Fräulein Hedwig neben ihr auf der Bank saß, einige halblaute Worte, es entwischten ihr Seufzer, und Thränen rannen aus ihren Augen: ihre Einbildungskraft riß sie so stark hin, daß sie zuweilen mit lebhafter Bewegung auf ihre Guvernante hinzusprang und ihre Kniee umfassen wollte: plözlich weckte sie ein hastiges »was wollen Sie?« aus ihrem Traume, sie wich beschämt zurück und antwortete leise und voller Verwirrung: Nichts! oder sie beschönigte ihre Selbstvergessenheit mit dem Vorwande, als wenn sie ein Steinchen neben ihr aufheben oder ein Blümchen hätte pflücken wollen. Zuweilen ließ ihre Guvernante sie in der 199 Einsiedeley zurück, mit dem Befehle, ja nicht von der Stelle zu gehen, und streifte indessen den Garten allein durch, um den Stallmeister hinter eine Hecke oder in ein Bosket mit einem krächzenden Husten zu rufen: unterdessen dachte Phillis auf die Flucht. Ihre Mutter war nach ihrer Vorstellung auf das Feld gegangen, um die Ziegen heim zu holen, und sie nüzte diese Abwesenheit, um ihren Daphnis zu sehen. Sie stritt lange mit sich selbst, fürchtete ihren Zorn, wenn sie ihre Zusammenkunft entdeckte, wankte, schaute ängstlich um sich und floh in Einem Rennen nach dem Schneckenberge hin. – Ach! welch ein Schmerz! Daphnis war nicht da! Er hütete noch die Schafe auf dem großen Boulingrin, weit, weit von seiner Wohnung: sie konnte unmöglich seine Rückkunft erwarten, aus Furcht, daß ihre Mutter vor ihr wieder nach Hause kommen möchte. Um indessen ihm ein Zeichen zu hinterlassen, daß sie ihn gesucht hätte, hieng sie an die große Vase auf dem Schneckenberge einen Kranz aus Buchenlaube, aus Gras oder andern grünen Materialien gewunden, eilte 200 nach der Einsiedeley zurück und saß meistentheils, wenn ihre Guvernante von ihrer verliebten Expedition sich wieder einfand, so still und ordentlich da, als wenn sie nicht von der Stelle gekommen wäre. Wenn sie mit ihr durch die Kastanienallee wandelte, sammelte sie Kastanien, warf sie über die niedrigen Gesträuche der spanischen Weiden, in der Absicht, ihren Schäfer zu necken; und wenn ihr Fräulein Hedwig dies, als einen unanständigen Muthwillen, verbot, so kränkte sie sich insgeheim, daß ihr ihre strenge Mutter auch sogar jeden unschuldigen Scherz verwehrte.

Auf dem Zimmer hatte sie so gut ihr Arkadien, wie im Garten: im Kabinete wohnte ihr Schäfer, der Sofa war die Wohnung der Mutter, und jedes graue oder weiße Feld in dem parketirten Fußboden eine besondre Trift, wo Daphnis, Alexis, Damon und andre Herren aus der geßnerischen Schäferwelt ihre Heerden weiden ließen Das Schreyen der übelgeschmierten Kabinetthür, wenn sie geöfnet wurde, waren ihr die lieblichen Melodien der Schalmeyen 201 und Pfeifen, die auf den Fluren des Fußbodens wiederhallten; und diese Thür ließ sie eines Nachmittags ihre Schalmeyentöne so oft machen, daß ihre Guvernante Zahnweh bekam und sogleich der Kammerjungfer Befehl ertheilte, die verwünschte Thür mit Baumöle zu salben. Nun war Hain und Flur stumm: die Flöten ertönten nicht mehr über das bunte Parket hin: es war Winter und die Schäfer trieben ihre Schafe nach Hause. Zum Glücke bekam auch der Sofa eine Neigung, musikalisch zu werden; und sogleich kehrte der Sommer zurück. Alle Triften waren wieder voll von wollichten Heerden, die Baronesse sezte sich auf den Sofa und brachte durch öftres Hin- und Herrücken, wie ein lebhafter Orgelspieler, wenn er das Pedal mit Füssen tritt, so vielfache Schalmeyentöne hervor, daß Fräulein Hedwig unsinnig hätte werden mögen. Der Tischer schlug einen Keil in die gewichne Fuge, aus welcher die Musik ertönte; und abermals vertrieb ein rauher Winter Freude und Gesänge von den öden Fluren.

202 Bey so beständiger innerer Beschäftigung verbreitete sich nothwendig über das Gesicht der Baronesse eine Art von Tiefsinn, eine Zurückgezogenheit in sich selbst: ihre Lebhaftigkeit verschwand, sie sprach selten und allemal nur abgebrochen, hörte auf keine Anrede, beantwortete keine Frage, wenn sie nicht etlichemal wiederholt wurde, verstand sie meistentheils falsch, murmelte sehr oft vor sich hin, brach zuweilen in eine Rede aus, die in ihr inneres Gedankengespräch gehörte, und mit der äußern Unterhaltung in keinem Zusammenhange stund: Niemand wußte, was man von ihr denken sollte. Sie war gesund, aß, trank und schlief, wie gewöhnlich: Graf und Gräfin vermutheten eine versteckte Krankheit und ließen den Arzt holen. Sie wurde in ihrer beiderseitigen Gegenwart von dem Aeskulapp des Städtchens verhört, der Puls untersucht: da war keine Krankheit zu finden! auch nicht eine Spur davon! Der Arzt wollte doch nicht umsonst gekommen seyn, und versicherte, daß sie Würmer habe: die ruchlosen Thiere, die ihr allen Muth weggefressen hatten, wurden so 203 heftig mit Purganzen bestürmt, daß sie Gefahr lief, wirklich krank zu werden. Ihre Munterkeit kehrte nicht wieder, und Fräulein Hedwig behauptete endlich, da kein anderer Grund gültig befunden wurde, daß sie stark wachse, welcher Meinung man einmüthig beistimmte, und nach einer so wahrscheinlichen Entdeckung beruhigte man sich, ohne weiter sich zu wundern oder nachzuforschen.

Die Gräfin argwohnte zwar anfangs, daß ihr Verbot wegen des Umgangs mit Heinrichen die Veranlassung sey: allein da die Baronesse nicht die mindeste Miene machte, als wenn sie nach ihm verlangte, nicht Eine Gelegenheit suchte, ihn zu sprechen, so gab sie ihre Vermuthung bald wieder auf. Im Grunde war auch wirklich die Betrübniß darüber nur sehr kurz bey Ulriken: der Zufall führte ihr bald ein Rettungsmittel in die Hand: sie sezte ihre Liebe in der Einbildung so glücklich und zufrieden fort, daß sie gar nicht die Schwierigkeit, ihren wahrhaften Geliebten zu sehen, hinwegzuräumen suchte. Wenn sie noch so still und muthlos schien, fühlte sie in 204 sich Freuden, die ihr die Wirklichkeit nie hätte geben können. Heinrich durfte seit jenem Verbote keine Lehrstunden mehr gemeinschaftlich mit ihr haben: Schwinger ließ ihn so wenig von seiner Seite, als Fräulein Hedwig die Baronesse, gieng gar nicht mehr mit ihm in dem Garten, sondern jedesmal auf das Feld spatzieren: kurz, die beiden jungen Verliebten wohnten unter Einem Dache, und waren so gut als durch Meere und Länder getrennt. Dabey gebrauchte Schwinger den Kunstgriff, daß er seinen Zögling doppelt mehr, als vorher beschäftigte, zerstreute, und seine Thätigkeit in ein so unaufhörliches Spiel sezte, daß die Ehrbegierde die Liebe daniederhielt, und auch sehr bald der Vorsaz, die Baronesse der Gräfin zum Troz zu lieben, mit seinem Grolle über die erlittene Beleidigung verschwand, besonders da es in den ersten Tagen darauf ganz unmöglich war, mit ihr Eine Minute allein zu seyn. Jedes von ihnen beiden verfolgte ein Fantom der Einbildung – er die Ehre, die Baronesse ihren Daphnis; und darüber vergaßen sie beide die Wirklichkeit. 205

 


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