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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Worin unter Führung des Animators die letzte unserer »Besichtigungen« stattfindet, und ich neben den Treibhäusern, auf welchen der ganze Stolz der astromentalen Menschheit beruht, auch den Ammenhügel kennen lerne.

 

Der Animator stand mit aufmunterndem Lächeln in der Tür unseres Badesaals und rieb tatsächlich seine Hände. Er war kein Riese. Er war ganz im Gegenteil klein und vielleicht etwas verwachsen. Der weiße Kittel, in dem er stak, schien zu weit zu sein für seine Gestalt. Während die andern Funktionäre dieser Unterwelt hier Kopfbedeckungen trugen, die an Koch- und Zuckerbäckermützen erinnerten, zeigte der Animator seinen überaus langen und ein wenig deformierten Blankschädel nackt. Er besaß die einzige disproportionierte Gestalt, die mir bisher auf meiner Reise begegnet war, denn die kugelige Verkrüppelung des Hochschwebenden hatte sich mir ja als eine verfrühte Tendenz des menschlichen Körpers zur schwebenden Fortbewegung offenbart, zu welcher er sich einmal in ungezählten Jahrhunderttausenden hinentwickeln wird. Die leichte Verwachsenheit unseres Animators aber – das Wort Verwachsenheit ist schon eine unerlaubte Übertreibung – schien keinerlei biologische Zwecke zu verraten. Sie war nicht die Folge jener kosmischen Arthritis, welche sich die Fremdfühler in den Raum-Ozeanen zwischen den Sternnebeln zugezogen haben. Was den Namen »Animator« betrifft, so bin ich mir selbst über seine Bedeutung nicht ganz im klaren. Ihn schlankweg als »Beseeler« zu übersetzen, würde ich für einen großen Fehler halten, denn die Aufgabe des also Betitelten war es ja durchaus nicht, den toten Stoff zu beseelen, sondern weit eher die Trennung zwischen Seele und totem Stoff zu einem festlichen Vergnügen zu gestalten. Ich neige somit eher dazu, das Wort Animator mit dem Wort animieren in Zusammenhang zu bringen. Der Animator hatte die Aufgabe, seine Gäste zu animieren. Schon Io-Fagòrs letzte Worte hatten es mir verraten, daß es sehr viele gab, die im entscheidenden Augenblick vor jenem festlichen Vergnügen zurückschraken, das sie ihr ganzes Leben hoch gepriesen hatten; denn mag das Ende auch noch so köstlich und vergnüglich und appetitlich sein, es ist und bleibt doch das Ende eines lange gewohnten Zustands. Wer aber wechselt gerne seine gewohnten Zustände, selbst wenn sie gar nicht vergnüglich sind?

Ich muß noch schnell ein komisches Charakteristikum des Animators erwähnen. Er schien in der dicken, dampfigen Treibhausatmosphäre hier unten zu frösteln, denn manchmal sog er die Luft hörbar ein und ließ dabei ein Zähneklappern hören. Um noch einmal einen Vergleich zu wagen: Wie der Hochschwebende trotz vermehrter Gravitation sich nicht in den unteren Regionen seines Comptoirs zu halten vermochte, so konnte der Animator in dem veritabelsten Dampfbad nicht warm werden. Berufliche Gebrechen.

»Es tut mir leid, daß wir Sie in unschicklichem Zustand empfangen, Maître Animator«, sagte ich, plötzlich ruhig geworden, und vergaß dabei, daß Nacktheit durchaus nichts Unschickliches war. Der Animator unterdrückte ein Schnappern und erwiderte leicht mit der Zunge anstoßend:

»Die Nacktheit, Seigneur, ist für die Augen des Arztes auch nur eine Hülle.« Während er mit entschuldigenden Schrittchen näher auf uns zutrat, sprach er zu sich selbst, und zwar so, als lasse er den unaufhörlichen wissenschaftlichen Monolog seines Innern für einen Augenblick an die Oberfläche treten:

»Nein, nein, die Haut, der ekdodermatische Bezirk ist alles eher als Nacktheit. Nacktheit ist überhaupt nur eine Illusion der Liebesleute, die sich aneinanderreihen, um sich gegenseitig aufzutun. Die Haut aber ist das Verschließendste und Verschlossenste was es gibt. Sie ist das nahtlose Gewand ...« Ohne einen Kälteschauer ganz verbergen zu können, erfaßte er mich mit einem kurzen, erstaunlich scharfen Blick seiner geröteten Augen von Kopf zu Füßen und nach mir meinen Freund. Währenddessen setzte er seinen Monolog fort wie einer, der seine Arbeit mit losen Worten, gleichgültig welchen, begleitet: »Das nahtlose Gewand des hohen Priesters hatte vier Öffnungen. Das Gewand des Menschen, die Haut, hat drei mal drei Öffnungen: Zwei Augen, zwei Ohren, zwei Nasenlöcher, einen Mund, ein Geschlecht, einen After ... Alles in bester Ordnung, wie ich merke, Seigneur, soweit das nahtlose Gewand in Betracht kommt, bis auf die zehnte Öffnung oder Halböffnung da, den Nabel. Barbarisch abgebunden. Müssen sinistre Zeiten gewesen sein. Tut nichts. Haben's überstanden. Aber es wird nicht ganz leicht sein mit Ihnen, Seigneur, nicht ganz leicht. Schwieriger jedenfalls als mit dem Freunde hier ...« Und er lächelte vertrauensvoll B.H. an.

»Was verstehen Sie unter ›leichter‹ und ›schwerer‹?« fragte ich den Animator zwischen den Zähnen.

»Ich möchte vorausschicken«, lispelte er, »daß ich mich dem Dienste der Menschheit gewidmet habe und immer nur das Beste und Liebevollste im Schilde führe.«

Diese falsche Phrase – man führt ja stets etwas Böses im Schilde und nicht etwas Gutes – darf man nicht auf das Fehlerkonto des Autors setzen. Dem Animator unterliefen selten, aber doch dann und wann solche falsche Metaphern. Vielleicht waren diese Entgleisungen auf das zurückzuführen, was B.H. die Schmuddeligkeit der Unterwelt genannt hatte.

»Man hat uns hier das Wort Antiception hingeworfen«, sagte ich nicht ohne Bitterkeit.

Der Animator beruhigte mich: »Geben Sie nichts auf Worte, Seigneur, und vor allem nichts auf wissenschaftliche Fachworte, auf diese leeren und eitlen Synonyma in toten Sprachen. Sie sind die Überreste einer überwundenen Zeit, in denen die Wissenschaft aus nichts anderem bestand als aus ihnen ... Sieht man nicht, daß die Herren frieren«, wandte er sich an die Badediener »und man läßt sie unabgetrocknet stehen. Hurtig, hurtig frottieren und ankleiden!«

Die beiden Weißbekittelten stürzten sich mit wundervoll rauhen Tüchern auf uns und frottierten uns ziemlich fachgerecht, wobei sie aber nur mäßige Kräfte entwickelten. Mit dem Ankleiden fiel es ihnen schon schwerer, da sie sich weder in B.H.s Felduniform noch in meinem schwarzen Ehrenkleide auskannten. Insbesondere das Vorne und Hinten der Hosen verwirrte sie. Auch merkte ich ihnen sofort an, daß der Befehl zum Ankleiden sie mit mißbilligender Verwunderung erfüllt hatte wie alle Subalternen, von denen man einen Bruch der Vorschrift oder der Konvention fordert. Die Vorschrift aber lautete zweifellos: Auskleiden und nicht wieder ankleiden.

Als wir fertig waren, ließ uns der Animator den Vortritt und folgte uns in unser Ruhegemach.

»Was immer die Herren vorhaben«, sagte er beinah demütig, »da bin ich und da gehorche ich.«

»Sie sind über mich informiert, Maître Animator«, sagte ich und blickte auf meine violette Handgelenkschleife, die ich auch im Bad nicht abgelegt hatte. Er senkte seinen Kopf, um mir sein Mitgefühl zu bezeigen:

»Wie leid tut es mir, daß Ihr Aufenthalt in unserer Welt so unverantwortlich gestört worden ist.« Und nach oben blickend fügte er hinzu: »Die Sachen stehen schlecht, sehr schlecht. Die letzten Nachrichten sind verheerend. Die Herren haben den einzig richtigen Entschluß gefaßt ...«

»Ich hätte auch ohne schreckliche Ereignisse den Entschluß gefaßt, dem Wintergarten und seiner Leitung einen Besuch abzustatten. Schließlich war ich auch im Djebel, bin mit den Chronosophen ›aufgefahren‹ und wurde im Comptoir vom Hochschwebenden empfangen. Der Wintergarten, mein ich, ist für das Wohl der Menschheit und für die Neugier des Fremden um nichts weniger wichtig als der Djebel ...«

Der Animator sah mich zuerst mißtrauisch, dann forschend an und begann schließlich breit zu lächeln:

»Kommt Ihnen das von Herzen, Seigneur? Ach, was frage ich! Ein Mann wie Sie spricht die Wahrheit, und wenn er lügt, belügt er nur die andern und nicht sich selbst. Sie haben sich selbst nicht belogen. Wir hier unten sind nicht sehr verwöhnt. Man preist unsere Institution als hohe Errungenschaft, aber leise, flüsternd und scheu. Die Verfassung verbietet Besichtigungen und Führungen außer in besonderen Fällen. Am liebsten schwiege man uns tot. Ja, der Djebel funkelt im Licht. Sterne machen sich gut. Sterne sind etwas für Snobs. Ich sage übrigens kein Wort gegen die Sterne sämtlicher Intermundien. Ich möchte nur gebeten haben, unser bescheidenes, doch unendlich reiches Intermundium der Zellteilung hier nicht zu unterschätzen.«

»Im Gegenteil, Maître Animator«, warf ich dazwischen, »ich hoffe, Sie werden meinem Freund und mir dieselbe Aufmerksamkeit schenken, die man uns im Djebel erwiesen hat ...«

Nach diesen Worten versenkte ich meine Schleife wieder unter der Manschette. Da aber taumelte B.H. aus der seligen Geistesabwesenheit, in die ihn das Moorbad versetzt hatte, plötzlich auf. Er gab sich einen Ruck. Sein Antlitz zeigte mehr Schatten und Schärfen als je. Ein Ausdruck von forcierter Energie bildete sich um seinen Mund.

»Wir sind berechtigt, dieselbe Aufmerksamkeit zu fordern wie im Djebel«, rief er mit der Heftigkeit eines nicht ganz Nüchternen. »Ich habe meinem Freund aus den Anfängen der Menschheit versprochen, daß er alles zu sehn bekommt ...«

»Aber darüber ist doch niemand glücklicher als ich«, lächelte der Animator. »Ehre, wem Ehre gebührt. Ich danke im Namen des Wintergartens. Wir stehen hier in bester Verbindung mit dem Djebel. Genau über Ihrem Scheitel, Seigneur, befindet sich in der verlängerten Geraden die Kanzlei des Hochschwebenden. Genau über dieser befindet sich in der verlängerten Geraden ›Erzengel Michael‹ oder der ›Nordstern‹. Genau über diesem befindet sich in der verlängerten Geraden der zygotische, das ist der befruchtete Sternnebel ›Universum Hibernum‹ oder ›Winterwelt‹. Man hat Ihnen im Djebel gewiß Kunde gegeben von den beiden Arten der Sternnebel, den schraubenförmigen und eiförmigen, den spermatischen und ovariellen, den männlichen und weiblichen.«

Es fiel mir nicht nur auf, sondern war mir recht unangenehm, daß der Animator über so hohe Welträtsel offen plauderte und ein ungeheueres Geheimnis, wie das eines befruchteten Universums, mir nichts dir nichts in seine Rede einfließen ließ, ganz im Gegensatz zum Hochschwebenden.

»Man hat mir Unwürdigem verraten«, sagte ich leise, »daß unser Weltall erstens Menschengestalt besitze und zweitens mit sich selbst verheiratet sei.«

»Bei uns werden Sie mit einer weniger mystischen und metaphysischen Ausdrucksweise bedient werden, Seigneur«, versetzte der Animator. »Wir steigen nicht hoch empor, sondern tief hinab. Und je tiefer man hinabsteigt, um so wirklicher wird die Wirklichkeit. Halten Sie nur eines fest, meine Herren, das Weltall ist nicht androgyn, nicht mannweiblich oder weibmännlich, wie einige Pfuscher noch vor kurzem, das ist vor zweihundert Jahren, behauptet haben. Drei Worte beherrschen das Ganze, von der hellen Winterwelt dort oben bis zum dunklen Wintergarten hier unten ... Zeugen, Fruchttragen, Gebären ...«

»Also das will ich nicht hören«, schrie B.H. plötzlich ergrimmt und stampfte mit dem Fuß auf. »Ich will nicht hören, daß Sterne dasselbe sind wie Unikeln, Achads und Monaden. Das ist lauter verlogener Mist der archaischen Naturwissenschaft. Wir sind gestern lange genug herumgetrudelt im Innersten so eines verfluchten Sauerstoffatoms. Atome sind ebensowenig Sterne, wie Spielmarken Dukaten sind ...«

Der Animator sah mich hilflos an.

»Mein Freund«, lachte ich, »hat einen Vergleich aus einem seiner früheren Leben gewählt ... Sie sehen, er ist etwas erregt. Aber seine Erregung ist mir lieber als der apathische Konformismus, den er im Moor-Bad gezeigt hat ...«

Ich nahm B.H. bei der Hand:

»Wäre es nicht gut, jetzt zur Besichtigung aufzubrechen, Maître?«

»Noch eine kurze Weile, meine Herren«, versetzte der kleine Mann und neigte seinen schmalen langen Schädel. »Ich halte einige Präliminarien für unerläßlich. Darunter verstehe ich ein paar aufklärende Bemerkungen meinerseits, damit Sie das Prinzip verstehen und darum das Köstliche besser genießen können ... Ach nein, ist das nicht ein blauer Sonntag für mich?«

»Wieso Sonntag«, fragte ich, »gibt es denn hier Tage?«

»Natürlich gibt es keine Tage, Seigneur«, bestätigte der Animator. »Ich habe nur eine leere Redensart gebraucht, um meine Freude über solchen Besuch auszudrücken. Wir haben hier den Vorteil, durch keinen astronomischen Stundenplan behindert zu werden ...«

»Dafür aber durch private Zeit«, lächelte ich pointiert.

»›Private Zeit‹, so heißt sie nur im Jargon der Subalternen«, erwiderte der Animator mit einem leichten Tadel. »Wir aber, meine Herren, sprechen von der ›autobiologischen Zeit‹. Und zur ›autobiologischen Zeit‹ wird niemand gezwungen ...«

Nach diesen Worten gab der Animator den Badedienern einen leisen Auftrag. Die Kolosse auf tönernen Beinen überstürzten sich vor Gehorsam und kehrten nach wenigen Sekunden zurück. Sie brachten einen Krug und drei Becher, die sie mit der Flüssigkeit füllten, die der Krug enthielt. Obwohl unablässig auf der Hut, entschloß ich mich, dem Willkommstrunk zuzusprechen. Es schien wirklich und wahrhaftig alter Kognak zu sein. Es schmeckte und brannte wenigstens wie guter Kognak, so feurig und leicht ölig zugleich.

»Die Herren werden frische Kräfte für die Besichtigung nötig haben«, munterte uns der Animator auf. Und er hatte recht. In dem Trunk verbarg sich kein tückischer Trick. Mochte der Becher Branntwein enthalten oder ein unbekanntes Elixier, er wirkte Wunder, zumal auf mich. Obwohl ich in diesen Minuten überhaupt nicht wußte, was ich selbst vorhatte, und noch immer kaum daran zweifelte, daß wir beide uns der Prozedur des Wintergartens anvertrauen würden, wachte ich doch mit schärfster Anspannung darüber, daß B.H.s und meine Kräfte geistig und körperlich auf der Höhe blieben. Denn ein astromental geschärftes Vorgefühl ließ mich wissen, daß wir das äußerste Maß dieser Kräfte für gewisse Abenteuer brauchen würden, die uns bevorstanden.

Der Animator hatte sich inzwischen zu meiner großen Verwunderung ohne alle Umstände auf den Teppich gehockt wie ein Sohn der Wüste:

»Die Herren verabscheuen diese Haltung«, lispelte er, als er mein Erstaunen sah. »Dies aber mit Unrecht. Die Knie ans Kinn gezogen, die Händchen abgebogen, das ist die devote Haltung des werdenden Menschen in utero, wenn er das höhere Leben in Empfang nimmt ... In dieser Haltung des Entgegennehmens sollten wir zu dem Schöpfer beten, wer immer er sei, nicht aber auf den Knien wie zu einem Despoten ...«

Da hiemit sogar das Hocken geheiligt war, ließ ich mich auf eines der Ruhelager nieder und zog B.H. neben mich:

»Gehört das schon zum Prinzip?« fragte ich, um den Animator schnell auf die Sache zu bringen.

»Das Prinzip ist ganz einfach«, nickte er. »Terra heißt nicht Terrus und Gäa heißt nicht Gäos. Der menschliche Geist, der nichts anderes ist als das Zubewußtseinkommen des Lebens wurde schon in seiner ersten Dämmerung dessen inne, daß sein Planet eine Frau ist ...«

»Maître Animator«, warf ich ein, »wenn ich nicht durch eigene Erfahrung die rein männlichen Naturen von Johannes Evangelist und Apostel Petrus kennen gelernt hätte, würde ich Ihre Eröffnung für die abgegriffenste Banalität halten ...«

»So aber, Seigneur, der Sie es selbst erlebt haben, was für ein kahles, brutales, liebloses Subjekt solch ein männlicher Planet ist, halten Sie eine große aber einfache Wahrheit nicht mehr für banal. Und Sie wissen jetzt auch, warum wir alle, Sie und Ihr Freund und ich, Troubadours sind und Minnesänger und vor allem Muttersöhnchen ... Da haben Sie's, manchmal schwärmt auch die nüchterne Wissenschaft.«

»Von welcher Wissenschaft sprechen Sie?« fragte B.H. gemessen aber feindselig, und ich freute mich dieser Feindseligkeit.

»Ich spreche nicht von Wissenschaft, ich bin die Wissenschaft«, erklärte der Animator, und es klang gar nicht so unbescheiden, wie es sich gedruckt liest. »Ich bringe die Millionen Unordnungen des Lebens in Ordnung, nicht anders als die hochgeehrten Sternwanderer, Verwunderer und Fremdfühler dort oben, nur weniger effektvoll, dafür aber mit erkennbaren Resultaten ...«

»Zum Beispiel?« verharrte B.H. auf seiner pedantischen Fragerei.

»Zum Beispiel«, wiederholte der Animator fast zärtlich: »Ich nehme zum Beispiel die beiden Herren, zu deren Füßen hier ich in empfangender Devotion hocke: Was sind die beiden Herren körperlich? Sie sind zwei mal sechsundzwanzig Billionen Zellularwesen, lebendige plasmatische Scheibchen mit einem dickflüssigen Tröpflein in der Mitten, jedes einzelne dieser Scheibchen verschiedenen Gruppen zugeteilt, die andern Ursachen entspringen, andern Zwecken dienen und zu andern Formen zusammenschießen; und sind doch alle gebunden und bewegt durch dieselbe Kraft und dasselbe Gesetz, das den Kosmos in Gang hält. Ich habe daher die Ehre, vor zwei Kosmen in empfangender Devotion zu hocken, vor zwei edlen Ios ...«

»Nicht das, nicht diesen Vergleich bitte«, knirschte B.H. mit den Zähnen.

»Unterbrich ihn nicht, mein Lieber, wenn er recht hat«, verwies ich meinen Freund und ließ ihm einen zweiten Becher Kognak oder Elixier reichen.

»Unterbrechen Sie mich nur, edles Io«, lispelte der Animator, »da ich Seigneur nicht mit uralten Banalitäten der Bioelektrik und Symmetrologie langweilen will, von denen schon seine berühmten Zeitgenossen nichts hören wollten wie St. Thomas, Minkowsky, Aristoteles, Coghill, Harvey der Große, Lactantius, Davenport, Hooker, Coronios, Li-Feng Yang und Joao Travac ... Prononciere ich richtig?«

»Makellos, Maître«, nickte ich, dem eitlen Polyhistor zur Freude, »ich aber habe Sie nicht unterbrochen.«

»Ich unterbreche mich selbst, Seigneur, indem ich meine Augen schließe, um Sie besser zu sehen. Während ich Sie nämlich geistig sehe, gelingt es mir, Sie innenbildlich rückzuentwickeln, eine Fähigkeit, die durch hundertjährige Praxis im Wintergarten mir zur zweiten Natur geworden ist. Ich habe jetzt schon ganz andere sechsundzwanzig Billionen Scheibchen vor meinem geistigen Auge und jetzt wieder andere, und ich überspringe viele Zyklen des Zusammenspiels, und auf einmal sind Sie ein rundliches Kind, Seigneur, mit großen schauenden Augen (warum gar so traurig?) und nun sind Sie ein postnatales Baby, die nahtlose Haut wie verbrüht, und jetzt, da ich ein alter Praktikus bin, den die Praxis immer wieder fortreißt, gehe ich zum Äußersten in der Rückentwicklung, ich gehe usque ad ovum, bis zum Ursprung ...«

Nach diesen Worten machte er eine Pause, wobei sein blasses Gesicht, an dem mir ein weißes Ziegenbärtchen und eine scharfgeschliffene Brille beinahe schmerzhaft fehlten, vor wissenschaftlicher Verklärung einzuschrumpfen schien:

»Bis zum Ursprung«, wiederholte er leise. »Ei, was sehe ich da? Ich sehe einen Globus, einen Globulus, die Urform aller Dinge, die einst vielleicht auch ihre Endform sein wird. Einen Globulus sehe ich, dessen ungefestigte, zweizeilige Masse von einer ganz dünnen, glasklaren Membran, einer Schale, einer Oberfläche begrenzt und abgeschlossen ist. Jede Wesenheit beginnt ihr Leben damit, daß sie ihre Grenzen schließt. Jetzt sind Sie, Seigneur, niemandem und nichts etwas schuldig außer Vater und Mutter. Sie sind ja nur eine vielversprechende Voraussetzung. Sie sind allein für mich sichtbar, den Animator im Wintergarten. Die beiden Chromosomata, die heiligen Farbkörper, das weibliche Purpurrot und das männliche Himmelsblau, haben sich in den Globulus, der Sie sind, neutralisiert zu einer unauslöschbaren Möglichkeit, höheres Leben aufzunehmen ...«

Ich starrte den Animator tief gebannt an, während sein embryologischer Vortrag in mir einen leichten Brechreiz erregte. Da, wahrhaftigen Gotts, er zerdrückte eine Träne, die unterm linken geschlossenen Augenlid hervortrat. Daß diese Hadesbrüder zu allem noch weich und sentimental sind, so dachte ich, und hätte beinahe die nächsten Worte des Animators überhört:

»... ich muß Sie um Ihre Erlaubnis bitten, Sie noch ein wenig vorwärts entwickeln zu dürfen und Sie noch ein bißchen größer zu machen. So so. Jetzt Seigneur, sehen Sie einem Rauch oder einer gebogenen Flaumfeder in einer kleinen, mattdurchsichtigen Seifenblase ähnlich. Gehen wir noch ein Stückchen weiter. Sie haben jetzt bestenfalls das Gesicht eines winzigen Widderchens. Aber was ist das? Da, da, können Sie es nicht hören? Das Herzchen schlägt schon. Unbemerkt hat es begonnen zu schlagen, unregelmäßig, taumelnd, schlaftrunken. Noch sind alle Muskeln nur verwischte Andeutungen, aber der Herzmuskel pumpt schon die Persönlichkeit, die Seele ins Köpfchen. Was ist denn aber los? Warum quält sich das Herzchen so? Sie haben recht getan, zu uns zu kommen, Seigneur. An Ihren ersten Herzschlägen kann ich die negativen Tendenzen Ihrer Konstitution fühlen. Sie haben recht getan. Denn warum sich aussetzen dem Schrecken aller Schrecken, einem jähen Ende, dieser Unkultiviertheit überwundener Epochen? Was höre ich Ihrer linken Herzkammer an? Erlauben Sie mir, daß ich Sie noch ein wenig weiter entwickle ...«

»Ich erlaube es nicht«, schrie ich und sprang auf, außer mir, wie vorhin B.H. Der Animator hatte mir wildes Herzklopfen verursacht, und ich brauchte eine ganze Weile, um ruhiger zu werden.

»Sie haben sich«, stieß ich endlich atemlos hervor, »Sie haben sich ungebeten herausgenommen, mich usque ad ovum zurückzuentwickeln, anstatt uns ganz unpersönlich das Prinzip des Wintergartens zu erklären.«

Auch der Animator hatte sich aus seiner entgegennehmenden Hockstellung erhoben. Er schien nicht nur erstaunt, sondern geradezu bestürzt über meinen Ausbruch.

»Habe ich das Prinzip des Wintergartens nicht in jedem meiner Worte verraten«, stammelte er. »Haben die verehrten Ios mich nicht verstanden ...?«

Er wandte sich mit weinerlicher Stimme den beiden Badedienern zu, die im Eingang des Badesaals standen.

»Bin ich heute so schlecht gewesen?« fragte er wie ein Schauspieler.

»Ausgezeichnet! Wunderbar! Brillant! Noch nie so gut!« antworteten die Gehilfen in demselben mechanisch schmeichlerischen Ton, mit welchem man schwitzende und lobesbedürftige Virtuosen nach der Vorstellung zu beruhigen pflegt. Dann aber trat der kleinere Badediener, es war Nummer Zwei, einen Schritt vor, errötete und sagte verlegen, wobei er die Fremdworte vorsichtig aussprach:

»Ich bitte um großen Pardon. Der Animator hat den retrogenetischen Humus vergessen ...«

Ich sah B.H. an. B.H. sah mich an. Wir beide boten einen beklemmenden Anblick.

»Was ist das, der retrogenetische Humus?« fragte ich, und meine eigene Stimme klang mir erstickt ins Ohr.

»Die Wonne aller Wonnen«, schnapperte der Animator, aber jetzt nicht vor Kälte, sondern vor Verzückung. »Die Herren haben ja selbst vorhin in einer schwachen Lösung des retrogenetischen Humus ihr erstes Bad genommen.«

 

Um einen Reisebericht aus fernster Zukunft wie diesen ohne Widerstände und vielleicht sogar mit einigem Gewinn zu verfolgen, muß man sich frei machen von der verhärteten Denkweise des eigenen Zeitalters. Ich selbst hatte dieser Forderung zu genügen und, weiß Gott, es gelang mir nicht immer, obwohl ich doch den Vorzug des eigenen Erlebens und der unmittelbaren Anschauung genoß. Ich habe alles in allem zweieinhalb Tage und drei Nächte in der astromentalen Welt zugebracht. Doch auch das ist nur eine subjektive Aussage. Ich weiß nicht, ob es in Wirklichkeit zweieinhalb und drei Augenblicke oder Einviertelstunden oder ebensoviele Ewigkeiten waren, von denen jenes Strandgut zurückblieb, mit dem der vorliegende Band gefüllt ist. Nachdem wir schon so viele Arten von Zeit kennen gelernt haben, die superplanetare Zeit im Niederen Intermundium, die statische Zeit des Fegfeuers, und nun der autobiologischen Zeit des Wintergartens entgegengingen, so möchte ich die wichtigste aller Zeitdimensionen, in denen der Mensch lebt, nicht unbeschworen lassen. Es ist die »geistige Zeit«.

Diese herrlichste Form der Zeit zeichnet sich dadurch aus, daß sie kein Nacheinander kennt, daß sie in jedem ihrer Teile den ganzen Weltlauf enthält, daß sie dem, der ihr angehört, die Freiheit gibt, regellos von einem ihrer Punkte zum andern zu springen und ihn in demselben Augenblick zum Zeugen des Ersten Schöpfungstages und des Jüngsten Gerichts macht. Auf der geistigen Zeit beruhen die drei Kräfte, die den Menschen erst zum Menschen erheben: Die Erinnerung, die Ahnung und der Glaube an das Unbeweisbare. Die schlimmsten Feinde der geistigen Zeit aber sind die Armen, die nicht regellos von Zeitklippe zu Zeitklippe springen können, die nicht von Erinnerung und Ahnung umsponnen sind und die nichts Unbeweisbares glauben dürfen. Es sind zugleich auch die, welche immer falsch fragen, da sie alles ganz genau wissen wollen, schon deshalb, weil sie es auch ungenau nie verstehen könnten. Nur der Vorzug, daß wir geistige Zeit in uns tragen, gibt dem Leser und mir die Möglichkeit, im Elften Weltengroßjahr der Jungfrau präsent zu sein, ehe dieses noch selbst Präsens ist.

Wir brauchen aber keine geistige Zeit dazu, um uns vorzustellen, daß es irgendwo in den Schichten des erstarrten oder halb erstarrten Erdinnern Hohlräume gibt, die uns – wenn ein Dämmerlicht sie erhellt – als absonderlich traurige Herbstlandschaften erscheinen. Das ist nichts als ein annehmbares Faktum, wie es etwa unbekannte Tierarten sind. Wir brauchen nicht einmal geistige Zeit dazu, wenn wir den gewaltigen Hohlraum des Wintergartens mit denselben Worten bezeichnen, wie es der Animator tat: »Uterus terrae matris« – »die Gebärmutter der Mutter Erde«.

Daß hier der feuerflüssige Urkern des Mondes sich befand, ehe er an die Oberfläche wallte und ausgeschleudert wurde, ist ebenfalls ein annehmbares Faktum, aber zum Unterschied vom ersten nicht nur ein bloßes Faktum, sondern eines, hinter dem sich schon ein Gleichnis verbirgt: das Gleichnis zwischen Erdenweib und Weiberde. Doch nur die geistige Zeit, die uns durchströmt und die realisiert, was gewesen ist, und was sein wird und sogar das, was niemals gewesen ist und niemals sein wird, gibt uns die Kühnheit, den »retrogenetischen Humus« und die »Rückentwicklung der lebendigen Form« und die »astromentale Überwindung des Sterbens« hinzunehmen als das, was sie sind: In der Dämmerung der Ferne vorerschaute Möglichkeiten, welche die Natur und die menschliche Vernunft nützen oder verwerfen wird.

Es wäre reines Gefasel, wenn ich behaupten wollte, daß der retrogenetische Humus ein Produkt des Hohlraums war, den der Animator »Uterus terrae matris« nannte. Ich weiß nicht einmal, ob dieser Humus nicht oben unter der Sonne oder unter den Strahlen gewisser weiblicher Lichtgestirne im Park des Arbeiters entstand und dann erst in den Wintergarten geschafft wurde. Ich weiß nicht einmal, wann er das erste Mal angewandt worden und wer sein Entdecker war. So kann ich dem großen Astronomen Ursler den Namen des ebenbürtigen Biologen nicht an die Seite setzen. Gleich beim Betreten des ersten Glashauses reichte uns der Animator eine Handvoll dieser schwarzen, feuchten, dicken Erde, welche die Eigenschaft hatte, den Körper, der sie berührte, nicht zu beschmutzen. Im Bade hatte ich sie in verschlammter und gewärmter Form kennengelernt; jetzt, da ich sie in der Hand hielt, war sie angenehm kühl und erzeugte in mir das Verlangen, sie auf meine Stirn zu legen, wo der Kopfdruck sich wieder bemerkbar machte.

Die Treibhäuser waren viel heller als der Raum draußen. Ein besonders zartes Frühlingslicht erfüllte sie. Man hätte meinen können, ihr Zweck sei der übliche Zweck aller Glashäuser, Blumen zu züchten. Im Gegensatz zu den astromentalen Hausgärtchen der Oberwelt, sah ich hier nicht nur die acht bis zwölf Spezies der Wachs- und Zuckerbäckerflora, sondern eine reiche Skala halbbekannter und unbekannter Blütengewächse aller Arten, sogar so etwas wie Goldregen und übergroße Azaleen und blühende Kakteen in unglaublich matten Farbkombinationen. Doch gerade diese Blütenpracht rief in meinem altertümlichen Sinn jene Gedankenverbindung hervor, welche die Direktion des Wintergartens am schärfsten zurückgewiesen hätte: Die Idee eines Friedhofs.

Die Glashäuser des Wintergartens waren das Gegenteil eines Friedhofes. Sie führten das lebendige Sein unnachahmlich milde in eine Form des Nichtseins herüber, von der keine häßliche Spur übrig blieb. Dennoch konnte ich mich nicht dagegen wehren, daß mich das Ganze hier mitsamt den schönen Blumen an einen Friedhof erinnerte. Die einzelnen der Rückentwicklung geweihten Personen waren nicht offen zu sehen. Sie schlummerten zu beiden Seiten des Weges in – und wiederum verführt mich die plastische Erinnerung zu einem funèbren Vergleich – sie schlummerten in einer Art von Wiegengräbern. Sie schlummerten freilich wirklich, hochbeschäftigt und rasch atmend. Die Wiegengräber bestanden aus denselben Holzwannen oder Butten, in welchen wir ein »Moorbad« genommen hatten. Sie waren mit Humus aller Mischungen und Grade angefüllt und ziemlich tief in den Boden der Glashäuser eingelassen, so daß sie das Niveau nicht überragten. Jedes der Wiegengräber war sogar durch einen Hügel verschlossen. Nur bestand der Hügel nicht etwa aus grünem Rasen, sondern aus einem grauweißlichen Haufen von etwas, das man ebensogut als Eiderdaunen, Flaumfedern oder frischgezupfte Baumwolle bezeichnen konnte. Zwischen den einzelnen Schlafwannen wuchsen die Blumen, deren Duft den Grundgeruch vertrieb, den ich am Fenster unseres Zimmers eingeschnuppert und als »Babywindeln« diagnostiziert hatte. Hier unten entpuppte er sich als ausgesprochener Ammoniakgeruch.

Wir bewegten uns auf einem langsamen Trottoir roulant zwischen diesen Lagerstätten hin, der Animator an der Spitze, Badediener Nummer Eins und Zwei als Nachhut. Ein sehr unbehagliches Gefühl der Gefangenschaft quälte mich, während B.H. wiederum mit allem einverstanden zu sein schien und den Erklärungen des Animators beifällig-schlaftrunken lauschte. Wir begegneten nur wenig Weißbekittelten und überhaupt keinem Laien. Gewöhnlichen Zeitgenossen war ein Besichtigen dieser geheimen astromentalen Institution nicht gestattet. Anstatt mich aber hochgeehrt zu fühlen, war ich zerstreut und litt unter dem Wesen unseres Führers. Dieser hatte sich immer mehr zu einem Gelehrten- oder Medizinertypus entwickelt, den ich aus Erfahrung wohl kannte, aber nicht liebte. Die Bezeichnung »radikaler Spezialist« sagt zu wenig, wenn man unter ihr jene Art von Ärzten versteht, die alle Leiden »aus einem Punkte« kurieren, entweder aus der Leber oder aus der Bauchspeicheldrüse oder aus den Zahnwurzeln, ob diese gesund sind oder nicht. Es sind Leute, die, von einer fixen Idee besessen, ihren starren Scheuklappenblick nur auf einen einzigen Punkt richten, wobei ihnen der Patient hauptsächlich dazu dient, ihre fixe Idee zum Triumph zu führen. Radikaler Spezialismus ist die Erscheinungsform menschlicher Einseitigkeit und Engstirnigkeit auf dem Gebiete der Wissenschaft. Solch ein Spezialist durch und durch schien mir der Animator zu sein, ein Fanatiker seines Faches, ein Troll dieser seltsamen Glashäuser. Er hatte hier unten sogar seine diplomatische Weitläufigkeit verloren. Er war ganz und gar vom Technischen beherrscht, das er beherrschte. Er lispelte seine Erklärungen in einem merkwürdig feierlichen Ton mit verlorenen Augen, scheinbar tief überzeugt davon, daß er uns bestens animiere, sofort in eines der Wiegengräber zu springen, an denen wir vorbeiglitten.

»Ich habe feststellen lassen«, lächelte er mich feierlich an, »daß die Begriffe Ekdoderm, Mesoderm und Endoderm so alt sind wie Sie selbst, Seigneur. Wir verstehen unter dieser primitiven Dreiteilung die äußere, die zwischenliegende, die innere Entwicklungs- und daher Rückentwicklungsschichte, die dem System unserer Treibhäuser zu Grunde liegt. Das ist natürlich vereinfachender Humbug, denn es gibt nicht nur drei, sondern dreihundertdreiunddreißig Entwicklungsschichten. Aber der Übersicht halber wollen wir uns an das Einfache halten. Hier zum Beispiel, verehrte Ios, gehört alles dem äußern Rückbildungsbezirk an, wir haben es mit Fällen im allerersten Stadium zu tun. Ebenso wie das Wachstum des Embryos durch rasche Zellenteilung vor sich geht, das durch die Weltallskräfte in der Amnionshöhle der Gebärmutter hervorgerufen wird, so erweckt unser gesegneter retrogenetischer Humus eine beschleunigte und doch unmerklich sanfte Zellteilung, die dem sinnigsten, behaglichsten und wonnereichsten aller Schrumpfungsprozesse zu Grunde liegt. Durch Zellteilung werden, was man ist, durch Zellteilung wieder werden, was man war, bevor man war – ich hoffe, Seigneur, daß dieses ›tour-retour‹ Ihr Entzücken finden wird ...«

Er trat auf Zehenspitzen an eines der Wiegengräber heran, entfernte mit zärtlicher Hand den Flaum und baumwollartigen Flockenhaufen und winkte uns näher, den Zeigefinger behutsam an die Lippen legend.

»Ist er nicht süß, dieser Kinderschlaf«, flüsterte er.

Auch wir traten nahe. Ich sah einen blankschädeligen astromentalen Kopf, der freilag, während sich ein von schwarzer Erde bedeckter Knabenkörper abzeichnete, Knie ans Kinn gezogen, Händchen abgebogen, ein Siebenjähriger etwa in Embryohaltung. Das Gesicht, nicht knabenhaft, aber alterslos wie immer, zeigte denselben seligen Ausdruck, der mich an B.H. im Moorbad so sehr erschreckt hatte. Es war übrigens hochgerötet, zweifellos von Fieber, und der Atem ging schnell, gleich dem eines Schwerkranken.

»Dieser Kinderschlaf«, sagte ich düster aufrichtig, »ist der Prolog des Todesschlafes.«

»Wie können Sie nur so abscheuliche Worte in den Mund nehmen«, entsetzte sich der Animator tief gekränkt. »Es ist nicht unsere Aufgabe, das Ende abzuwenden. Das Ende ist notwendig und gut. Es ist aber unsere Aufgabe, diesem Ende eine subjektive und objektive Schönheit zu geben. Im übrigen haben Sie durch brutale Nennung des Namens die Disziplinarordnung des Wintergartens verletzt ...«

»Es wird nicht wieder geschehen«, entschuldigte ich mich, »obwohl die Sache unter jedem Namen dieselbe bleibt.«

»Der Prozeß ist heilsam, Seigneur, der Name verwundet. Die Gerichte verfolgen deshalb diejenigen, welche den Wintergarten ›Thanatodrom‹ nennen ...«

Er bedeckte schnell mit dem Flaum- und Flockenhaufen das Wiegengrab und nahm nach einer kurzen nervösen Pause seine Erklärungen wieder auf:

»Alle Fälle hier im äußern Bezirk, im Ekdoderm, sind noch frei beweglich«, sagte er, »leben gewissermaßen noch außerhalb des Mutterleibes und werden daher durch den Mund ernährt.«

»Warum überhaupt ernährt?« fragte ich aufsässig.

»Glauben Sie, daß wir Barbaren oder Meuchelmörder sind?« lautete die gekränkte Antwort. »Zuerst werden die Rückentwickelten durch den Mund ernährt, solange sie noch halbwüchsig sind, und zuletzt als postnatale Säuglinge. Erst wenn die Placenta sich wieder um den Fötus geschlossen hat, kommt die Ernährung durch den Nabel. Wie hin, so zurück, und gar kein Unterschied. Solange das Herz schlägt, wird ihm die notwendige Nahrung zugeführt.«

»Und wann hört das Herz auf zu schlagen?«

»Genau an dem entsprechenden Punkt der Rückentwicklung, da es angefangen hat zu schlagen.«

Ich unterdrückte meine Bitterkeit. Eine mahnende Stimme innen sagte mir, daß ich keinesfalls die Feindschaft des Animators herausfordern dürfe. Dazu kam, daß mir B.H. immer mehr Sorge machte. Er war wiederum ganz willenlos geworden. Seine dunklen Augen lauschten träumerisch verhangen und beinahe gierig den Erklärungen des Animators. Ich beschloß daher meine Taktik zu ändern und meine Gereiztheit so gut wie möglich zu unterdrücken.

»Cher Maître«, begann ich, mühsam schmeichlerisch, »es ist wirklich kaum zu fassen. Wie schade, daß meine eigenen Zeitgenossen keine Ahnung davon hatten, daß es einen Wintergarten geben wird mit retrogenetischem Humus. Wie aber steht es mit der autobiologischen Zeit? Wie alt war zum Beispiel der Mann, den wir vorhin gesehen haben?«

Der Animator warf mir einen schnellen Blick zu und schien zufrieden zu sein:

»Der Mann, Seigneur, den Sie in seinem glücklichsten Kindheitsschlummer belauscht haben, ist bei uns laut Geburtsschein mit hundertdreiundfünfzig Jahren eingetroffen. Er ist daher noch nicht alt oder nicht alt genug, damit seine autobiologische, seine heterochrone Zeit rasch ablaufe. Man hat ihn ungefähr vor zwölf Planetarstunden eingepflanzt ...«

»Und zwölf Stunden Zellteilung haben genügt, um ihn zu einem Knaben von sieben Jahren rückzuentwickeln?«

»Das ist doch eine beträchtliche Frist, Seigneur«, lächelte der Animator. »Wir haben Fälle, wo das ganze Werk innerhalb von zwölf Stunden abgelaufen ist.«

»Ist das möglich«, rief ich. »Und wie lange brauchen Widerspenstige?«

Die roten Augen des Animators glotzten mich erstaunt an:

»Das läßt sich nicht so leicht sagen, Seigneur«, erwiderte er nach einer unmerklichen Pause. »Widerspenstigkeit ist die einzige Form von Unbehagen bei uns, das der Widerspenstige sich selbst zufügt. Wir haben übrigens Fälle gehabt, die Jahre gebraucht haben ...«

»Denen ist vermutlich recht geschehn«, erwiderte ich überaus konformistisch. »Nun aber verraten Sie mir noch, welches Ihre brauchbarsten, Ihre gelungensten Fälle, Ihre Musterexemplare sind ...«

»Das ist leicht zu beantworten«, strahlte er. (Es fiel mir auf, daß er in der Bruthitze der Glashäuser nicht mehr schnapperte wie im Zimmer oben, noch auch seine eisigen Hände rieb. Er genoß hier die ihm angemessene Temperatur.) »Ein echtes Desiderium originis«, fuhr er fort, »fördert einen blitzschnellen Prozeß, wobei im Laufe von wenigen Stunden der Blastocyst den Margueritenfeldern übergeben werden kann. Ich verstehe unter Desiderium originis die Sehnsucht nach dem Ursprung, einen der heftigsten Triebe des Menschen, wenn er alt, müde, bitter, enttäuscht, hoffnungslos, ausgeleiert ist und den Monsunattacken des ›Taedium senile‹, des Greisenekels vor sich selbst nicht mehr Widerstand leisten kann, mag er öffentlich auch als ein noch so hübsches und noch so jugendfrisches Ururgroßalterchen herumparadieren ...«

Der Animator ließ bei diesen Worten seine Basedowschen Augen die Wiegengräber entlangschweifen. Wir durchglitten längst schon auf dem laufenden Band das achte oder neunte der Glashäuser.

»Ich sollte, meine ich, hier einen schönen Fall vorstellen können«, sagte der Animator. »Es handelt sich um ein Prachtexemplar, dessen autobiologische Zeit vor kaum zwei Stunden begonnen hat. Dieser Fall überspringt ganze Perioden im Sturmlauf ...« Er drehte sich zu den Badedienern um:

»So etwas an Zellteilung und Zellschwund haben wir schon lange nicht gehabt, wie?«

»Formidabel«, sagte Nummer Zwei vorsichtig. »Die trockene Periode wird bald vorüber sein ...«

»Es läßt sich nicht so leicht erklären, Seigneur, wieso die Zellvermehrung zugleich ein Zellschwund ist.«

»Solche Paradoxa sind mir im Djebel geläufig geworden, Maître Animator. Ich denke an den großen Ursler ...«

»Da haben wir ihn ja. Da haben wir ihn, unsern Lieben, Guten, Braven«, flüsterte der Animator plötzlich, winkte mir zu schweigen und näherte sich auf Zehenspitzen einem der Wiegengräber, das einige Schritte entfernt lag. Diesmal kniete er in großem Eifer hin und entfernte schnell die Flaumfedern und Baumwollflocken, die den Rückentwickelten locker bedeckten und schützten. Als das geschehen war, hörte ich ihn vor Anstrengung und Vergnügung ächzen:

»Nur noch eine kurze Weile, und ich hätte den Lieben, Guten, Braven gar nicht mehr aus dem Humus nehmen können.«

Er griff in die Butte und zog kunstgerecht ein dem Anschein nach neugeborenes Kind hervor, das er vorsichtig wie ein Accoucheur auf seinen linken Arm legte, während er die rechte Hand behutsam unter den übergroßen Schädel schob. Stolz trat er auf uns zu, während er in der Zullersprache und in der Schnullersprache lebhaft auf den Säugling einredete:

»Dadadada ... Duziduziduz. Du Lieber, Guter, Braver, Alter ... Wie geht's uns jetzt ...?«

»Er ist halt so kinderlieb«, hörte ich hinter mir Badediener Nummer Eins zu Nummer Zwei sagen.

Der Animator aber forderte mich auf, den Rückentwickelten genauer zu betrachten.

»Da sehen Sie, Seigneur ... Ist er nicht ein Museumsstück, ein Ausstellungsexemplar? ... Und das nach zwei kurzen planetaren Stunden, nach dem zwölften Teil der Erdachsendrehung ...«

Ich beugte mich über das Kind mit der gewissen leeren Gefälligkeit, mit welcher jedermann bereit ist, fremder Leute Sprößlinge zu betrachten und zu loben.

»Gibt es etwas Appetitlicheres auf dieser Welt?« säuselte der Animator.

Ich sah den rötlich verschrumpelten Körper eines Neugeborenen und wünschte mir, er läge im Steckkissen. Was aber meine Blicke viel stärker bannte als der kleine Körper, war der Hydrocephalus, der Wasserkopf des Kindes mit dem dazugehörigen Greisengesicht. Ich wußte natürlich, daß die meisten Neugeborenen in den ersten Stunden Greisengesichter haben, voll Runzeln, Falten, Krähenfüßen und dem tiefeingefallenen Mund zahnloser Hexen. Dies hier aber war etwas anderes. Ich sah nicht den Greisenkopf eines Neugeborenen, ich sah den Greisenkopf eines Greises, der sich dem Greisentum endlich hingeben darf, nachdem ihn die Kulturmühe so lange daran verhindert hatte. Die hundert Falten auf diesen Zügen waren nicht frische Wunden, sondern alte Narben, in denen das Desiderium originis zu erkennen war, der brennende Wunsch, sich ins Unsichtbare und Unbewußte zurückzuziehen. Der Animator blies das Greisengesicht leise an, wie man vergehende Glut anbläst. Da schlug das Wesen plötzlich die Augen auf. An den Augen erkannte ich sofort Io-Solip, den unglücklichen Vater des Bräutigams Io-Do, der dort oben den neuen Weltbrand entfesselt hatte.

»Ist es möglich«, entfuhr es mir heiser. »Sind Sie der liebe sanfte Herr Io-Solip, Compère ...?«

»Und wie wir's sind ... Haha, und wie wir's sind«, antwortete der Animator für seinen Pflegling. »Wir sind der gute, liebe, brave Io-Solip noch immer und noch lange, und jetzt kriegen wir gleich unser letztes Milchlein, und dann werden wir mit dem Schläuchlein angeschlossen an die zentrale Zirkulation, und dann wird alles wohliger als wohlig und stiller als still, und die Welt wird zur Berceuse ... zur Berceuse ...«

Das Wort Berceuse, das der Animator für Wiegenlied gebrauchte, klang mir affektiert und unangenehm ins Ohr. Ich aber suchte den Blick des Rückentwickelten.

Die meisten Säuglinge haben einen tiefen, uralten Blick. Für mich war dieser uralte Kinderblick stets der Beweis für die göttliche Tiefe der Seele in uns und für die »geistige Zeit«, die vom Anfang der Welt reicht bis zum Ende und vielleicht darüber hinaus. In Io-Solips Augen aber war etwas ganz anderes als dieser uralte Kinderblick. In ihnen war der verzweifelte Sprechversuch derer, die zum Schweigen verurteilt sind. Es waren erwachsene, vernünftige Augen hinter Gitterstäben, die sich nicht mehr verständlich machen konnten. Sie wollten mich ohne Zweifel wissen lassen, daß sie mich erkannt hatten. Und noch schrecklicher als das, ein kleines, schluchzendes Säuglingslallen entrang sich dem eingefallenen Mündchen des alten Menschen. Ich wandte mich ab. Meine Augen waren feucht. Hätte ich den lieben Herrn Solip als anständige Leiche gesehen, ich hätte nicht geweint.

»Nun, Seigneur«, leuchtete der Animator triumphierend, »packt Sie endlich die Rührung? Gestehen Sie, es gibt nichts Größeres ...«

Von diesem Augenblick an war ich fest entschlossen, aus dem Wintergarten zu entfliehen und an die Oberfläche der Erde zurückzukehren, unbeschadet der Fernsubstanzzerstörer und der psychischen Artillerie. Ich segnete den guten alten normalen Tod, mochte er von außen kommen oder von innen plötzlich, welch letzteres mir die Diagnose des Animators baldigst in Aussicht stellte. Besser war er jedenfalls als dieser astromentale Umweg über den Wintergarten, obwohl ich wahrscheinlich gar nicht darüber hätte diskutieren können, warum der normale Tod besser sei als diese Rückentwicklung hier, und gewiß alle progressiven Euthanatisten gegen mich gehabt haben würde.

Doch wie uns retten? Ich hatte nicht den leisesten Einfall, was ich tun sollte. Der Druck in meinem Kopfe steigerte sich von Minute zu Minute. Neben mir fuhr oder trottete B.H., wenn wir zu gehen hatten, mit seltsam steifem Schritt und sprach kein Wort. Ich fühlte, daß er in diesem Zustand nichts weniger für mich sein konnte als eine Hilfe. Das Einzige, was mir Vertrauen und Glauben einflößte, war die Erinnerung an die noch weit schwierigere Situation auf Apostel Petrus, der ich am Ende doch heil entkommen war. Ich dachte hier aber nicht an die Hilfe von Melangeloi, die im Kleinen Intermundium eher zu erwarten war als hier im Hohlraum des Wintergartens. Das Merkwürdige an diesem Wintergarten samt seiner grauen Dämmerlandschaft in der Erdgebärmutter war die schwere, die dichte, die enorme Wirklichkeit und schleppende Folgerichtigkeit, die uns hier umschloß. Ich mußte den retrogenetischen Humus und seine erstaunliche Wirkung, wie die Heilwirkung von Radium zum Beispiel, für eine Praxis halten, die auf naturwissenschaftlichen Forschungen beruhte, die ich noch nicht kannte. Sie entzog sich meinem Verständnis in viel geringerem Maße als etwa das Reisegeduldspiel, das Raumtauchergewand, die Überwindung kosmischer Strecken während einer Schulstunde usw. Ich wußte in meinem schweren Kopf, daß wir uns hier unten nur durch einen guten Plan und eine übermenschliche Anstrengung würden retten können. Für beides hielt ich mich ungeeignet, ganz zu schweigen von B.H. in seiner Verfassung.

Der Animator hatte von Leuten gesprochen, die ihm jahrelang Widerstand geboten hatten, und außerdem die Bemerkung gemacht, mit mir werde es nicht leicht sein. Hierin fühlte ich eine hoffnungsvolle Aussicht. Es war unbedingt notwendig, das Mißtrauen unseres Führers zu zerstreuen und sein Wohlwollen bedingungslos zu erwerben.

Als er daher den lieben Herrn Io-Solip wieder zurückbestattet hatte, sagte ich, mir die Augen wischend:

»Da kann man wirklich gerührt sein, cher Maître, denn Sie haben recht, es gibt nichts Größeres ... Und nun nehmen Sie keine Rücksicht auf unsere Kopfschmerzen, sondern zeigen Sie uns alles, alles ...«

Er ließ uns sogleich von dem Elixier reichen, das die Badediener im Kruge mittrugen. Ich bemerkte, daß der Trunk mich jedesmal erfrischte. Und so sahen wir in einer langen, mühsamen Zeitspanne, für die es hier unten kein Maß gab, noch so manches Wunder des retrogenetischen Humus. (Keinen Augenblick hatte ich übrigens das Gefühl von Wunder.) Ich sah in zahlreichen Glashäusern der meso- und endodermatischen Zonen Embryos aller Größen und aller autobiologischen Zeitstufen, männliche und weibliche, die sich aus alten Leuten in diesen Status zurückentwickelt hatten. – Glücklicherweise geschah nicht, wovor ich zitterte, ich begegnete keinem meiner alten Freunde mehr. – Vom völlig ausgebildeten, rückgebildeten, pränatalen Kinde mit entzückend modellierten Händchen und Füßchen sah ich alle Arten von Embryos bis zum raupenhaften Häkchen mit dem großen, gesichtslosen, widderförmigen Kopf im durchscheinenden Fruchtsack. Die Nabelschnur, die von diesen winzigen Menschentierchen, zu dem die Greise reduziert waren, durch die schwarze Erde hindurch zur zentralen Nährstelle führte, war zuletzt ein kaum haardünner Schlauch. Der Monolog des Animators riß nicht ab. Ich schien sein Mißtrauen eingelullt zu haben. Er hatte ein begeistertes Ohr gefunden, und zwar das Ohr eines Menschen aus dem Altertum, der noch ganz unaufgeklärt war und doch intelligent genug, um ihn nach einigen anfänglichen Mucken zu verstehen.

»Ja, die Zellteilung«, sagte er, nachdem er eine kleine Menschenraupe zugedeckt hatte, »die üppige, quellende, brodelnde Zellteilung, sie ist das weibliche Geheimnis der Welt. Der Mann gibt nur den Anstoß, die Idee, und so haben in der alten Welt, wie Seigneur mir bestätigen wird, die Weiber gearbeitet und nicht die Männer ...«

»In gewissen Ländern war es so«, sagte ich, um nicht zu widersprechen.

»Ich meine nicht das«, schüttelte er den deformierten Langschädel. »Die Arbeit des Mannes ist Lodern und Glühen, wovon Asche übrig bleibt. Die Arbeit des Weibes ist Grünen, Blühen, Fruchten, Faulen, wovon Humus übrig bleibt, welches Wort auf Homo hinweist ...«

»Und wann wird im Wintergarten diese weibliche Arbeit der Zellteilung unterbrochen«, fragte ich, »das heißt, wann hat die Rückbildung ihr Ende erreicht?«

»Darüber, Seigneur, wäre ich eigentlich verpflichtet zu schweigen, verfassungsmäßig ...«

»Mir gegenüber können Sie keinen Verfassungsbruch begehen, Maître Animator«, hackte ich in die Kerbe. »Stehe ich nicht außerhalb der Verfassung? Sie sollten immer im Auge behalten, daß ich exterritorial bin ...«

Diese formalistische Bemerkung schien auf ihn einen gewissen Eindruck zu machen, war er doch nicht nur Gelehrter, sondern auch Beamter. Er sah mich mit seinen vortretenden Augen aufmerksam an. Dann flüsterte er nähertretend mir ins Ohr:

»Wir verlegen das Ende der Zellteilung ein klein wenig vor ...«

»Wollen Sie mich nicht deutlicher einweihen, Maître Animator?«

Er suchte zweifellos durch folgende Frage auszuweichen:

»Wann beginnt und wann endet Ihrer Meinung nach die Verkörperung der menschlichen Persönlichkeit?«

Jetzt geschah etwas Unerwartetes. B.H., der wortlos stumpf auf dem Trottoir roulant neben mir einherfuhr, richtete sich mit einem Ruck auf, ballte die Fäuste, etwas rasselte in ihm wie ein Uhrwerk. Er nahm alle Willenskraft zusammen und mischte sich ins Gespräch, um zu zeigen, daß er noch nicht verloren war:

»Thomas von Aquin lehrt«, sagte er Silbe für Silbe, »daß die Persönlichkeit beginnt, wenn das Embryo nach der vegetativen und animalischen seine dritte Seele erhält, die rationale ...«

»Sieh da, unserm gelehrten Freund geht es besser«, erstaunte freudig der Animator. »Badediener, einen andern Schluck dem Herrn, obwohl St. Thomas unrecht hat. Das erste und das letzte, was die menschliche Persönlichkeit ausmacht, ist das Herz. Unglaublich, aber wahr, das Herz.«

»Soll das heißen, Animator«, fragte ich, »daß mit den ersten unregelmäßigen Herzschlägen das Individuum, die unaussprechliche Persönlichkeit, die Seele in das Embryo eingeht, noch lange vor Entstehung der niedrigsten Bewußtseinsformen und Organe?«

»Genau so wie die Seele mit den letzten unregelmäßigen Herzschlägen fort ist und nicht vorher ...«

»Ah, jetzt verstehe ich das Wort ›Blastocyst‹«, rief ich erleuchtet aus, »das Wort, das ich vorhin nicht verstanden habe. Blastocyst nennt man das Embryo, bevor es ein Herz hat ...«

»Das ist wirklich ein Sonntag für mich«, säuselte der Animator mit zufriedenem Lächeln.

»Und diese Blastocyste pflanzen Sie um«, triumphierte ich, »und es werden daraus Margueriten, ganze Margueritenfelder ...«

»Ich muß Sie um Diskretion bitten, Seigneur«, erschrak der Animator, »denn letzteres ist dem breiten Publikum nicht bekannt ...«

»Aber mir gefällt es ausgezeichnet. Ich finde es prächtig. Es ist ein Gedicht, und zwar von einem guten Urdichter, Ovid zum Beispiel. Die Menschheit, deren Abgeschiedene sich in blühende Margueriten verwandeln! Das gefällt mir besser als die klassischen Asphodelosblüten. Ich hoffe, diese Margueriten wachsen nicht in Glashäusern, sondern im Freien ...«

»Auch das erraten«, lächelte der Animator, »soferne man bei uns überhaupt sagen kann ›im Freien‹.«

»Und liegt dieses Freie noch innerhalb oder schon außerhalb des Wintergartens«, erkundigte ich mich mit gleichgültiger Stimme, wobei ich meine Augen schloß, damit keine unvorsichtigen Strahlen oder Wellen die Absicht hinter meiner Frage verrieten. Es war übertriebene Sorge. Hier unten im Hohlraum gab's keinen eisengrauen Rasen noch andere Stromleitungen von Gedanken- und Seelenregungen. Hier war das Ich mit allen seinen Tücken gut abgedichtet. Und so schien auch der Animator die Absicht hinter all meinen Fragen nicht bemerkt zu haben, denn er entgegnete offen:

»Vorläufig noch innerhalb der Mauern, Seigneur. Wir aber werden bald hinausrücken müssen vor die Tore, wenn es so weitergeht. Der Andrang ist ungeheuer. Die Leute sind alle so gierig nach dem letzten Glück ...«

»Die Margueritenfelder sind gewiß nicht Ihre einzige Einrichtung plein air«, tastete ich mich mutiger vor, als wüßte ich bereits Verschiedenes. Er sah mich von der Seite an:

»Man hat Ihnen gewiß etwas gesteckt, Seigneur, von den Ammen etwa ...« Und er drehte sich nach den beiden Badedienern um und fragte inquisitorisch: »Hat man Seigneur etwas vom Ammenhügel gesteckt?«

Ehe die beiden Weißbekittelten mit überstürztem Eifer die Frage noch verneinen konnten, kam ich zuvor:

»Die Herren sind die Verschwiegenheit selbst. Sie haben uns nicht einmal etwas vom retrogenetischen Humus gesteckt, sondern uns mit einem sogenannten Moorbad beschummelt ...«

»Das ist auch ihre Pflicht und Schuldigkeit«, erklärte der Animator.

B.H. gab sich wieder einmal einen Ruck, ballte die Fäuste und sagte wie einer, der nur mühsam die Zunge bewegen kann:

»Ich habe von den Ammen gehört ... Oben ... Oben drohen die Mütter ihren kleinen Töchtern damit, daß man sie als Ammen in den Wintergarten schicken werde, wenn sie nicht brav sind ...«

»Empörend«, ereiferte sich der Animator, und seine Stimme gickste. »Alles, was man von oben zu hören bekommt, ist empörend. Ich werde die Herren sogleich zu Richtern anrufen. Sie werden mir attestieren, daß unsere Milchammen die schönsten, üppigsten, wohlgebautesten Frauen der Welt sind. Wir alle sind ja Minstrels und Muttersöhnchen und erschrecken nicht vor echten, ausgebildeten weiblichen Zellteilerinnen wie die Päderasten ...«

Bei diesen Worten gab der Animator dem laufenden Band, auf dem wir uns bewegten, unvermittelt ein schnelleres Tempo, so daß B.H. und ich beinahe hingepurzelt wären, aber wir fielen nur einander in die Arme:

»Munter, B.H.«, zischte ich meinem Freunde zu, »es wird alles gut werden.«

»Du störst mich«, lallte er wieder ganz schlaftrunken, »deine Vitalität ist ekelhaft.«

Azaleen, Kakteen, Wiegengräber, Glashäuser, Weißbekittelte, große Erdhaufen und Gott weiß was noch flitzten an uns vorbei, ehe unsere Fahrt wiederum halt machte. Wir erkannten an der Dämmerung, am leisen Nieseln vom hohen Wolkenhimmel und an der erträglicheren Temperatur, daß wir uns im Freien befanden. Vor uns erhob sich ein runder sanfter Hügel, eine Böschung und nicht viel mehr. Ob diese runde Kuppel die Form einer Frauenbrust hatte, das möge dahingestellt bleiben. Viel wichtiger war die herrliche Trauerweide, die größte, die ich je gesehn, welche gewissermaßen aus der Brustwarze des mattgrünen Hügels emporwuchs und ihn mit ihrem langen, silbrigen Haar weit umschleierte. Die jungen Frauenleiber, die auf dem Hügel lagerten, leuchteten beinahe weiß im Nachttag.

Der Animator hatte uns nicht belogen. Die Frauen unter der mächtigen, weitausladenden Trauerweide auf dem Hügel, den wir nun langsam und mit schweren Knien erstiegen, waren von großer Körperschönheit, für die sich jedoch nicht leicht die rechte Beschreibung finden läßt. Sie waren viel voller und üppiger und schienen auch höher gewachsen zu sein als die zierlichen astromentalen Mädchen. Ich wußte aber sofort, ohne daß ich erst des Animators Belehrung abwarten mußte, daß sie als zierliche astromentale Mädchen in den Wintergarten gekommen waren und sich erst hier unten zu solch anlockender Fülle und stattlicher Höhe entwickelt hatten. Auf ihren wohlgeformten Gesichtern – die meisten von ihnen trugen turbanartig gewickelte Kopftücher – lag aber eine schlampige Schwermut, eine ins Leere starrende Gleichgültigkeit, ein teilnahmsloses Vegetieren, das durch die matten Versuche zur Koketterie beim Anblick von uns Männern nur noch beklemmender hervortrat. Ich mußte an die Hurenhäuser arabischer Altstädte denken, obwohl der Vergleich irreführend ist, denn diese Frauen unter der Trauerweide hier erschienen unsern Augen als gepflegt und reizvoll.

Der Animator nahm mich zur Seite:

»Man begreift dort oben lange nicht mehr das Wunder der Fruchtbarkeit«, lispelte er. »Da sehen Sie nur diese Mädchen an. Sie bringen es alle fertig, ein unbefruchtetes Ei in ihrem Schoß selbständig bis zum sechsten Monat zu entwickeln, diese braven parthenogenetischen Zellteiler ...« Und er schnalzte anerkennend mit der Zunge.

Nach diesen Worten war es mir klar, daß die vierzig, fünfzig nackten Frauen, die in der Brutluft des Uterus terrae matris hier lagerten, die Ausgestoßenen, die Parias der astromentalen Zivilisation waren. Man hatte sie in den Wintergarten verschickt, wie man einst in Rußland die Verbrecher nach Sibirien in die Katorga verschickte. Ihr Verbrechen war freilich nichts anderes, als daß sie biologisch noch unter den »Kinderreichen« standen, jener Plebs, die zwei, drei, vier und in krassen Fällen auch fünf Sprößlinge großzog. Diese hier mochten noch darüber hinaus nicht nur in ihrer Fruchtbarkeit, sondern auch in ihren Trieben zügellos gewesen sein. Die Kultur (»Entfernung von Gott durch die Zeit« nach dem Großbischof) entledigte sich ihrer als einer Schande, von der man nicht sprach und deren man nicht einmal gedachte. Wie aus dem tragischen Schicksal dieser Mädchen wuchs die herrliche Trauerweide mit ihrem überhängenden Silbergezweig.

Das Leben im Hohlraum veränderte alle, die dem Wintergarten und seinem Zwecke dienten. Die Wärme, der Druck, die chemische Zusammensetzung der Luft, des Wassers und unbekannte Gründe sonst hatten auch aus den ausgestoßenen Mädchen das gemacht, was sie waren, eben diese »Milchammen«. Da lagerten sie und räkelten sich, nichts als träges, üppiges, abundantes Wuchern. Und dennoch, obwohl der Hügel der Trauerweide gewiß den alleräußersten Gegensatz zum Rosengarten der Jungfrau bildete, erfüllte mich auch diese Seite des Weiblichen für einen Augenblick mit ehrfürchtiger Scheu; eine ehrfürchtige Scheu, die dicht an der Grenze des Ekels lag.

Ein Teil der Frauen schlief mit halboffenem Mund. Andere häkelten oder strickten mit farbigem Garn an großen, sinnlosen, schnell wachsenden Handarbeiten. Es sah so aus, als ob sie das innere Geschäft der Zellteilung nach außen verlegt hätten und als ob weibliche Handarbeit überhaupt nichts anderes sei als Herstellung von parthenogenetischem Gewebe in Garn oder Seide.

»Nur Mut, die Herren, nur Mut«, hörte ich hinter uns den Animator uns animieren.

Ich trat ungeschickt wie ein Schuljunge auf eine der Üppigsten zu, verbeugte mich und sagte ganz lächerlicherweise: »Wie steht das werte Befinden, meine Allerschönste?«

Das Mädchen sah mich aus völlig leeren Augen an, spitzte ihre Lippen mechanisch zu einem kußlichen Kreis und lächelte schwachsinnig. Ob sie mich hören konnte, weiß ich nicht. Daß sie kein Wort verstand, das wußte ich sofort.

»Reden dürfen Sie nicht mit ihnen, Seigneur, wo denken Sie hin«, amüsierte sich der Animator. »Zur Konversation sind unsre süßen Damen nicht bestimmt. Ist das nicht eine prächtige Erleichterung?«

Und seine Stimme senkte sich wie die eines Voyeurs:

»Tätscheln Sie doch das Mädchen, das hat sie gern. Hat sie nicht herrliche Brüste und Backen?«

Ich stand steif und regungslos. Hinter mir hörte ich, wie der Animator in die Hände klatschte.

Das Mädchen streckte mir ihre Arme entgegen. Sie schien zu bitten, daß ich ihr aufhelfe. Das tat ich auch. Sie zog sich erstaunlich leicht an meinen Händen empor, denn sie war sehr groß und voll. Kaum stand sie auf ihren Füßen, als sie sich mit kleinen Tanzschritten vor mir hin und herzudrehen begann wie ein Mannequin, nein, wie ein Automat aus prächtig blühendem Fleisch. Sie atmete dabei merkwürdig schwer. Ich muß gestehn, daß die Gestalt des Mädchens, die sich näher drängte, auf mich immer mehr Anziehung ausübte, die durch das Erbarmen, das ich zugleich fühlte, in peinlicher Weise verschärft wurde. Die Gegenwart des Animators aber machte mich kalt und bewegungslos. Ich wandte nach einer Weile mit einem bösen Ruck mein Gesicht weg.

Mehrere der Frauen, weiter oben um den verkrüppelten Stamm der Trauerweide, hielten Säuglinge an der Brust und nährten sie. Sie preßten, wie junge Mütter es zu tun pflegen, die Brustwarze zwischen Zeige- und Mittelfinger, um es den Babies leichter zu machen. Diese Babies aber waren keine Säuglinge, sondern Rückentwickelte. Sie waren alte, verschrumpelte Wesen wie der liebe Herr Io-Solip vorhin. Sie waren mit einem Worte Tote. Die Ammen des Wintergartens nährten die Toten mit ihrer Milch.

Man brachte ihnen ohne Zweifel die schweren Fälle, bei denen es haperte und die einzugehen drohten, ehe sie den Status der Leibesfrucht wieder erreicht hatten. Die süße Milch der Ammen sollte ihnen aufhelfen ...

Ich schloß die Augen, um dieses Bild, diese Vision nicht länger sehen zu müssen. Hinter mir hörte ich die Stimme des Animators:

»Über dieses Vergnügen können die Herren immer verfügen. Der Wintergarten ist ein Ort der Lust.«

»Ich möchte die Margueritenfelder sehen«, sagte ich.

»Dorthin sind's nur wenige Schritte«, sagte er.

Als wir uns zum Gehen wandten und die Böschung hinabstiegen, war ich der letzte. Ich drehte mich noch einmal nach dem Ammenhügel um. Da sah ich, wie eine der jungen Frauen auf mich zulief. Es war dieselbe, die vorhin um mich ein wenig getanzt hatte. Sie reichte mir nun mit jeder Hand ein Geschenk dar. Es war ein großer, purpurroter Garnglobus und eine von jenen sinnlosen Handarbeiten in tropischem Giftgrün. Ich verbarg beide Gaben in meinem Frack. Über das leere Gesicht des Mädchens liefen Tränen.


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