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Fünfzehntes Kapitel

Worin nach einem Gang durch die Lamaserien der Sternwanderer, Verwunderer und Fremdfühler die Djebelepisode in der Zelle des Hochschwebenden endet, der mich mit der wahren Gestalt des Universums und mit dem wichtigsten Augenblick meines früheren Lebens bekannt macht.

 

Der Lehrer hatte B.H. und mir ein chronosophisches Ehrenzeugnis überreicht, je ein reichverziertes Kärtchen, auf dem uns einige Millionen Raumkilometer, mehrere Raumjahrzehnte, die Besichtigung von Johannes Evangelist und Apostel Petrus, der glücklich überstandene Aufenthalt im Innern eines Sauerstoffunikels mit den dazugehörigen Minusmaßen, sowie eine ausgezeichnete Konduite im makro- und mikrokosmischen Kometenturnen gutgeschrieben wurde. Obwohl mehr einem Kontokorrent als einem Schulzeugnis gleichend, war es doch das ehrendste Dokument dieser Art, das ich jemals erworben hatte. Was hilft mir aber das beste Zeugnis, wenn ich es nicht vorweisen kann? Es hilft mir nicht mehr und nicht weniger als die violette Handgelenkschleife, diese ebenso hohe wie unverdiente Auszeichnung. Wichtiger aber als das schriftlich ausgefertigte Dokument unseres lieben Pädagogen erscheint mir die Tatsache, daß ich mich nach all diesen während einer kurzen Unterrichtsstunde körperlich zurückgelegten Zeit- und Raumstrecken gar nicht abgespannt und zerschlagen fühlte, sondern frischer als vorher, wissensgieriger als je und geradezu transparent von meiner heimlichen Begeisterung. Ich hatte mehr als einen Blick getan in den interplanetaren und sogar in den interatomaren Weltraum. Einen Blick in den Weltraum tun, das konnte auch zu meiner Jugendzeit der abendliche Spaziergänger, der am Stadtpark vorüberkam, wo ein älterer, fröstelnder Mann, der ein schäbiges Fernrohr aufgeschlagen hatte, diesen Blick für einige Groschen feilbot; und zwar offerierte der meist allzu dünn bemäntelte Sternhändler am liebsten den Jupiter, weil diesen Giganten selbst das schlechteste Rohr als imposante Scheibe mit vier Monden enthüllte. Ich aber hatte mit meinem plattgedrückten Hintern auf den Plastilinwogen des rostroten Ödmoors gesessen, den sicheren Untergang vor Augen, ebenso wie ich auf dem geschmolzenen Bleimeer des Merkur in die reibungslose Höhe gesprungen war wie ein Gummiball und das einzige Mal das göttlich großmütige Verschwenderleben unserer Sonne nicht nur mit meinem Geiste, sondern mit meinen durch stumpfsilberne Wolken geschützten Augen begreifen durfte. Wie das alles zustandegekommen war, das habe ich in sukzessiver und pragmatischer Art beschrieben. Ist ein Reiseschriftsteller zu einer anderen und gründlicheren Methode verpflichtet? Nein, sage ich, und immer wieder nein. Wir wissen schon alle, daß der geistvolle und scharfsinnige Leser verschiedene Erklärungen für den kristallenen Wunderbau des Djebels bereit hält und verständnisvoll nachdenklich von der nur halb gelesenen Seite aufblickt, wenn er an die televisionäre Ikonographie denkt, die einen Himmelskörper dort oben ohne weiteres abtragen kann, um ihn hier unten in beliebiger Größe wieder aufzustellen. Ich selbst habe all diesen Einfällen des Argwohns und der Grübelei an den gebührenden Stellen meiner Erzählung Ausdruck verliehen, dort nämlich, wo sie während des Erlebnisses selbst mich bedrängt hatten.

Da wir nun unser Raumtauchergewand abtaten und säuberlich auf die Schulpritschen legten, so möchte wohl manch einer gern den hauchdünnen, wachstuchartigen Stoff darauf untersuchen, ob nicht etwa ein rostroter Moorspritzer oder ein erstarrter Bleipatzen daran kleben geblieben war. Ich leugne diese Möglichkeit keineswegs. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß wir Spuren planetaren Stoffes mitgebracht haben. Ich sehe jedem Neugierigen in die Augen und frage ihn leise: »Ist es nicht wichtiger, daß ich echten Engeln begegnet bin, Compère? Und echte Engel lassen sich auf der lichtempfindlichen Platte nicht festhalten.« Darauf wird mein hypothetischer Unterredner vielleicht brummen, daß er die Begegnung mit Engeln in den Intermundien weder für wichtig noch für einen wissenschaftlichen Gewinn halte. Ich aber werde unerschrocken darauf antworten: »Sehen wir von der geistigen und metaphysischen Bedeutung jener Melangeloi und Leukangeloi völlig ab. Bleiben wir unbeirrbar bei der Naturwissenschaft. Halten Sie etwa für keinen naturwissenschaftlichen Gewinn die völlig neue Erfahrung, daß es eine transzendentale Materie gibt, die jenseits der Elektronen und doch diesseits des reinen Geistes liegt, eine Brücken-Substanz gleichsam, die allverkleidungsfähig den leersten Abgrund der Schöpfung ausfüllt? Dehnt sich nicht gerade dort das Reich aus, wo wir Toten leben, das heißt aufgehoben sind, und von wo man mich selbst, ohne an die Folgen zu denken, weggelockt hat?«

Es ist selbstverständlich, daß ich trotz obiger imaginärer Unterhaltung das Wort Engel weder gegenüber B.H. noch gegenüber irgend jemandem andern gebrauchte. Mir schwante, daß noch so manche Epoche am Djebel würde vorbeifliegen müssen, damit das Dasein von Engeln und das Wesen der transzendentalen Materie erkannt und ergründet werde. Daß ich mich in dieser pessimistischen Annahme getäuscht hatte, sollte ich erst in der Zelle des Hochschwebenden erfahren.

Doch nicht nur mich, der ich die Engel im Gemüte trug, erfüllte eine unbekannte transparente Hochstimmung, auch meines Freundes, des Wiedergeborenen, Gesicht glühte, und seine dunklen Augen leuchteten tiefinnerlich, als der Lehrer ihn von der Kopfkugel endlich befreit hatte. B.H. dankte ihm mit folgenden Worten:

»Es ist mir, als hätte ich zu allen meinen anderen Leben noch zwei Leben mehr gelebt, Herr Lehrer.«

Da ein oft Wiedergeborener also über eine kurze Schulstunde sprach, so war es ein wirkliches Kompliment. Unser guter Pädagoge freute sich auch sichtlich und murmelte etwas bescheiden Abwehrendes über »Propädeutik«, über seine »unzureichenden Kräfte« und über die »allzu harmlose Aufgabe«, worauf ich eilig versicherte, daß wir, sollten wir noch einmal gewürdigt werden, ins Graue Neutrum aufzufahren, dies unter keines anderen Lehrers Leitung tun würden als unter der seinigen. Während ich dem offensichtlich erfreuten Manne diese Ehre bezeugte, hatte ich dank meiner gehobenen Stimmung bereits vergessen, daß ich unter seiner Leitung auf dem Apostel Petrus einen veritablen Schiffbruch erlitten hatte und ohne die Hilfe von Melangeloi kaum in die Klasse zurückgefunden hätte. Aber überstandene Gefahren sind noch wesenloser als vergangene Vergnügungen. Der Lehrer, mit dem B.H. und ich abseits standen, machte, der Zeitsitte gemäß, kurze, steife Verbeugungen, rieb sich die Hände und bat uns, ihn unbedingt bald wieder zu beehren. Der Kleine Weltraum oder das Niedere Intermundium stehe uns täglich von elf bis zwölf mit all seinen Himmelskörpern zur Verfügung. Er selbst, obwohl nur ein ganz bescheidener Elementarlehrer, habe für uns noch ganz andere Überraschungen übrig als das ABC von Maria Magdalena, Johannes Evangelist und Apostel Petrus. Da sei gleich Petri Nachbar, der Apostel Paulus oder Saturn, eine hochgeistige, seelenvolle, komplizierte, sehr energische und doch leicht epileptische Planetpersönlichkeit, zu deren ganz oberflächlichen Erforschung er, der Lehrer, mehr als hundert Schulstunden aufzuwenden pflege.

Während wir uns so unterhielten, und der Pädagoge mir und B.H. auch noch den Besuch der ganz entfernten Außenplaneten offerierte, tollten die Schulbuben im Schulzimmer herum, wie sie es seit eh und je getan haben. Und nur Io-Knirps schrieb mit Kreide in denselben extensiven Lettern, zu denen der Uranograph die Sterne am Himmel zusammenhüpfen ließ, reihenweise auf die Schultafel:

»Ich soll nicht nach Sternen haschen.« Während er angelegentlich schrieb, trat ihm die spitze rote Zunge zwischen den Lippen hervor. Ich wußte nicht, warum mich das ruhige Gesicht dieses Knaben mit tiefer Sympathie erfüllte. Da läutete die Pausenglocke. (Siehe da, nichts hatte sich verändert, nur daß man persönlich unter Sternen herumstrolchte anstatt unter den Hexametern Homers oder Vergils.) Die Zeit war gekommen, wo die Klasse, der Schulvorschrift gemäß, ein geiststärkendes Bad im Phosphorpfuhl zu nehmen hatte. Der gute Lehrer beruhigte mich, es sei ein völlig trockenes Bad und forderte uns auf, mitzuhalten. B.H. aber wurde im selben Augenblicke von Io-Fagòr angerufen, der uns berichtete, daß der Fremdenführer des Zeitalters sich eigens in den Djebel begeben habe, um mich durch die Lamaserien zu geleiten, und, sollte es das Glück wollen, dem Hochschwebenden unter den Silberspinnen vorzuführen.

 

Und da bin ich nun wieder einmal bei der Crux aller Reiseschriftstellerei angelangt, bei der Beschreibung. Diesmal aber gar ist die Beschreibung noch schwieriger zu bewältigen als gewöhnlich, da es sich um die Beschreibung einer Besichtigung handelt. Gibt es etwas Öderes, frage ich mich selbst, als eine Besichtigung? Für mich nicht, muß ich antworten, wenn ich ehrlich sein will. Jedesmal, wenn ich irgendwo zu einer Karawane von Besichtigern gehört habe, in den Katakomben von Rom, in Pompeji, im Tempel von Karnak, auf der Akropolis von Baalbek, in der Kathedrale von Chartres und so weiter, jedesmal habe ich mich fortgestohlen, bin zurückgeblieben, um der Stimme des Erklärers und dem stumpfen Gleichschritt der müde nachtrabenden Herde zu entgehen, auf die Gefahr hin, daß ich noch weniger von der Sehenswürdigkeit verstand als sie. Noch viel unwilliger aber war ich, die Beschreibung einer Besichtigung nachzulesen, im Baedeker etwa. Die Beschreibung des zu Besichtigenden, das ist wie der Schatten eines Schattens, das ist wie der Inbegriff des Kleingedruckten, das man ebensogut lesen wie auslassen kann, ohne daß es einem fehlt. – Ich setze nun den Fall, daß einige meiner Leser besonders gutmütig sind, was, wie ich genau weiß, eine ganz und gar unerlaubte Unterstellung ist. Leser sind nicht gutmütig. Sie sind und sollen sein höchst unerbittliche Gläubiger ihres Autors. Sie haben auf Treu und Glauben für ein Buch ebensoviel Geld ausgegeben wie etwa für eine (mäßige) Mahlzeit in einem (mäßigen) Restaurant, die Flasche Wein nicht mit eingerechnet. Sie haben damit das volle Recht erworben, von ihrem geistigen Traiteur, dem Autor, das Voll-Entsprechende auf seinem Gebiete zu fordern. Da das Geistig-Nährende in unserer Welt einen weit billigeren Marktpreis besitzt als das physische Nahrungsmittel, so haben die Leser vom Autor zu fordern: Mehrere Tages- oder Abendstunden intensiver Spannung, Unterhaltung feinerer Art, deren man sich nachher nicht zu schämen braucht, echte seelische Erschütterung, lautes und leises Lachen, dann und wann auch durch Tränen gewürzt, leichteste Verständlichkeit, die gute Möglichkeit, sich in die geschilderten Gestalten ohne Mühe einzufühlen, rasches Tempo der dargestellten Geschehnisse und vor allem möglichst wenig Beschreibungen. Es fällt mir nicht ein, gegen diese berechtigten Forderungen des Lesers aufzubegehren. Sie sind und bleiben das Gesetz, das ich und jeder andere Autor zu erfüllen hat. Dennoch supponiere ich hier einen gutmütigen, oder besser gesagt, einen verständnisvollen, einen toleranten Leser, der sich gewisser Schwierigkeiten meines Stoffes bewußt ist und ermunternd zu mir spricht:

»Unsere chronosophische Übungsstunde im planetaren Raum war schließlich auch nichts anderes als eine Besichtigung. Ich hätte mir zwar eher den Saturn ausgesucht als den Jupiter – dem Saturnring gilt nämlich von Jugend an meine astronomische Neugier – aber ich habe doch einiges erfahren und gefühlt, was außerhalb des üblichen Vorstellungskreises liegt, und wovon man in gewöhnlichen Romanen nichts zu hören bekommt ...«

Als unsicherer, unruhevoller Autor stürze ich mich natürlich auf diese ermunternden Worte des gutmütigen Lesers, der leider nur meine eigene Erfindung ist, und erwidere:

»Sie werden auch bei der Besichtigung des Djebels nur Menschen und Phänomenen begegnen, die außerhalb Ihres üblichen Vorstellungskreises liegen und dergleichen in keinem Roman zu finden sind, der je geschrieben wurde. Wenn ich Ihnen die Erfahrungen und Gefühle, die Erschütterungen und Schauer der großen, interstellaren, ja der nebularen Räume nicht unmittelbar zuteil werden lassen kann, ohne zu lügen, so werden Sie doch jene Menschen sehen, die in ihrem kurzen Erdenleben diese Erschütterungen und Schauer kennengelernt haben und bis an die Grenzen der fernsten Himmel gelangt sind, von denen gerade noch eine blasse Strahlenspur die feinsten Instrumente trifft, und vielleicht nicht einmal diese. Sie werden dem kosmischen Menschen einer sehr fernen Zukunft gegenüberstehen, der sich zum Herrn über Zeit und Raum aufgeworfen hat und für den Nähe und Ferne, Augenblick und Ewigkeit fast schon ein und dasselbe sind wie für den Schöpfer. Sie werden die merkwürdigen Folgen sehen, welche die unaufhörliche Hochspannung an Körper und Seele des vollkommenen kosmischen Menschen hervorbringt. Sie werden schließlich die Lösung der Welträtsel aus dem Munde des Hochschwebenden erfahren, eine Lösung, die noch keinem Sterblichen anvertraut worden ist. Und auch sie wird in dem Preis einer mäßigen Mahlzeit eingeschlossen sein. Zu all dem verspreche ich Ihnen, Sie viel schneller durch die Erkenntnisräume des Djebel zu lenken, als uns der unerbittlich gründliche Fremdenführer des Zeitalters gelenkt hat. Denn mich selbst drängt es bereits, den Djebel zu verlassen und zurückzukehren zu unsern Hausfreunden, zu Lala, zu Io-Fagòr, zu Io-Do, zur Ahnfrau und in die mentale Welt, wo sich inzwischen eine Katastrophe vorbereitet, wie ich dunkel fühle ...«

Der Djebel, von außen gesehn ein großes Gebirge, ein mächtiger Alpenkomplex, war innen eine noch hundertmal mächtigere und reichere Welt, zu deren wirklicher geistiger Durchdringung die Hingabe eines ganzen Lebens kaum gereicht hätte. Eins aber sei sofort berichtet: Die Fortbewegung durch die gewaltigen Räumlichkeiten des künstlichen Berges, die Überwindung seiner beträchtlichen Distanzen nahm ziemlich wenig Zeit in Anspruch. Wie nämlich schon bei uns, die wir ein sehr frühes Altertum gerade durchleben, in guten Hospitälern die Krankensäle »temperiert«, das heißt auf demselben Wärmegrad gehalten sind, so herrschte auf den Korridoren, Laufgängen, Verbindungswegen, schiefen Ebenen und Trottoirs roulants des Djebels eine »temperierte Gravitation«. Das soll heißen, man konnte die irdische Schwerkraft innerhalb des Djebelgebiets nach Belieben hoch oder niedrig schrauben. (Als wir auf den Schulpritschen reibungslos labyrinthisch im Finstern umherfuhren, hatten wir, ohne es zu wissen, die erste Bekanntschaft mit der regulierbaren Gravitation gemacht.) Doch nicht nur auf den Verbindungswegen herrschte diese temperierte, oder besser gesagt modifizierte Gravitation, sondern auch im Innern der einzelnen Lamaserien, zum Beispiel in jener der Sternwanderer, der Astropathetiker, die wir soeben durcheilten.

Die Sternwanderschaft bedeutete die erste höhere Stufe des chronosophischen Studiums, wenn überhaupt der Begriff des Studiums hier verwendet werden darf. Alles im mentalen Zeitalter, und vorzüglich im Djebel, war ja so verschieden von unsern einstigen, das heißt jetzigen Lebensinhalten, daß ich die Analogien in der Form mit Bewußtsein in den Vordergrund dränge, damit der Unterschied im Wesen um so leichter zugänglich werde. Die große Masse der Sternwanderer glich demnach unseren Studenten, oder genauer gesagt, den Seminaristen eines geistlichen Kollegiums, oder noch exakter, den jugendlichen Mönchen jener buddhistischen Riesenklöster in den tibetanischen Hochgebirgen, deren B.H. auch sogleich Erwähnung tat, weshalb ich schon von Anfang an das Wort Lamaserie gewählt habe, um den richtigen Eindruck hervorzurufen. Wie die Kinder der chronosophischen Elementarschule kometenturnten und im Niederen Intermundium sich herumtummelten, so war den Studenten der Astropathetik der »Große Weltraum ersten Grades« zugewiesen, unter welchem Terminus technicus jenes kosmische Reich verstanden wird, zu dem auch unser Sonnensystem gehört und das der Volksmund die »Milchstraße« nennt. Dies alles sagt und schreibt sich leicht hin, aber der Erfahrungsstoff, den die Sternwanderer zu bewältigen hatten, war schier unermeßlich und die von der Studienordnung geforderte Anstrengung übermenschlich, was der allgemeinen mentalen Bequemlichkeit aufs rühmlichste widersprach. Wenn zum Beispiel ein paar kurze Unterrichtsstunden unseres braven, Ernst und Feierlichkeit fordernden Unterlehrers vollauf genügten, unser ganzes Planetensystem nicht nur mit Augen zu schauen, sondern auch mit Füßen zu treten, so hätten mittels desselben chronoelastischen Übungsgrades Jahrtausende nicht hingereicht, um in den obgenannten intergalaktischen Weltraum auch nur flüchtig die Nase zu stecken. Wenn der Besuch des Apostel Petrus vergleichsweise nur ein Zimmerschrittchen vom Bett zum Tisch bedeutete, so hätte man im Verhältnis dazu mehrmals die Reise um die ganze Erde zurücklegen müssen, um irgendein besseres Lichtgestirn der Milchstraße zu erreichen. Meine eigenen Erlebnisse im Niederen Intermundium und zugleich das Wissen um diese kaum faßlichen Distanz-Unterschiede, die der Fremdenführer mit seiner histrionischen Heiserkeit bis in die Dezimalstellen aufzählte, ließen mich erschrecken vor Mut und Leistung, welche von der astropathetischen Jugend gefordert wurde. Wenn ich nicht irre, so bewegt sich das uns am nächsten benachbarte Lichtgestirn, Alpha Prophetae Jesaja (ehemals Alpha Centauri) in einer Bahn, die vier Dreizehntel Lichtjahre entfernt liegt, was nach kosmischem Fahrplan nur eine lächerliche Bagatelle von Abstand ist. Abseitigere Individualitäten derselben Milchstraße nämlich bewegen sich in Entfernungen von hunderttausend und Millionen Lichtjahren. Nicht um den geistvollen Leser zu beleidigen, sondern nur um ihn zu erinnern, erwähne ich hier, daß ein Lichtjahr genau sovielmal dreihunderttausend Kilometer oder einhundertsechsundachtzigtausend Meilen mißt als ein Jahr Sekunden besitzt. Dies sei auch noch deshalb erwähnt, damit der physische und psychische Lehrstoff der astropathetischen Jahrgänge im rechten Licht stehe.

Ich will vom körperlichen, vom gymnastischen Lehrstoff vorerst sprechen, weil von der seit vielen Jahrhunderten erprobten Studienordnung für diesen viel mehr Zeit aufgewendet wurde als für die geistige Unterweisung. Genauer gesagt, die Chronosophie lehrte, daß die Wahrheit den Weg von außen nach innen nehme, von der Erfahrung zum Urteil, von der Empfindung zur Erkenntnis, von der Oberfläche zur Mitte, vom Körper zum Geist. Nun, diese Lehre war alles eher als neu, und B.H. hatte, wie er einwarf, schon im zwanzigsten Jahrhundert die Bekanntschaft jener altehrwürdigen Yoga gemacht, deren praktische Mystik auf diesem Prinzip begründet war. Dennoch konnte auch er Staunen und Bewundern nicht unterdrücken, als wir die oberen, die Gipfelräume, gewissermaßen die Mansarden des Djebel durchflogen (sie beherbergten die im Range niedrigsten Klassen) und Zeugen der astropathetischen Gymnastik wurden. Die »Mansarden« bestanden aus einer unabsehbaren Flucht von weitläufigen Räumlichkeiten, von denen die meisten im geisterhaften Schimmer zuerst gesammelten und dann zerlegten Sternenlichtes dahindämmerten. In jeder dieser Erkenntnishallen, Säle, Gemächer, Zellen war eine größere oder kleinere Seminaristengruppe unter Führung eines Meisters damit beschäftigt, durch bestimmte Übungen den eigenen Körper der Wesenheit eines Lichtgestirns oder eines Sternbildes anzupassen. Es war ein ganz wundersames Gefühl, einen Raum zum Beispiel zu erblicken, der mit keinem einzigen Strahl irdischen Lichtes erfüllt war, sondern mit dem unaussprechlich schwachen, dunkelfliederfarbenen Hauch, der in dem Lichtgestirn Beteigeuze (Alpha Orionis), einer der ungeheuren rötlichen Welten des Intermundiums Ersten Grades, seinen Ursprung hatte. Betreten durften wir die einzelnen Sternräume schon deshalb nicht, weil in manchen die Gravitation zu Übungszwecken so hochgespannt war, daß sie uns Unbelehrte und Untrainierte zu Boden geschleudert und erschlagen hätte. Wir flogen also, von einer geminderten Schwerkraft beschwingt, einen Laufgang, eine schiefe Ebene dahin, die zwischen durchsichtigen Wänden entlang führte, und machten dann und wann halt, wenn der Fremdenführer sich entschloß, eine der astrogymnastischen Übungen unserer Betrachtung anzuempfehlen. Ich konnte natürlich den Zweck und Sinn der jeweiligen Übung nicht begreifen, und auch die Erklärungen und Deutungen des Fremdenführers hätten mir nicht zum rechten Verständnis geholfen, da mir jede notwendige Voraussetzung fehlte. Der spiegelköpfige Ägypter Arbaces aus »den letzten Tagen von Pompeji« schwieg aber glücklicherweise. Wozu auch war es nötig, den Sinn der Übung analytisch zu erfassen? Vermittelte nicht der bloße Anblick geheimnisvollen Sinn genug, manchmal in der Form ekstatischer Schönheit, manchmal in der Form grotesker Verrenkung? Da lag zum Beispiel ein wohlgebauter Jüngling auf dem spiegelglatten Boden und streckte langsam, langsam seinen nackten Körper immer länger und länger, so daß nicht nur ich allein vor Angst aufschrie. Als der Astrogymnastiker seinen Leib zu fünfzehn Fuß Länge ungefähr ausgedehnt hatte, ohne daß seine Sehnen rissen und seine Knochen brachen, schnellte er in seine frühere Größe und Körperform zurück. Und dies geschah nicht im Grauen Neutrum der völligen Schwerelosigkeit wie das Kometenturnen der Kinder, sondern unter einer bedeutend erhöhten Schwerkraft, das heißt auch Schwierigkeit. Das Lichtgestirn, dem er diente, hatten die Araber einst Unuk-al-Hay genannt, Schlangenhals. – Anderen Ortes sah ich einen jungen Menschen, der nichts tat als auf Zehenspitzen, mit tief nach hinten geworfenem Haupte in der weltumarmenden Haltung eines Gekreuzigten dazustehen oder dazuschweben. Hier forderte das betreffende Lichtgestirn (Albireo war der Name) von seinem Verehrer und Erforscher nichts anderes als Ausdruck, und zwar den Ausdruck ekstatischer Allsympathie und Opferhingabe.

»Dies wird ein herrlicher Sternwanderer werden«, sagte der Fremdenführer auf den Jüngling weisend, »denn schon entwickelt sich die Schönheit seiner Körperhaltung zur Schönheit seiner Seele.«

Im Nebenraum herrschte die rötliche Trübnis eines anderen Gestirns, wahrscheinlich, nach der Farbe zu schließen, eines tausendmal größeren als es unsere Sonne ist, eines Gestirns, dessen dämonischer Charakter die Studiengruppe, die sich seiner Erforschung widmete, zu ganz absonderlicher Astrogymnastik bewog. Es war Eltanin oder Caput Draconis, Drachenkopf. Ich sah zu meinem, anfangs mißbehaglichen, Erstaunen mehrere schöne Jünglingskörper in etwas verwandelt, das heißt verschlungen und zusammengeknüllt, was ich nicht anders nennen kann als ein »Schlangennest«. Jeder dieser prächtigen Jugendleiber bildete einen elastischen und scheinbar unentwirrbaren Knäuel, aus welchem viel mehr schlüpfrige Glieder hervorzuzüngeln oder hervorzugaukeln schienen, als er in Wirklichkeit besaß. In diesem Raume, erklärte uns der Fremdenführer, herrschte die höchste Übungsgravitation der ganzen Lamaserie. Nicht weit davon entfernt aber zeigte er uns einen Riesensaal, wo die Übungsgravitation auf den niedrigsten Grad herabgesetzt war. Hier im bläulich hellen, gesammelten Strahlenschein einer ganzen Traube von Lichtgestirnen auf dem Gipfel ihrer Lebenstätigkeit bildeten Hunderte von nackten Jünglingskörpern – jeder einzelne ein kosmisches Tänzergenie gleich unserm Knirps – alle möglichen Wundergebäude, die freilich so schnell von einem ins andere übergingen, daß mein Auge sie kaum erfassen konnte, obwohl sie mich von ferne an phantastische Varieténummern und Pantomimen gemahnten. Jetzt bildeten die leuchtenden, durcheinander schwingenden Körper eine Art von gotischer Kathedrale mit zwei hochragenden Türmen, einer sich wie ein Rad drehenden Rose überm Portal und vielen nickenden Wasserspeiern, – im nächsten Augenblick hatte sich die Kathedrale in ein Fabeltier verwandelt mit sieben Drachenköpfen und zwölf langen Schweifen aus weißen Menschenleibern, die durch die Luft sausten und sich um die Grundgestalt ringelten, und plötzlich war das Ganze eine tote, starre Pyramide. Nichts aber an diesen Ereignissen war Schauspiel, geplant, berechnet und geprobt für bewundernde Augen. Diese Evolutionen dienten einem einzigen Zwecke, die menschliche Persönlichkeit unabhängig von der Erde zu machen, über ihre planetare und solare Bedingtheit hoch hinauszureißen und in alterprobten (wenn auch für uns unbegreiflichen) Formsymbolen sie in Beziehung zu setzen zu den fremdesten Sternwesenheiten.

Die Überwindung der körperlichen Zeit- und Raumschranke war nur der erste Zweck der chronosophischen Wissenschaft, doch nicht ihr zweiter, dritter, hundertster und letzter. Es ging um mehr. Es ging um einen über alle Faßbarkeit verwegenen Versuch, die Erfahrungsinhalte des Planetenhäftlings Mensch zu bereichern und seine Erlebnisgrenzen bis an den Rand der Unendlichkeit auszudehnen. Immer wieder war ich in dieser Stunde gezwungen, an den Großbischof zu denken. Versuchte der mentale Mensch wirklich, sich an Gottes Stelle zu setzen, indem er, der das All früher in sich selbst getragen hatte, sich selbst nun ins All trug? War der Djebel die modernste menschliche Ausprägung des »Baumes der Erkenntnis«, wie der »Turm zu Babel« die älteste war?

Wir begegneten auf unserm flugschnellen und flugleichten Wege durch die Korridore der astropathetischen Lamaserie vielen Gruppen von Seminaristen, die Pause hatten, sich zu ihren einsamen Mahlzeiten begaben oder aus andern Gründen unterwegs waren. Ich sah in ihnen junge Leute der mentalen Welt, vielleicht noch um einen Grad schöner als der Durchschnitt auf dem Geodrom, aber sonst durch nichts für mein Auge unterschieden. Mir fiel auf, daß diese jungen Sternwanderer fröhlich waren und durchaus nicht den Eindruck von Zerstreuten, Trunkenen oder Träumenden machten, obwohl sie doch unter der ständigen Hypnose des Großen Weltraums ersten Grades standen. Aber wie für die Knaben meiner Elementarklasse die ganze Chronosophie mitsamt ihrem Kometenturnen teils lästiger Unterricht, teils praktischer Spaß war, so erlebten auch diese Jünglinge hier die kühnsten aller Wissenschaften vorerst noch mehr von ihrem technischen als von ihrem geistigen Wesen. Noch nahmen sie naiv als gegeben hin, was man sie lehrte. Noch fuhren sie mit stürmischer Kühnheit, als könne es nicht anders sein, durch die galaktischen Räume, und zwar mit Geschwindigkeiten, die nicht einmal der Lichtstrahl besitzt. Noch hatten sie Jahrzehnte vor sich, ehe die schweren Folgen der Chronosophie sich an ihnen offenbaren würden, die traurigen und die freudigen.

 

In der Lamaserie der Verwunderer, auch Thaumazonten genannt, welche im mittleren Teil, fast hätte ich gesagt in den mittleren Stockwerken des Djebel ihren Sitz hatten, zeigten sich vorerst die freudigen Folgen der Chronosophie. Wie der höhere Teil des stellaren Erkenntnisberges die strebende Jugend beherbergte, so bot er in seinem mittleren Teil, der rechten Entsprechung gemäß, dem kräftigen Mannesalter Unterkunft, welches sich in der mentalen Welt zwischen sechzig und einhundertzwanzig Jahren erstreckte. In der Zeit also, wo die Menschen draußen mit Fug und Recht ihre goldenen Kopfaufsätze trugen. Meine Frage, ob es keine Lamaserie für Frauen gäbe, bejahte der Fremdenführer. Da aber zum Gelingen der chronosophischen Bemühung strenge Askese, vor allem aber strengstes Zölibat die Voraussetzung war, durften Männer und Frauen einander nicht sehen und blieben mit peinlicher Strenge getrennt. Im übrigen brachten es die Frauen nur in den seltensten Fällen über die Anfangsgründe der Sternwanderschaft hinaus, wobei sie, wie's natürlich ist, der Wesenserkenntnis jener Lichtgestirne dienten, die weibliche Namen trugen.

Die Thaumazonten waren somit reife Männer, welche nun, wie man meinen sollte, die Früchte ihrer fünfzigjährigen astropathetischen Studienzeit ernteten. Diese Meinung aber ist nur zur Hälfte richtig. Ungleich dem wissenschaftlichen Studium in den Anfängen der Menschheit, endete der Lehrgang der Chronosophie nie und nimmer, das heißt, es kam niemals der Augenblick, wo der Chronosoph seine Schlußprüfung ablegte und nun als fertiger Forscher und Meister entlassen war. Jede abgelegte Prüfung, jedes bestandene Rigorosum machte ihn neuerlich zum Schüler, wenn auch auf höherer Stufe. So blieb eine demütige Gleichheit aller vor der unendlichen Aufgabe gewahrt. Selbst vom obersten Chronosophen, jener Persönlichkeit, die der Hochschwebende hieß (welcher Titel mich immer magischer anzog), behauptete unser Cicerone, daß er sich von Zeit zu Zeit einem Rigorosum unterwerfen müsse, bei welchem der kleinste Junge aus der Planetenklasse der Prüfer sei. So schloß der, welcher es am weitesten gebracht hatte, der Vollender, den chronosophischen Zirkel, indem er sich vor dem Beginner beugte.

In der Lamaserie der Verwunderer herrschte ein viel irdischeres Licht und Dunkel als in den astrogymnastischen Räumlichkeiten der Sternwanderer, wohin die tausendfältigen Prismen und Auffangsvorrichtungen der Djebelschroffen das Licht der einzelnen Gestirne herableiteten und auseinanderstrählten. Es kam daher, daß die Thaumazonten bereits mehr ein betrachtender als ein tätiger Stand waren. Die Älteren unter ihnen hatten in mehr als einhundertjähriger Arbeit ihren Körper und ihren Geist durchtrainiert und den Sternräumen angepaßt. Es geschah noch immer in regelmäßigen, aber immer größeren Abständen, daß sie »auffuhren«. Den Gegenstand ihrer intermundialen Besuche bildeten aber nicht nur die entfernteren Gegenden unserer Milchstraße, sondern die Thaumazonten waren die ersten, denen die Ehre zuteil wurde, jene unnennbaren Ozeane der Leere zu durchkreuzen, welche die Spiralnebel voneinander trennen, diese einzelnen Universa, aus denen das Universum besteht. Mir fehlte jede Vorstellung für das, was die Verwunderer dort oben erlebten. Es ließ sich nicht in gymnastischen Figuren ausdrücken, wie die Ballettänze der Sternwanderer sie darstellten. Es war ihre eigene Sache, und es hieß, daß sie selten darüber schrieben und noch seltener darüber sprachen. Eines nur war langsam durchgesickert und hatte die Laienwelt als Gerücht erreicht: Wenn die Grundgesetze und Grundbildungen jener Sternnebel auch dieselben sind wie die unseres eigenen Sternnebels der Milchstraße, so ist doch der »Ausdruck«, das »Genre«, der »Stil« oder, wenn man will die »Seele« jedes dieser Universa vom anderen grundverschieden. Nun, mich wundert's nicht. Und vielleicht wundert's ebensowenig den Leser, den ich jetzt schon meinen treuen Leser nennen darf, hat er doch erlebt, welche grundverschiedenen Charaktere sich in Apostel Petrus, Maria Magdalena und Johannes Evangelist offenbaren, und vergegenwärtigt er sich dazu die überherrliche Phönix- und Christusnatur unserer Sonne, wie sie ihm auf Johannes Evangelist entgegentrat.

Rüsteten sich die jugendlichen Astropathetiker unablässig zur Wanderschaft, und bedeutete für sie Rückkehr nichts anderes als Vorbereitung zu neuerlicher Auffahrt, so teilten die Thaumazonten ihr Leben bereits zwischen Wanderschaft und Rückkehr, wobei sich der Akzent von Jahr zu Jahr immer mehr auf das Wort »Rückkehr« zu verschieben begann. Diese Tatsache offenbarte sich klar in den völlig verschiedenen Lebens- und Arbeitsformen der mittleren Lamaserie.

Als wir die Korridore durchflogen, erblickten wir hier keine großen chronogymnastischen Übungssäle mehr, sondern eine schier unabsehbare Anzahl kleinerer Studios und Denkräume, in welchen die Verwunderer einzeln, paarweise oder in Gruppen von drei, vier bis sechs Männern der Betrachtung, der Forschung, der Unterredung hingegeben waren. Oh, wie treffend erschien mir jetzt die Bezeichnung »Verwunderer« für die Gesichter dieser Männer. Der jahrzehntelange Umgang mit den unerschöpflichen Individualitäten der Gestirne und Gestirnwelten, die tägliche Betrachtung der Schöpfungssubstanz in ihren Grundgebilden, die Addition unendlicher Zeit- und Raummengen zum eigenen Leben – manch einer der Verwunderer war in diesem Hinblick eine beträchtliche Zahl von Jahrmillionen alt – all das prägte seine gewaltige Spur dem menschlichen Habitus auf. Diese Männer konnten nicht wie die Gelehrten einer früheren rein intellektuellen Welt mit ihrem Schreibgerät, ihrem Mikroskop und ihren Eprouvetten auch ihren Geist fortschieben und als unbedeutende Spießbürger im Wirtshaus oder Club erscheinen, nein, jede einzelne Zelle ihres Leibes war imprägniert von den ungeheuren Erfahrungen. Da sahen wir einen zum Beispiel in seinem Studio auf und abgehen. Es war ein sehr schöner Mann. Er schüttelte langsam, aber unablässig den Kopf, so daß meine ehemaligen Zeitgenossen ihn ohne jeden Zweifel für einen Narren gehalten hätten. In Wirklichkeit war er aber ein Weiser hohen Ranges und im wahrsten Wortsinne ein »Verwunderer«, denn während er kopfschüttelnd auf und abschritt, barst sein Herz beinahe vor gottwonnigem Staunen über Dasein und Schöpfung. Er war erst vor wenigen Stunden »heimgekehrt«.

In einem andern Studio sahen wir einen großen, kräftigen Mann stehen, der auf seiner flachen Hand ein Kieselsteinchen hielt, eine kleine Muschel und irgendeine Blume. Ich denke mir, es war ein bescheidenes Wiesenblümchen aus dem Park des Arbeiters. Niemals hatte ich geahnt, daß die Form des menschlichen Gesichts imstande sei, einen solchen Ausdruck von geistiger Versunkenheit zu tragen. Dieses Antlitz war beinahe konkav von Trance. Es war weiß wie der Tod unter der Wucht des ungeheueren Gedankens, der sich in ihm entfaltete. Plötzlich begannen dem Mann die Tränen in Strömen die Wangen herabzurinnen. Er merkte es nicht einmal, als sie auf seine Hand und auf das Blümchen fielen.

Einen dritten Verwunderer sahen wir, der mit nervigen Händen seine Hüften gürtete, um aus dem Djebel in die Welt hinauszuziehen. Es war sein gutes Recht. Er gehörte nämlich zu denjenigen, in welchen der Amor Dei, den sie heimbrachten, sich in jenen strahlenden Tätigkeitsdrang verwandelte, der auf Welt- und Menschenliebe beruht. Solche wie er erschienen plötzlich in den Häusern unter der Erdoberfläche und brachten den schauervollen Anhauch der Intermundien aller Grade mit, sprachen zu den Leuten, lockerten die Dichtigkeit ihres Erdensinns, lehrten sie zu unterscheiden zwischen dem Wichtigen und dem Unwichtigen und unterwiesen sie in der Kunst, sich als Teil des Ganzen zu denken und zu fühlen. (Manchmal aber erschien solch einer in den Häusern und redete gar nichts, sondern zeigte schweigend irgendeinen neuen Handgriff, lehrte einen neuen Brauch, der die echte Lebendigkeit des Lebens förderte.)

Wenn auch nicht alle Verwunderer vor gottwonnigem Staunen, das sie über und über erfüllte, den Kopf schüttelten wie jener, den wir in seinem Studio mehrere Minuten lang beobachten durften, so trugen doch alle einen ähnlichen Ausdruck auf ihren Zügen wie er, eben jenen Ausdruck fassungslosen Verwundertseins, dem zu Dank sie alle mit dem altgriechischen Äquivalent als Thaumazonten bezeichnet wurden. Am deutlichsten enthüllte sich dieses seelische Überwältigtsein der Verwunderer in ihrem Gemeinschafts-, Versammlungs-, Anbetungsraum, oder wie immer wir die riesige, hell erstrahlende Halle nennen wollen, in der wir mehrere Tausende von ihnen beisammen fanden. Es waren ihrer so viele, und sie waren so tief in sich versunken, daß niemand uns Eindringlinge zu bemerken schien, als der Fremdenführer uns eintreten hieß. Er gab mit lauter Stimme Auskunft, daß in dieser Halle seit undenklichen Jahrhunderten niemals ein anderes Licht herrsche als dieses strahlende eines hohen Universalmittags, in das wir getaucht waren, und daß gleich dem Lichte auch niemals das Opfer unterbrochen werde, welches die Lamaserie der Verwunderer hier darbringe bei Tag und bei Nacht. Es war freilich kein heidnisches Priesteropfer und auch kein christliches Meßopfer, sondern ein unaufhörliches Offertorium hymnischer Poesie, die niemals aufgezeichnet und niemals wiederholt wurde. Wie sie in den aufgewühlten Seelen der Heimkehrenden entstand, so strömte sie dahin in merkwürdig rauhem Chorklang. (Außer beim Arbeiter bin ich nirgends in der mentalen Welt solchen rauhen Stimmen begegnet wie hier.) In schwarzen, mit goldenem Flitter bestickten Festschleiern bildeten die Thaumazonten Züge und Abteilungen, die nach einem uns verborgenen Marschmuster in Kreisen und Schlangenlinien durcheinander wandelten. Jede dieser Sternkompanien trug ein Banner aus Schleierstoff in verschiedenen Farben. Während diese reifen, kraftvollen Männergestalten dahinschritten, brachen aus ihren ekstatisch verengten Kehlen ruppige Worte und Ausrufe. Jedweder brachte sein eigenes Wort, sein eigenes Gedicht dar, und doch, ich weiß nicht wodurch, der Chor war im Zusammenklang vollkommen und einheitlich.

 

Der rauhe Hymnus des Weltheimkehrers, der seit Jahrhunderten nicht abriß, sondern alle drei Stunden durch frische Verwunderer neu genährt wurde, dieses wilde Gedicht eines zur kosmischen Vollbewußtheit erweckten und erzogenen Menschentums, klang uns noch lang in den Ohren nach, als wir eine endlose schiefe Ebene hinabsausten, die in den untern Part des Djebel führte. Zwischen der Lamaserie der Verwunderer und derjenigen der Fremdfühler lag viel mehr Raum als oben zwischen den Mansarden der Sternwanderer und den Stockwerken der Verwunderer. Es lag in jeglichem Sinne viel mehr Raum, oder besser »Abstand« zwischen ihnen. Die Fremdfühler nämlich gaben sich zumeist dem Zustande des Fremdgekehrtseins, dem Garbenbinden der Ernte hin. Auffahrten zu den Grenzen des Universums gehörten auch noch zu den Regeln der Xenospastik, sie wurden aber nur selten geübt und dann mit Furcht und Zittern. Das hing nicht so sehr mit dem Alter der Fremdfühler zusammen, das die letzten sechzig tätigen Jahre des astromentalen Menschen umfaßte; es hatte das geschärfte Bewußtsein, die gesteigerte Sensibilität und eine sonderbare Anfälligkeit zur Ursache, die zu den traurigeren Folgen der Chronosophie gehörte. Wenn der Mensch seine Grenzen überschreitet – und er ist das einzige Geschöpf, das sie überschreiten kann – dann findet er immer eine Schranke, die ihm Halt zuruft. Als in den Anfängen der Menschheit die ersten Versuche mit X-Strahlen gemacht wurden, verloren die Experimentatoren ihre Finger dabei. Später lernte man, sich vor den zerstörenden Wirkungen dieser Strahlen zu schützen. Die dem Menschen gesetzte Grenzschranke durfte in diesem Falle herausgerückt werden. Ob jedoch Zingarelli, Beethoven, Smetana und so manch anderer Musiker äußerlich ertaubten, weil sie die erlaubte Grenze inneren Hörens überschritten, ist eine geheimnisvolle Frage, die ich nicht zu beantworten wage. Eines steht fest, die Fremdfühler, diese Veteranen der interstellaren und internebularen Welten, wurden, besonders in vorgerückten Jahren, von einer Krankheit heimgesucht, die viele von ihnen teilweise, oft gänzlich lähmte und verkrüppelte. Den Namen dieser Krankheit hab ich vergessen. Es scheint eine Art von kosmischer Arthritis gewesen zu sein. Die von ihr Befallenen pflegten nicht mehr aufzufahren.

Doch auch die Jüngeren und Gesunden in der Lamaserie der Fremdfühler trugen auf ihren Gesichtern nicht mehr den Ausdruck gottwonnigen Staunens wie ihre Kollegen aus den oberen Stockwerken des Djebel, die kräftig männlichen Verwunderer. Sie trugen auf ihren Gesichtern einen ganz verschiedenen Ausdruck, der noch viel schwerer zu beschreiben ist als das gottwonnige Staunen; es war eben jener Ausdruck, demgemäß sie als Menschen bezeichnet wurden, die sich ständig und unabwendbar und gleichsam berufsmäßig fremd fühlen. Dieses Fremdfühlen, obwohl es niemals von ihnen wich, steigerte sich dann und wann, oft täglich zu starken Anfällen, zu sogenannten Xenospasmen. Niemand von uns mag jemals von einem »Xenospasmus« gehört haben. Das Wort ist unbekannt, die Sache hingegen ein weit verbreiteter menschlicher Zustand. Das gewöhnliche Heimweh zum Beispiel in seiner doppelten Form, als Sehnsucht nach einem entfernten Ort und als Verlangen nach einer vergangenen Zeit, ist ein typischer Xenospasmus. Diese wohlbekannte Empfindung aber ist viel verwickelter und viel steigerungsfähiger als man gemeiniglich denkt. Das Heimweh eines pensionierten alten Seebären nach seinem noch immer seetüchtigen Schiff ist etwas recht Simples. Das Heimweh eines Flüchtlings nach seinem Vaterland ist schon viel komplizierter, weil dieser Flüchtling genau weiß, daß mit jeder vergehenden Stunde das Verlorene sich wandelt und daher unwiederbringlicher wird. Die Unmöglichkeit seiner wirklichen Stillung ist geradezu die Würze jedes besseren Heimwehs, sowie die Aussichtslosigkeit, Vergangenes und Verlorenes wiederherzustellen, die brennende Wunde des Exils ist.

Die Anfälle der Xenospasten waren der Gefühlswelt des »Exils« nicht ganz unverwandt, weshalb ich in den obigen Sätzen auf sie hingewiesen habe. Man verstehe mich recht, die Chronosophen der höchsten Grade verspürten nicht etwa ein Heimweh nach den kosmischen Räumen, die sie nicht mehr besuchen konnten. Ihr Heimweh war gegenstandslos und ziellos. Sie fühlten das ganze materielle All, das sie im kleinen Finger hatten, als Exil. Der Xenospasmus war nichts anderes als der ekstatisch hymnische Zustand der Verwunderer auf einer weniger tätigen, dafür aber höheren geistigen Stufe. Er ging über die männlich bejahende Ekstase weit hinaus, die sich noch selbst betrog, weil sie keine Beschränkung fühlte. Die Xenospasten aber, die bis an die Grenzen der Schöpfung gelangt waren, fühlten oft diese Grenzen mehr als die Schöpfung. Als wir tief unter der Erdoberfläche in den untersten Stockwerken der Lamaserie vor einer der kleinen Denkzellen standen, sahen wir einen der älteren Fremdfühler mit gebeugtem Haupt und überaus angespannten Zügen regungslos verharren, ohne uns oder etwas anderes zu bemerken. Unser Führer gab eine laute Erklärung – er wußte, daß der Xenospast nichts hören werde – die mich tief erschauern ließ und zugleich meine Lachmuskeln reizte: Dieser Mann, vernahm ich, hat siebenundneunzig Schöpfungen erdacht und bis ins I-Tüpfelchen ausgearbeitet, die besser seien als die vorhandene. Er präge die Deduktionen und Begründungen unausgesetzt seinem Geiste ein, damit er einst, sollte er die Gelegenheit haben, sie jenseits des Lebens vor dem Welt-Schöpfer fehlerlos vertreten und verteidigen könne.

»Ich fürchte«, sagte ich leise zu B.H. neben mir, »daß schon weit geringere Schöpfer als der Weltschöpfer weder Kritik vertragen noch produktive Anregungen entgegennehmen ...«

Dies aber war der einzige Fall innerhalb des ganzen Djebel, wo der Verdacht einer irreverenten Haltung nicht ganz abgewiesen werden konnte. Die meisten der Weisen jedoch, die ich beobachten durfte, trugen ein unaussprechlich sanftes, ergriffenes, hingegebenes und frommes Lächeln auf ihren Zügen. Auch unter den Fremdfühlern gab es solche, die ihre Hüften gürteten, den Djebel verließen und in die Häuser der Menschen hinabstiegen. Sie brachten nicht den vitalen Rat der kraftüberströmenden Verwunderer mit, sie brachten den mildernden Rat derer, welche die Grenzen kannten.

An einer bestimmten Stelle der unteren Ränge, die wir mit Hilfe der modifizierten Schwerkraft durchsausten, sagte der Fremdenführer: »So, und nun sind wir bereits in das Reich des Arachnodroms eingedrungen.«

Es fiel mir auf, daß wir bei der Besichtigung des Djebel von oben nach unten immer weniger zu besichtigen hatten. In den oberen Rängen, die der Jugend gehörten, waren es die verschiedenartigen astrogymnastischen Übungen, Pantomimen und Ballette im Sternlicht, die das Auge bannten. In den mittleren Rängen hatten wir noch die ewig strahlende Hymnenhalle mit ihren unablässigen Festzügen betreten dürfen. Hier unten bei den Fremdfühlern gab es so gut wie gar nichts mehr zu sehen, außer den Gesichtern von schweigenden Männern, glatt und alterslos wie überall in dieser Welt, und doch verbraucht von Erschütterungen ohnegleichen.

Bei dem Wort Arachnodrom horchte ich neugierig auf. Die Monolingua ging mit der griechischen Endung »drom«, die laufende Bewegung ausdrückte, ziemlich frei um, indem sie diese auch dort verwendete, wo sie nicht ganz hingehörte. »Sephirodrom« zum Beispiel hieß Bibliothek, obgleich die Bücher (Sepher heißt hebräisch Buch) in den Bibliotheken meistens nicht herumzutraben pflegen wie die Pferdchen im Hippodrom. Arachnodrom mochte daher nach Analogieschluß so etwas wie ein Spinnenheim bedeuten. Und das war es auch hier unten in den Tiefen des Djebel, in den letzten Korridoren der xenospastischen Lamaserie.

Wir wissen schon von der Welt draußen und droben, daß in der letzten Erdepoche keine Tierart sich so hoch entwickelt hatte wie die Insekten. Den biologischen Grund dafür zu finden, kann nicht meine Sache sein, der ich der bloßen Aufzählung und dem nackten Bericht kaum gewachsen bin, mittels dessen ich eine gänzlich fremde Welt aufzubauen habe, die ich nur auf einer verdammt kurzen Reise kennenlernte. Eines ist sicher, die Nahrungsbedingungen der Erde im Hinblick auf die Tierwelt mußten sich stark vermindert haben. Ich weiß nicht, welche und wieviele Arten von Säugetieren es gab, die sich mit dem eisengrauen Rasen als Weidegrund zufrieden geben konnten. Die Capricornetten, Ovetten und was sonst noch für diminutives Vieh in den Parkanlagen des Arbeiters und seines Clans sich umtummeln mochte, spielten meines Erachtens, obwohl sie süße, treffliche Milch lieferten, eher die Rolle von aggressiveren Gold- und Zierfischen als die von Nutzherden im Sinne des Altertums, aus dem ich kam. Daß die Vögel in der Luft ausgestorben waren, wissen wir längst. Diese Luft war selbst in ihren untern Schichten zu rein und klar, um so gastlich zu sein wie in früherer Zeit. Die Hunde, einer einzigen Mischrasse angehörend, plapperten mit angemenschter Geläufigkeit die Monolingua. Von den Katzen werden wir einige Seiten weiter ein unglaubliches Stück zu hören bekommen. Sogar wilde, das heißt nicht domestizierte Tiere, sollten da oder dort noch anzutreffen sein. Da aber die ganze bewohnte Erde zur Stadt, zur unterirdischen Panopolis geworden war, so hatte es auch das arme Füchslein in seiner abgelegenen Höhle zum Städter gebracht. Und gab es irgendwo noch ein Wäldchen und in diesem Wäldchen ein Reh, so war's gewiß wie der Arbeiter, der Einfältige oder der Jude ein umgekehrtes Pluraletantum, nämlich das »Reh dieses Zeitalters«. Viele Erscheinungen wiesen deutlich auf einen Triumph des Insektengeschlechtes hin. Insekten konnten wundervoll vom eisengrauen Rasen leben. Sie hatten aber auch die Hausgärten zur Verfügung mit dem dunklen Lederlaub und den dicken Wachsblüten und die Häuser selbst mit Hunderten von Schleiergewändern und anderen nahrhaften Textilien. Es konnte angesichts solcher Schlemmerkonditionen keinen Zoologen wundernehmen, daß sich gewisse Arten der Insekten besonders vergrößert und verschönt hatten. Warum zu diesen hochausgebildeten Arten vorzüglich das Geschlecht der Spinnen gehörte, weiß ich nicht.

Gar mancher wird jetzt zurückzucken und ein angeekeltes Gesicht machen. Das kommt daher, weil er die Spinne nicht recht versteht, nicht so versteht wie der astromentale Mensch, sondern sie mit allen möglichen alten Schauergeschichten, Kinderschreck und abgestandenem Aberglauben in Zusammenhang bringt. Für den kosmisch hocherfahrenen Geist der Weisen im Djebel war die Spinne beinahe ein Hierozoon, ein heiliges Tier. Warum? Zum ersten: Die Spinne ist das körperliche Abbild des Sterns im Tierreich. Ihr Leib besteht aus einem rundlichen Zentrum, von dem die langen Glieder sich strahlenförmig nach allen Richtungen strecken. Dieses Ausstrahlen von einem Zentrum ist unter allen Tieren einzig und allein den Spinnen eigentümlich. Zum zweiten: Die Spinne entwickelt aus ihrem Innern den weißen Faden, mittels dessen sie ihr Netz verfertigt, in dem sie hängt wie ein Lichtgestirn in seinem Strahlennetz. Damit versinnbildlicht die Spinne den schöpferischen Vorgang der Aussendung von »strahlender Energie«, wie die Wissenschaft das süße Licht nennt. Zum dritten: In der Mitte ihres ausstrahlenden Netzes hangend, wartet die Spinne ruhig auf ihre Opfer, Fliegen, Mücken und Motten. Sie rührt sich nicht, denn die Beute fällt ihr sicher zu. Damit aber versinnbildlicht sie die Schwerkraft des Sterns, jene furchtbare Grundmacht im Universum, welche »Anziehung« heißt und den urersten schöpferischen Anstoß in ungeschwächter Bewegung und Verteilung hält. Das sind die Gründe, warum die Chronosophen die Spinnen als Astrosymbole verehrten, und warum sie einige besonders prächtige Arten in den schweigsamen Gängen und Gemächern des untern Djebel fütterten und züchteten wie etwa die Brahmanen ihre heiligen Kühe. Der noch immer angeekelte Leser, den obige Gründe nicht überzeugen sollten, möge bedenken, daß die Spinnen, von denen ich hier erzähle, ganz anders aussahen als diejenigen, welche er kennt und verjagt. Die größten waren ungefähr so groß wie ein menschlicher Handteller. Ihr kreisrunder Körper leuchtete wie Silber, wie Mondstein oder wie Opal. Sie wirkten wie lichte Intarsien auf den dunklen Wänden. Da die Gemächer sehr hoch waren und ziemlich düster, so sah man die großen, schneeweißen Spinnweben an den Deckengewölben langsam und gebieterisch schaukeln. Jede der Riesenspinnen trug einen Namen, den Namen eines Gestirns zweifellos, den uns auch die ältesten Xenospasten, denen wir hier begegneten, mit leuchtendem Eifer nannten.

Während ich meinen Kopf zur Decke gedreht hielt, stieß mich B.H. plötzlich leicht an. Ich bemerkte eine Gruppe von Männern, die schnell und schwerelos an uns vorüberglitt. An der Spitze bewegte sich ein kleiner Zierlich-Korpulenter, der sein Gesicht mit dem violetten Gewandschleier verhüllte. Der Fremdenführer stand starr mit gesenktem Haupt. Auch die andern hatten den Geoarchonten erkannt. Es mußte eine schwere Sorge sein, die ihn von seinem Lager im Schilderhaus aufgescheucht und in den Djebel getrieben hatte, von wo er soeben von einer Beratung mit dem Hochschwebenden zurückkehrte. Der Nächste, der empfangen werden sollte, so hieß es, war ich selbst ...

 

Jeder Sterbliche besaß das gesetzlich verbriefte Recht, ein einziges Mal im Leben an den Hochschwebenden seines Zeitalters drei wohlerwogene und scharfdurchdachte Fragen zu richten. Der Fremdenführer teilte mir an der »Pforte der Kanzlei«, die auch »Eingang des Comptoirs« genannt wurde, stolzlächelnd mit, daß ein Gerichtsbeschluß auch mir dasselbe Recht zu jenen drei Fragen zugestehe, obwohl ich doch von ziemlich dubioser Existenz sei. Ich möge sie mir wohl überlegen, die drei Fragen, mahnte er. Es war genau umgekehrt wie in der Sage von Ödipus und der Sphinx und allen Märchen ähnlicher Art. Nicht das wissende Ungeheuer fragte den unwissenden Wanderer, sondern der unwissende Wanderer fragte das wissende Ungeheuer. Freilich, die ganze Fragerei hatte gottlob keine tragischen Mißlichkeiten zur Folge wie im antiken Märchen. Der Hochschwebende mußte sich nicht töten wie die Sphinx, schon deshalb nicht, weil es überhaupt keine menschlich erdenkliche Frage gab, die dieser »Ungeheuer Wissende« nicht hätte beantworten können. Obwohl ich, wie schon öfters betont, meiner Forscherpflicht fast gar nicht bewußt war, und die Möglichkeit einer Heimkehr aus dieser unglaublichsten Zukunft in eine ebenso unglaubliche Vergangenheit zur Stunde nicht im mindesten bedachte, entschloß ich mich sofort, drei Fragen von entscheidender Bedeutung vorzubereiten. Zu meiner größten Befriedigung ließ mir der Fremdenführer eine Art Rechtsbelehrung darüber zuteil werden, daß es sich nicht nur um drei knappe formale Fragen handle, sondern daß jedermann den Anspruch auf Klärung der drei Themen besitze, die ihm am Herzen liegen. Zu diesem Zwecke dürfe man auch, in den Grenzen der Bescheidenheit freilich, einige wichtige Neben- und Unterfragen vorbringen.

Allein gelassen, fand ich mich schließlich in jener Räumlichkeit, die den Titel »Kanzlei« oder »Comptoir« trug. Ich hatte, auf diesen mir von altersher so wohlbekannten Wortklang vertrauend, etwas völlig anderes erwartet: ein nüchternes, mäßig helles Lokal nämlich (Regenlicht) mit einigen Schreibpulten und einem katafalkartigen Ruhelager für den Hochschwebenden, kurz etwas, was dem Schilderhaus des Geoarchonten und Seleniazusen ungefähr entsprach. Diese meine Erwartung war nicht ganz ungerechtfertigt, denn so viel verstand ich schon vom Aufbau der astromentalen Gesellschaft, um zu wissen, daß es vier Hierarchien gab, die nebeneinander wirkten: die kirchliche, die der Großbischof repräsentierte, die staatlich-politische des Geoarchonten, die ökonomisch-produktive des Arbeiters und die kosmologische des Djebel, der Chronosophen, deren Oberhaupt der Hochschwebende war. Kein Zweifel, letztere bedeutete für den Forschungsreisenden die originellste von allen vier Hierarchien, obwohl ich damit die Ungewöhnlichkeit des Arbeiters und seiner malachitenen Mulden der Quellen und Kräfte nicht verkleinern will. Der Raum jedoch, den man Kanzlei oder Comptoir nannte, widersprach aufs lebhafteste meinen Erwartungen; sogar das Licht war kein Regenlicht, sondern eine schattenhafte Dämmerung. Der Raum war durchaus kein nüchterner Kubus, sondern, soweit ich es beurteilen kann, eine Art Grotte im Innern eines blaßschimmernden Felsens. Ich hatte ähnliche Gemächer, die wie Höhlen wirkten, in den mittelalterlichen Bürgerhäusern oder Burgen meiner Heimatswelt gesehn. Von allem Menschenwerk, das mir auf der mentalen Erde bisher begegnet war, schien dieses »Comptoir« das älteste und naturhafteste zu sein. Vermutlich, so überlegte ich, befanden wir uns tiefer als die tiefsten Bergwerke meiner Zeit unter der Oberfläche der Erde, und zwar in den gewaltigen Fundamenten des Djebel, und man hatte den gewachsenen Felsen gelassen wie er war, ohne ihn durch gebaute Wände zu ersetzen und zu entweihen. Der Raum war in der Tat viel größer als das weitläufigste Bureau, und vor allem viel höher, so hoch beinahe wie ein altes Kirchenschiff. Ich spürte sofort, daß die regulierbare Gravitation hier ziemlich hoch geschraubt sein mußte, denn ich konnte mich kaum mit gebogenen Knien und tief gebeugtem Rücken bis zu der mächtigen Holzpritsche schleppen, die in der Mitte der Kanzlei des Gastes bereits zu harren schien, und auf der einige Flecken rötlichen Lichtes lagen und viele huschende Schatten tanzten. Ich sank sofort auf das Lager und streckte mich auf dem Rücken aus, die einzige Art, wie ich mein Übergewicht neutralisieren konnte. Meine Augen schweiften die Felswände entlang, um die Tür zu suchen, durch welche der Hochschwebende eintreten mußte. Sie fanden aber nicht einmal die schmale »Pforte des Comptoirs«, durch die ich selbst vorhin eingetreten war.

Erst allmählich gewahrte ich, daß ich mich nicht so sehr in einer Kanzlei befand, in der etwa die organisatorischen Fäden der Lamaserie zusammenliefen, als viel eher in einer Schatzkammer, in der Schatzkammer des Arachnodroms. Überall dort, wo an Wänden und Gewölben mattes Silberzwielicht hintastete, saßen oder hingen in ihren Schleiergeweben die seltensten, schönsten und kostbarsten Arten von Spinnen, welche die mentale Natur hervorbrachte. Es waren nicht nur die großen und prächtigen Silberspinnen darunter, die ich schon in der Lamaserie der Fremdfühler beobachtet hatte, sondern ganz neue, ganz absonderliche Spezien der siegreichen Sterninsekten. Von außerordentlicher Schönheit waren die Spinnweben, die tief unter der dunklen Deckenwölbung den Raum gewissermaßen wie mit Fischernetzen oder Hängematten aus Strahlen entzweiteilten. Sie schaukelten in einem langsamen Rhythmus hin und her, eine unerklärlich souveräne Bewegung, die den Blick nicht freigab. Fest überzeugt davon, der Hochschwebende müsse wie jeder andere diesen Raum betreten, schenkte ich dem runden, dunklen Bündel, das ich undeutlich durch die Spinnenwebe ganz oben in einem Schatteneck der Deckenwölbung gewahren konnte, keine besondere Aufmerksamkeit. Dieses große Bündel, das ich anfangs, ich weiß nicht warum, für eine mächtige Kesselpauke gehalten hatte, schmiegte sich tief und fest und regungslos in die Wölbung hinein, so daß es im Schatten ganz verschwand. Nicht einen Augenblick lang befiel mich die Ahnung, jene dunkle, unbewegliche Kugel dort oben könne ein Mensch sein, und der Ausdruck »Hochschwebender« sei nicht sprachfigürlich, sondern wortwörtlich gemeint.

Der Begriff der »Levitation«, der mystischen Raumerhöhung, war mir natürlich nicht unbekannt, als ich auf der Pritsche des Comptoirs mich schweratmend ausstreckte, um der erhöhten Gravitation im Raume besser Widerstand leisten zu können. Es gibt unzählige Dokumente, welche dieses eigenartige Phänomen im Laufe der Weltgeschichte unwiderleglich bezeugen, einer Weltgeschichte, die für mich natürlich im zwanzigsten Jahrhundert abschließt. Schon Damis, der Begleiter des Apollonius von Tyana, versichert, er habe in Indien gewisse hochentwickelte Brahmanen gesehen, welche in aller Freundlichkeit zehn Ellen hoch über der Erde schwebten, während sich die marktfahrende Menschenmenge deswegen im Anbieten und Feilschen nicht besonders stören ließ. Der neuplatonische Philosoph Jamblichos, ein Bekämpfer des Christentums übrigens, war vielleicht der erste römische Bürger, von dem Berichte vorliegen, die seine Fähigkeit bestätigen, sich bis zu vier Fuß während der Meditation in den Raum zu erheben. Stephano Maconi, ein eher skeptischer Laie und Mediziner, schreibt als Augenzeuge über Katharina von Siena, »daß vornehmlich, wenn ihre Seele sich für etwas göttlich Hohes im Gebet erregte, sie auch körperlich hochgerissen und gehoben wurde, in welch schwebendem Zustande sie nicht wenig Menschen gesehen haben, deren einer ich selbst bin ...«

Doch nicht nur von buddhistischen Eingeweihten, neuplatonischen Mystikern und katholischen Heiligen wird jene Raumerhebung bezeugt, sondern von ganz ordinären Leuten, wie zum Beispiel von der Bürgerin Anna Fleischer aus Freiberg, von welcher der protestantische Superintendent Möller in seiner Beschreibung der genannten Stadt Freiberg uns erzählt, »daß sie, epileptisch und von schweren Visionen heimgesucht, im Beisein der Herren Dachsel und Waldinger, urplötzlich im Bette, mit dem ganzen Leib, Haupt und Füßen, bei dritthalb Ellen hoch aufgehoben ward, so daß sie freischwebend blieb, die Anwesenden aber zu Gott schrien, sie umfingen und herabrissen, denn es hatte das Ansehen, als ob sie wolle zum offenen Fenster hinausfahren«.

Die hier ausgewählten kunterbunten Bezeugungen der mystischen Raumerhebung könnten mühelos um hundert andere vermehrt werden (so zum Beispiel um die Manifestationen des berühmten Schotten Home in den Siebzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts) und würden doch nicht das mindeste mit der Levitation zu tun haben, durch welche der Hochschwebende dieses Zeitalters seinen sonderbaren, aber höchst zutreffenden Titel bewährte. Vor allem aber seine Erhebung im Raum war kein mystischer oder auch nur wundersam epileptischer Ausnahmezustand eines menschlichen Körpers, sondern, wenn man es so ausdrücken darf, die natürliche Folge einer mit Genialität und voller Hingabe durch anderthalb Jahrhunderte unabläßlich geübten chronosophischen Bemühung. Der Hochschwebende war so sehr zu Hause in den Intermundien aller Grade, daß ihm die letzte Heimkehr und Wiedereinbürgerung in unsere planetaren Verhältnisse hier nicht mehr ganz geglückt zu sein schien. Sein Körper war seit langer Zeit nicht mehr imstande, sich mit der Gravitation unserer Mutter Erde abzufinden. Die Anziehungskräfte feinster Gestirnwelten sogen und zogen an seinem Hiersein und suchten ihn unablässig der Erde wegzustibitzen. Das war der Grund, daß er, nicht unähnlich einem Kinderluftballon, wo immer er sich auch in einem Hause befand, sogleich zur Zimmerdecke emporfuhr und dort oben sich in einen Winkel schmiegte, sein Gesicht stets zur Wand kehrend. Daß jenes runde, dunkle Bündel oder die absonderliche Kesselpauke, die am Kreuzgewölbe der Höhle klebte, ein Lebewesen war, merkte ich erst an einem tiefen Seufzer, der von oben kam, und ferner daran, daß für einen Augenblick ein blanker, hell leuchtender Spiegelkopf aus dem geheimnisvollen Bündel hervortauchte.

Ich wußte sofort alles. Der Hochschwebende des Zeitalters hatte ohne Zweifel meinen Eintritt ins Comptoir gar nicht bemerkt. Vermutlich hatte man für die Audienz einen ganz schlechten Zeitpunkt gewählt, oder es nicht einmal gesehn, daß der oberste aller Fremdfühler soeben einen schweren Xenospasmus durchdulde. Ich war in ziemlicher Verlegenheit. Geziemte es sich, daß ich, angesichts des Hochschwebenden dort oben, auf dem Rücken lag? Aber ich war ja außerstande, bei einer so hochgeschraubten Gravitation aufrecht zu stehen, wie es sich gehörte. Andererseits bot dieser Hochgrad der Gravitation dem Archixenospasten dort oben wohl die einzige Möglichkeit, das Erdenleben zur Not zu ertragen, obzwar auch sie noch nicht hochgeschraubt genug war, um ihn von der Wölbung herabzulocken, damit er sich's auf dem Fußboden bequem mache wie andere Leute. Ich überlegte: Habe ich das Recht oder habe ich gar die Pflicht, mich ihm zu Bewußtsein zu bringen? Zerreiße ich damit etwa das Spinnweb eines erhabenen Zustands seines Denkens und Fühlens? Nach zwei Minuten der Unentschlossenheit tat ich das, was jeder Käufer tut, der in einen kleinen Geschäftsladen tritt, den er leer findet, weil der Verkäufer sich in einen Nebenraum zurückgezogen hat: ich räusperte mich und ich hustete ein paarmal laut und heuchlerisch, während ich meine faszinierten Blicke auf das große runde Bündel in der Höhe gerichtet hielt. Dieses kam langsam in Bewegung. Der helle Spiegelkopf trat hervor wie aus einem Schneckenhaus, auffallend kurze Glieder zeigten sich, noch einmal bewies ein tiefer Seufzer die Existenz schmerzlichen Lebens, dann sagte eine leise und hohe Stimme: »Bitte zu bleiben, ich komme, ich komme ...«

Als würde sie sich an einem unsichtbaren Spinnfaden herablassen, senkte sich eine wunderliche kuglige Menschengestalt zu mir nieder und blieb ein wenig über dem Fußende meines Lagers in Schwebe. Ich sah sofort, daß der Hochschwebende dieses Zeitalters ein Krüppel war mit einem deutlich vorgebuchteten Brust- und Rückenbuckel und recht verdorrten Füßlein und Händchen, die er gewiß nicht in normaler Weise gebrauchen konnte. Zweifellos hatte ihn die astrale Arthritis so zugerichtet, jene Krankheit, deren Namen ich vergessen habe. Vielleicht aber war diese Krankheit zugleich ein in der ganzen Naturgeschichte wohlbekannter Prozeß, der allmählich all jene Organe eines Körpers durch Verkümmerung ausschaltet, wenn sie nicht mehr gebraucht und daher zwecklos werden. Hatte der Hochschwebende für seine Beine und Füße praktische Verwendung, da er doch nicht ging, sondern in der Luft schwebte? Mochte das Sternpodagra ein noch so schmerzhaftes Leiden sein, so deutete es andererseits auf eine Rationalisierung des menschlichen Körpers für neue Zwecke hin. Vielleicht war im Djebel und in der chronosophischen Praxis der Grund gelegt zu einer viel, viel späteren, radikal umgestalteten Menschheit, die zwar unter der Erde wohnte wie die mentale, aber, ähnlich den Kinderluftballons über der Erde umherschwebend, ihren Geschäften nachging. Dies würde freilich eine dem Schwebezustand angepaßte Leiblichkeit erfordern, wie sie der kuglig Verkrüppelte mir hoch gegenüber vielleicht schon andeutete. Ich schob den Einfall schnell von mir, denn nicht ich, sondern B.H., der professionell Wiedergeborene, würde irgendwann, vielleicht erst im dreizehnten Weltengroßjahr der Jungfrau, diese Sache zu erproben haben.

Der Hochschwebende hielt sich etwa einen halben Meter über dem Fußende meines Ruhelagers in Balance. Er tat das, indem er, ähnlich wie ein guter Schwimmer wassertritt, mit seinen schwachen Beinchen lufttrat, und dann und wann dazu mit den Händen paddelte; doch tat er das wunderlich umgekehrt von unten nach oben, den Luftstrom zur Höhe drängend, um nicht emporgerissen zu werden. Diese Bewegung, seine beiden Buckel vorne und hinten, der völlig runde, spiegelglatt gedrechselte Kopf ohne Brauen und Wimpern, ferner die hellen, ein wenig geröteten, vorgewölbten Augen und ein breiter, von verhehltem Schmerz nach abwärts gezogener Mund – dies alles erweckte in mir den Eindruck: ein göttlicher Kugel- oder Mondfisch.

Ich versuchte mich aufzurichten, um ihm meine Verehrung zu bezeigen. Er winkte mir ziemlich heftig durch lebhaftes Gepaddel seiner Händchen ab. Dazu zündete er im Hintergrund seiner Glotzaugen ein freundliches Lächeln an, das der astralen Gicht, dem Xenospasmus und einer wahrhaft kosmischen Gleichgültigkeit und Unaufmerksamkeit tapfer abgerungen war. Ich mochte immerhin für eine mentale Hochzeitsfeier als ein lebendiger Zeuge aus den Anfängen der Menschheit eine Art von Schlager bedeuten, für ihn bedeutete ich samt meinen hunderttausend Jahren bestenfalls eine Belästigung und schlimmstenfalls eine Quälerei. Was konnte ich ihm bringen? Was hätte ich gewußt, was er nicht wüßte? Wir, das heißt ich gemeinsam mit einigen Lesern, werden in wenigen Minuten, nicht ohne daß mir ein Schauer den Rücken herabläuft, mit voller Deutlichkeit erleben, daß er viel mehr über mich wußte als ich selbst, und zwar nicht etwa in einem psychoanalytisch herumratenden Sinne, sondern praktisch und faktisch.

Da er mir nicht erlaubte, mich vom Lager zu erheben, auf das mich die ganze Gewalt der hochgeschraubten Gravitation gebannt, ja niedergeworfen hielt, grüßte ich ihn mit einer kleinen Kopfbewegung und einem dankbaren Blick.

»Die erste Frage wird erwartet«, sagte er mit seiner hohen tonlosen Stimme, die mich an das Dampfheizungszischen der Stimmen im Grauen Neutrum gemahnte. Ich wußte, daß ich mich jetzt zusammennehmen müsse, um seine leidende Geduldigkeit nicht zu mißbrauchen. Ich versuchte daher, meine drei Fragen so trocken und kurz wie möglich zu formulieren. Eine gewisse Schwierigkeit lag für mich in dem Problem, wie ich den Hochschwebenden ansprechen sollte. Wäre ich ein Engländer oder Amerikaner gewesen, hätte sich dieses höchst unbedeutende Problem durch ein offiziell distanziertes »Sir« lösen lassen. Ich war aber weder ein Engländer noch Amerikaner, sondern ein Mitteleuropäer, in einer Monarchie geboren, und da meine aufrührerischen Flegeljahre längst hinter mir lagen, erschien es mir rüpelhaft, einer offiziellen Persönlichkeit Titel und Würden vorzuenthalten. Mir fiel der alte, demütige Schloßkaplan eines böhmischen Aristokraten ein, der es nicht ertragen konnte, daß der Graf ihn »Hochwürden« nannte, während er zur Herrschaft, zum Grafen, nichts anderes sagen sollte als »Herr Graf«. In seiner Not wurde der alte tschechische Priester sprachschöpferisch und erfand eine Anrede, die es gar nicht gab, nämlich »Euer Hochgnaden«. Kein Titel als dieses »Euer Hochgnaden« schien mir tauglicher für den Hauptchronosophen dieses Zeitalters. Und mit »Euer Hochgnaden« leitete ich die erste meiner drei Fragen ein, die folgendermaßen lautete:

»Gibt es Engel und eine allverkleidungsfähige Protomateria, aus welcher sie geschaffen sind?«

Bei diesen Worten, die ich zaghaft und mit Herzklopfen sprach, bemerkte ich erst die edle, verfeinerte Schönheit, welche der Hochschwebende ausstrahlte, trotz seiner Verkrüppelungen, der kugelrunden Schädelform, den vortretenden Augen und dem bleichen, allzuglatten Buddhagesicht. Er sah mich traurig an, und ich fühlte, daß er meinen Wert abwog und mich zu leicht befand. Es hatte ihn ein paar Fuß höher gezogen, und er mußte ein bißchen lufttreten und paddeln, um mir wieder näher zu kommen.

»Warum will man bestätigt bekommen«, fragte er, »was man mit eigenen Augen gesehen hat?«

»Weil man ein unsicherer Kantonist ist, Euer Hochgnaden«, erwiderte ich.

Der Schwebende drehte sich darauf ein paarmal in der Luft langsam um seine Achse, wobei er mit den kurzen Beinchen auf einem unsichtbaren Drehstuhl zu sitzen schien. Er war in keine mattfarbene Schleierraffung gekleidet wie die mentalen Durchschnittsmenschen, sondern in eine jener dunklen Kutten, die ich nicht nur von den offiziellen Würdenträgern, sondern von den Mutarianern schon kannte und auch an Verwunderern und Fremdfühlern gesehn hatte. Ich verstand die müd routinierte drehende Bewegung des Hochschwebenden nicht, doch erschien sie mir wie eine Andeutung des Kometenturnens. Es verging eine ganze Weile, ehe ich sah, was ich sehen sollte. Das bleich leuchtende Buddhahaupt war von etwas umtanzt, was nur ein Astigmatiker ohne Brille wie ich, anfangs für Insekten, große Motten, Totenkopffalter oder gar kleine Fledermäuse halten konnte. Doch sehr schnell erkannten selbst meine schlechten Augen, daß diese mutmaßlichen Tierchen nichts dergleichen waren, sondern viel ähnlicher sahen den Sonnenringen, Kringeln und Kreiseln mit einem schwarzen Punkt in der Mitte, die an unsern Blicken vorüberziehen, wenn der Sehnerv durch Druck oder allzu grelles Licht gereizt ist. Ich blinzelte angestrengt. Das aber, was ich sah, verschwand nicht, sondern mehrte sich im Gegenteil und wurde deutlicher. Es bewegte sich in eiligen Kolonnen, vom Buddhakopf dort schräg gegenüber, auf meinen Kopf zu. Plötzlich gewahrte ich in diesen Kolonnen ganz unzweifelhaft Mantelformen und Faltenwürfe. Sie waren freilich sonderbar starr und ungegliedert und schienen sich auch nicht selbst zu bewegen, sondern wurden von außen bewegt und beinahe geschoben. Zugleich aber wußte, ja sah ich, daß von meinem eigenen Kopf dieselben Phänomene in ausgerichteten Kolonnen sich auf den Kopf des Hochschwebenden hinbewegten, unter ihnen ebenfalls diese starren unfertigen Mantelformen und Faltenwürfe.

»Sind das am Ende Engel, die wir beide aussenden?« stieß ich erregt hervor.

Der Hochschwebende paddelte ein bißchen, während er mich mit seinen großen Glotzaugen unter den geröteten Lidern ansah. Ich wußte nicht, ob er lächle, weil er Schmerzen zu überwinden habe oder Langeweile, das ist Leere der Zeit.

Nach einer kurzen Pause erklang die hohe, tonlose Stimme, und ich spürte aus dem einzigen Satz, den sie sprach, ihren Drang, den Gegenstand durch äußerste Präzision zu erhellen und den gegenteiligen Drang, ihn zugleich zu verhüllen, wie es dem Verborgenen geziemte. Also sprach der Hochschwebende:

»Wir senden einander zu, was sich in uns regt. Nur der Weise nimmt wahr, was nicht wahrzunehmen ist.«

Darauf entfuhr es mir, und ich konnte das Wort nicht hemmen:

»Das soll heißen, daß die Engel in den Intermundien die Regungen, das sind die ausgesandten Gedanken, Gefühle, Vorstellungen, Begehrungen und Phantasien Gottes sind ...«

»Die Engel im Himmel«, unterbrach mich der Hochschwebende mit einem deutlichen Anklang von Pedanterie, wobei er das Wort »Gott« geflissentlich vermied, »die Engel im Himmel sind Kommunikationen dessen, was außerhalb der Welt ist mit dem, was innerhalb der Welt ist.«

»So war das Selbstbewußtsein der Melangeloi kein Selbstbetrug«, rief ich mit lauter Stimme aus.

»Die erste Frage ist beantwortet«, sagte der Hochschwebende, und: »Die zweite Frage wird erwartet.«

Er hatte recht. Die erste Frage war voll beantwortet. Obwohl die Antwort des Hochschwebenden über die Engel nur anders formuliert war, aber denselben Inhalt hatte wie die offizielle Antwort, die jeder Katechismus gibt, so empfand ich doch eine wundersame Befriedigung, als hätte ich eine undurchdringliche Wahrheit mathematisch bewiesen bekommen. Es war vor allem die Erkenntnis, nein mehr als Erkenntnis, die von mir mit Augen geschaute sichtbare Tatsache, daß unsere Gedanken, Gefühle, Vorstellungen, Begehrungen und Phantasien selbst Engel sind, die Engel, die der Mensch als Kommunikationen aussendet, als Geisterreich unserer eigenen Produktivität – diese Tatsache war's, die mich so hoch beglückte. Auch wir strömten, ähnlich dem Schöpfer, bildsame Protomaterie aus. Darin bestand recht eigentlich alle höhere Lebens- und Geistestätigkeit. Oh, wie sehnte ich mich nach einer Stunde der Sammlung, um diese mir vom Hochschwebenden geschenkte Wahrheit ganz durchdenken zu dürfen. Ich spürte aber sehr genau, daß ich mich beeilen sollte; ohne Zweifel litt der göttliche Kugelfisch dort Qualen, wenn er Rede und Antwort stehen mußte, anstatt sich an die Wölbung zu pressen wie ein Kinderluftballon. Ich ging daher unverzüglich zur Frage Nummer zwei über:

»Welche Gestalt hat das Universum?«

Das war klipp und klar gefragt und vielleicht allzu kurz und gut. Die Mundwinkel des Buddhagesichts schräg über mir zogen sich noch tiefer herab und die Händchen ruderten beinahe ärgerlich:

»Warum forscht man nach Geheimnissen?« fragte der Hochschwebende. »Wissen die Toten dieses Geheimnis?« wich ich aus.

»Die Toten sind die Wiedervereinigten. Sie kennen es nicht, aber sie sind mittendrin im Geheimnis«, erwiderte er.

»Ich bin vor kurzem noch ein Toter gewesen, also mittendrin im Geheimnis. Habe ich daher nicht ein Anrecht auf Frage Nummer zwei, Euer Hochgnaden?«

Der Hochschwebende schwieg. »Das Ganze hat also nicht die Gestalt der Teile«, tastete ich mich vor, sein Schweigen gewissermaßen deutend, »das heißt, nicht die Gestalt des Sterns, des Sphäroids, der an den Polen abgeplatteten Kugel, die Gestalt der größten Spannung bei kleinster Oberfläche? ...«

Er schwieg und schwieg. Ich wollte diese allzu kühne Frage bereits streichen, die ich an denjenigen unter den Sterblichen gestellt hatte, der bis an die Grenzen der Räume vorgedrungen sein sollte. Schon öffnete ich den Mund zu Frage Nummer drei, als unvermutet die hohe, tonlose Stimme sprach:

»Das Ganze hat die Gestalt des Menschen.«

Nun schwieg ich, von einer unbekannten Erschütterung durchbebt, die mir den Atem beengte. Ich weiß nicht, wieviel Zeit verging, ehe ich eine der erlaubten Unterfragen stellte:

»Heißt das, daß wir uns im Herzen oder im Nabel einer Menschengestalt befinden, die aus bewegten Gestirnen und Gestirnnebeln besteht wie wir selbst aus bewegten Unikeln, Achads und Monalen?«

»Das Ganze hat die Gestalt des Menschen«, versetzte die tonlose Stimme, die jetzt deutlich zischte, als sei es nicht nötig, eine Antwort, die alles deckte und erklärte, zu variieren. Ich aber verirrte mich hartnäckig weiter in Unterfragen:

»Ist damit etwa die Vision des Propheten Ezechiel bestätigt, der eine menschliche Gestalt über dem Throngefährt der Gottheit schweben sah? Oder hat damit die chronosophische Naturwissenschaft die tiefste Erkenntnis des kabbalistischen Buches Sohar gesichert, die von Adam Kadmon, dem kosmischen Adam, dem Menschen als Himmel und dem Himmel als Menschen verkündet, er sei die Erstlingsschöpfung Gottes? ...«

Es war ein Katarakt von Fragen, der meiner begreiflichen Erregung entstürzte. Für den Hochschwebenden aber bedeuteten all diese Neben- und Unterfragen Pleonasmen, die zu beantworten er gesetzlich nicht verpflichtet zu sein schien, denn er wiederholte jetzt zum drittenmal den allerschöpfenden Satz:

»Das Ganze hat die Gestalt des Menschen.«

Ich schloß die Augen. Ich nahm mich zusammen. Ich fühlte genau, daß ich bei meiner nächsten Neben- oder Unterfrage sehr vorsichtig sein mußte, um dem Hochschwebenden nicht als schäbiger Ausnützer zu erscheinen. Daß der Kosmos Menschengestalt habe, das war einer meiner frühesten Jugendträume gewesen, lange bevor ich noch etwas von Sohar, von der Kabbala und ihrem Himmelsmenschen gehört hatte, dem Adam Kadmon, dessen Körper aus allen vorhandenen Gestirnen und Gestirnwelten besteht, wie der unsere aus Protonen und Elektronen. Nun fand ich mehr als hunderttausend Jahre später meine jugendliche Eingebung, die ich zeit meines Lebens als märchenhaft und phantastisch belächelt hatte, durch die hochexperimentelle Wissenschaft der Chronosophie bestätigt. Auch war dadurch die Expansion und Kontraktion der Sternräume, das Atmen des Universums auf das natürlichste erklärt. Wieviele Schwierigkeiten aber gab es noch, um zu der reinen Wahrheit vorzudringen? Vor allem: War unsere Menschengestalt etwas Endgültiges? Keineswegs. Die beobachtende und beschreibende Wissenschaft von der Entwicklung des Lebens, die man ebenfalls hoch achten mußte, hatte schon ehemals gezeigt, daß es gewaltige Unterschiede gab zwischen der Menschengestalt des Pithekanthropus erectus, des Tiermenschen und der modernen Menschengestalt einst und jetzt. Sollte der Kosmos vielleicht ein Gesicht mit abscheulich rückfliehender Stirn und kannibalischen Kauwerkzeugen haben? Ich öffnete die Augen und sah den Hochschwebenden an, der schräg mir gegenüber lufttrat, um sich in Balance zu halten. Da wußte ich plötzlich, daß wir unteren, wir irdischen Menschen die letzte, die kosmische Menschengestalt noch lange nicht erreicht hatten, und daß selbst der Hochschwebende mit seinem kugelrunden Buddhakopf, den verkümmerten Extremitäten und dem zum Zwecke der schwebenden Bewegung sich umbildenden Körper noch fern vom Ziele dieser Entwicklung war. Eine innere Scheu hielt mich aber zurück, meine nächste Unterfrage mit diesem wichtigen Komplex zu verbinden. Unversehens glitt ich zu folgendem über:

»Wenn das Ganze Menschengestalt hat«, skandierte ich deutlich, »so muß es doch zwei Ganze geben, das heißt, ein männliches und ein weibliches Universum.«

»Das Ganze ist mit sich selbst verheiratet«, erklärte der Hochschwebende, überraschend prompt und ohne die üblichen Widerstände wie bisher.

Ich aber verstand bei diesen Worten den Blitz eines Augenblicks lang, worin die sakramentale Heiligkeit der menschlichen Ehe gegründet ist, und warum die wirkliche Ehe im Himmel geschlossen wird, wie das Sprichwort sagt. Zugleich aber fragte ich, ziemlich naseweis und eine berechtigte Abfuhr erwartend, folgende Nebenfrage:

»Wenn das Ganze mit sich selbst verheiratet ist, verrät nicht die positiv oder negativ elektrische Ladung aller Dinge den Geschlechtsunterschied der Materie?«

»Die zweite Frage ist beantwortet«, strafte mich die hohe, tonlose Stimme, »die dritte wird lange schon erwartet.«

Du sollst sie haben, dachte ich, denn trotz meiner Ehrfurcht vor dem Hochschwebenden hatte ich eine Frage vorbereitet, in welcher ich ihm eine Falle zu stellen gedachte. Ist nicht alles Frage- und Antwortspiel ein Kampf und nur dadurch reizvoll, daß es ein Kampf ist? Ich hatte soeben aus dem Munde des Großchronosophen die Welträtsel gelöst erhalten. Aber da ich nur in der Elementarklasse der Knaben im Niederen Intermundium hospitieren durfte, würde ich niemals imstande sein, die Richtigkeit der Lösung persönlich nachzuprüfen. Die Richtigkeit seiner Antwort auf meine dritte und letzte Frage wird für mich aber leicht nachprüfbar sein, so wie sie für ihn viel schwerer zu finden sein wird als die Lösung der Welträtsel. Ich fragte somit und wiederholte zweimal meine Frage:

»Was war der wichtigste Augenblick meines Lebens?«

Zugleich fragte ich mich diese Frage selbst und holte mit aller Bildkraft, die ich besaß, einen Strom von Erinnerungen aus meiner Seele, den ich mit möglichster Deutlichkeit an mir vorüberziehen ließ. Würde der Hochschwebende eine dieser Erinnerungen benützen, so hatte ich ihn besiegt, und er war in die Falle gegangen, denn auf Gedankenübertragung, Einfühlung und Hellsichtigkeit war ja der mentale Fortschritt gegründet. Um mich zu überzeugen, mußte er mich mit etwas gänzlich Unerwartetem kraß überraschen und mir verraten, was ich bis in die tiefste Tiefe vergessen hatte. Welche Szenen und Bilder aber holte ich in mein Bewußtsein herauf, den wichtigsten Augenblick meines Lebens erforschend, ein Unternehmen, das mich bisher niemals gelockt hatte? Ich wußte natürlich, daß die großen dramatischen Vorfälle, Emotionen und Entscheidungen nicht die wichtigsten Augenblicke bedeuten, sondern die winzigen, unscheinbaren, kaum merklichen Ursachen es sind, welche im Leben oft überraschende Folgen zeitigen. Warum mir aber gerade dies und nichts anderes ebenso Wichtiges oder Unwichtiges einfiel, das kann ich nicht sagen, obwohl die Auswahl, die mein Bewußtsein traf, mich selbst erstaunte. Ich sah mich zum Beispiel als einen zwölfjährigen Schuljungen in der sogenannten »Ufergasse« meiner Heimatstadt am glitschigen Kai des lächerlich kleinen Flußhafens stehen, an welchem doch manchmal Zillen und Schlepper lagen, welche »direkt von Hamburg« kamen, vom Meere also, vom Weltmeere und vielleicht von Amerika, das damals für mich noch immer das Amerika der Indianergeschichten war. Eines Tages lag dort wirklich ein ziemlich hochgebauter Schleppdampfer, der auf mich den Eindruck von geradezu unheimlicher Seetüchtigkeit machte. Er war frisch kalfatert, roch berauschend nach Teer, hatte sogar eine schöngewölbte Deckkabine mit prächtig messingglänzenden Bullaugen und einer »echten Schiffstür«, durch welche man über eine »echte Schiffstreppe« ins Innere gelangen konnte. Wild klopfte mir das Herz, und das ist keine Redensart, beim Anblick dieses Meerschiffes. Wenig hat in meinem späteren Leben auf mich eine ähnlich lockende und verführerische Wirkung ausgeübt als die Idee eines Meerschiffes in jenen Knabenjahren. Ich schwänzte oft die Schule, um mich in dem genannten Ufergäßchen unserer Binnenstadt mit ihrem breiten, aber seichten Moldaustrom umherzutreiben. An jenem Tage trat plötzlich eine junge Frau aus der Tür der schöngewölbten Deckkabine. Sie selbst war recht schön gewölbt, hatte ein breites, ordinäres Gesicht mit kurzer Nase, dicken Lippen, und lässig aufgestecktes, schwarzes Haar; ich konnte auf meinem Ruhelager dieses Gesicht ohne weiteres zurückrufen, mit all seiner gemeinhübschen Charakteristik. Die junge Frau trug große Ohrgehänge, war nachlässig gekleidet und ging barfuß, welch letzterer Umstand ihre Sirenenhaftigkeit noch vermehrte. Es muß eine Spanierin sein, sagte ich erschauernd zu mir selbst, indem ich meine mit einem Riemen zusammengebundenen Schulbücher an die Brust drückte. In diesem Augenblicke bemerkte mich die »Spanierin«, spitzte die Lippen und zwinkerte mir zu, ich möge kommen. Obwohl von Natur schüchtern, lief ich, ohne mich zu besinnen, über das Laufbrett an Bord und hatte das erste Mal die Planken eines Meerschiffes unter den Füßen, ein Erlebnis, das später nur von dem Rausch überboten wurde, als ich zum erstenmal die Bretter einer Bühne unter den Füßen fühlte; beide Male hohler, unsicherer Boden. Die Frau mußte bemerken, was in mir vorging, denn sie drückte mich lachend an sich. Sie roch stark nach Schweiß und einem fürchterlichen Parfüm. Die Mischung aber war für mich sehr berauschend. »Kommen Sie mit, junger Mann«, sagte sie, und es klang durchaus nicht spanisch, sondern in Wirklichkeit sächsisch. Die alte Geschichte vom Schiffsjungen war's. Nichts aber hätte mich abgehalten, mitzukommen. Nicht der Gedanke an Vater und Mutter, ans Gymnasium, an meine Zukunft. Ich warf meinen Bücherpack zur Seite, um die Hände frei zu haben für die Arbeit, die man von mir fordern würde. Die Waage meines Schicksals hing in Schwebe, denn niemals mehr in Zukunft war ich so bereit wie in diesem Augenblick, radikal zu verschwinden, bedingungslos mein Leben zu ändern, vielleicht mehr wegen der schön gewölbten Deckhütte als wegen der schöngewölbten Dame. Daß ein markiger alter Schiffersmann mit Hindenburgschnauzbart die Affäre entschied, indem er mich fluchend ans Land jagte, änderte nichts daran, daß damit ein wichtiger Augenblick vorübergegangen war.

Warum ich nun auf dem Ruhelager des Comptoirs gerade die nachfolgende Erinnerung ausschöpfte, verstehe ich noch weniger. So niedrig und schäbig mein moralisches Versagen im Falle des Franzosen Benoit auch ist, ich werde bei der großen Bilanz aller Dinge am Ende der Zeiten viel Schlimmeres zu vertreten haben. Wir waren damals beide bereits über neunzehn Jahre alt, ich spreche von Benoit und mir, und hatten eine Menge Geld verjuxt, das heißt, wir hatten Benoits Geld verjuxt, denn mein Vater hielt mich ziemlich streng, und meine Taschen waren meist leer. Während unserer lustigen Zeit (es war vermutlich viel forcierte Lustigkeit dabei) hatte ich Benoit das Wort gegeben, ich werde ihm meine Schuld auf Heller und Pfennig zurückerstatten. Dann kehrte ich in meine Vaterstadt heim und dachte nicht mehr daran. Es war bereits Mitte August. Ende September mußte ich meinen Militärdienst antreten. Da tauchte plötzlich Benoit auf. Er erinnerte mich freundschaftlich an mein Wort und forderte von mir, ich solle meinem Vater ein reuiges Geständnis ablegen, damit er meine Schuld begleiche. Ich wußte, daß Benoit ein pedantisch genauer Mensch war, glaubte aber nicht, daß er das Geld wirklich brauchte. Mein Vater seinerseits war ein guter Vater. Ich weiß das heute viel tiefer als in meiner Jugend, in der er mir manche Stunde durch seine nur allzuberechtigte, aber bitter nörgelnde Kritik verstört hat. In einem Punkte verstand er keinen Spaß, im Schuldenmachen. Er selbst hatte nämlich durch eine Geldschuld, und zwar durch eine nicht einmal selbst genossene, sondern unschuldig aus dem Bankrott seines eigenen Vaters übernommene Schuld, einen Rückschlag erlitten, den er selbst mit der leicht erregten Pathetik eines glücklichen Zeitalters als bürgerlichen Schiffbruch bezeichnete. Ich vertröstete Benoit von Tag zu Tag, weil ich nicht den Mut hatte, meinem Vater zu beichten, daß ich ein leichtfertiger Schuldner ohne Notwendigkeit und nur dem unerlaubten Vergnügen zuliebe war, wo er, als ein Unschuldiger, die Schulden eines anderen hatte auf sich nehmen müssen. Es waren fürchterliche Tage. Benoit ließ mich immer deutlicher seine berechtigte Verachtung fühlen. Eines Tages ergab es sich, daß mein Vater, Benoit und ich zu dritt am Tische saßen. Benoits Augen lagen immer schwerer auf mir, schließlich machte er heimliche, empörte Zeichen, ich solle doch endlich den Mund aufmachen und reden. Mein Vater schien die Spannung zu fühlen. Er hob den Kopf, sah uns lange an und fragte endlich: »Gibt es etwas zu regeln zwischen euch beiden?« Mit diesen Worten baute er bewußt oder unbewußt eine Brücke, und der, der die Brücke nicht betrat, mußte eine elende Memme, ein schlechter Kerl und eine ehrlose Kreatur sein. Diese elende Memme und ehrlose Kreatur war ich, und immer, wenn ich an meine schnelle, vorbeugende Antwort denke »nein, Papa, nichts«, immer wieder knirsche ich mit den Zähnen über diesen zur Dauer erstarrten Augenblick, der mich richtet, wenn ich mich auch später zu einem Geständnis aufraffte.

Dies sind nur zwei Augenblicke von den sehr vielen Augenblicken, die ich mir auf dem Lager in der Kanzlei des Hochschwebenden vergegenwärtigte. Viel zahlreicher aber zogen mir die zusammenhanglosen Bilder und jähen Erkenntnisse durch das Gemüt, die alle eine Bedeutung in meinem Leben gehabt hatten. Ich sah zum Beispiel wiederum durch das Gartentor des Krüppelhauses am Vyschehrad jenen Bocksmenschen auf allen Vieren stehen, mit fuchsrotem Spitzbart und schamlos hochgehobenem Hintern, ein Anblick, der vor mir das erste Mal den entsetzlichen Abgrund und die dämonischen Möglichkeiten der Natur aufriß. Doch hier mache ich schon halt und schweige von all dergleichen abgründigen Bildern, Augenblicken, Eingebungen, Erlebnissen, um sie besser unausgeplaudert wieder mit mir ins Grab zu nehmen. In Wirklichkeit nämlich drängte sich eine andre, vollere Geschichte gebieterisch in meiner Erinnerung vor, ein Erlebnis, das ich längst schon vergessen zu haben glaubte, das mir aber jetzt, da ich im Comptoir des Hochschwebenden schwer auf dem Ruhelager lastete, nicht nur als ein höchst wichtiger Augenblick meines Lebens erschien, sondern auch als der geeignetste, um den Großchronosophen zu prüfen, das heißt, ihm eine Falle zu legen. Die Begebenheit war mehr äußerlicher als psychologischer Natur und ihre Einzelheiten erwachten in mir mit solcher lebendigen Schärfe, daß ich gewiß war, ein ganz gewöhnlicher Gedankenleser, geschweige denn der Hochschwebende, müßte sie mit Händen greifen.

Auch damals lag ich ausgestreckt. Ich lag ausgestreckt in meinem schwarzen Schlafsack aus Wachstuch. In diesem Schlafsack aber lag ich auf einem Bett. Es war ein abscheuliches Bett, das in einer winzigen muffigen Kammer stand. Diese Kammer hatte ich kürzlich von einer polnischen Witwe namens Pozñanská gemietet, die den ganzen Tag um ihre durch den Krieg zerstörten Häuser jammerte. Das Haus mit meiner Kammer war noch nicht zerstört, obwohl unsere österreichische Front schon geraume Zeit durch dieses ukrainische Städtchen lief. Ich präge mir im allgemeinen das Bild von Zimmern nur höchst ungenau ein. Diesmal aber war meine Erinnerung so stark, daß ich absonderlicherweise nach mehr als hunderttausend plus siebenundzwanzig Jahren alle Gegenstände in dem elenden ebenerdigen Loch hätte richtig placieren können. Vielleicht kommt das daher, daß in jener denkwürdigen Nacht ein überschwenglicher Vollmond breit durch das offene Fenster fiel. Dieser helle Vollmond war übrigens auch der Grund, weswegen gestern vom Divisionskommando ein geheimer Befehl herabgelangt war, unser ganzer »Artillerieabschnitt Nord« möge sich in strenger Bereitschaft halten, da die große Offensive des Feindes, in diesem Falle des russischen Generals Brussilow, täglich und stündlich erwartet werde. Plötzlich sprangen verschollene Namen des Ersten Weltkrieges in mir auf. Man kämpfte schon seit Wochen im Angriff und Gegenangriff um die berühmte Höhenstellung »Worobiowka«, Cote 310, etwa zwei Kilometer weit von meiner Schlafstätte. Ich sah über einem der beiden Holzstühle meine Uniformbluse hängen. Die roten Aufschläge und die drei weißen Sterne am Kragen leuchteten im Mondstrahl. Ich hatte es nämlich nicht weiter gebracht als bis zum Zugsführer (Sergeant) im Kaiserlich-königlichen schweren Feldhaubitzregiment Nr. 15, zugeteilt dem Artillerieabschnitt Nord.

Ich erinnerte mich mit großer Ausdrücklichkeit eines unwesentlichen Details, das ich in meinen Vorstellungen ausspann, teils um den Hochschwebenden tiefer in meine Geschichte zu locken, teils weil es ein bestimmtes Lustgefühl in mir wiedererweckte. Neben meinem Bett auf dem Schemel stand eine Weckeruhr. Trotz des Mondlichts phosphoreszierte ihr Zifferblatt. Phosphoreszierende Zifferblätter waren damals eine ziemlich neue Erfindung. Und da war auch das größte Lustgefühl des Soldatenlebens: Die Uhr zeigte mir, daß ich noch mehrere Stunden Schlafenszeit hatte. Erst um fünf Uhr dreißig Minuten mußte ich durch den bodenlosen Straßendreck die fünfzig Schritte zu unserer Telephonbaracke hinüberstapfen, um meinen Kollegen abzulösen, der den Nachrichtendienst mit mir teilte. Nichts schöner während eines harten, mühsamen Lebens, als zu erwachen mit dem Gefühl, der Morgen sei da, aber es ist noch mitten in der Nacht, und eine Ewigkeit von Schlaf liegt vor einem. Schlaf, und zumal der tiefe Jugendschlaf, ist die süße Selbstumarmung des Menschen. Ich fürchtete das Trommelfeuer nicht, das wegen des guten Wetters in jeder Minute losbrechen konnte. Ich fürchtete den Infanterieangriff der verstärkten russischen Armeen nicht, der uns schon am nächsten Nachmittag in aufgelöstem Rückzug durch die endlosen Rübenfelder dieser Landschaft jagen sollte. Ich fürchtete nicht einmal die Gefangenschaft, obwohl ich mechanisch nach dem Lederbeutel tastete, der mir um den Hals hing. In diesen Beutel hatte mir meine Mutter für den Fall der Gefangenschaft einige wenige Goldstücke eingenäht. Ich erinnerte mich mit größter Deutlichkeit, daß ich, sorglos und vergnügt, den Kopf auf meinen Armen, wieder einschlief. Und ich erinnerte mich ebenso deutlich, daß sich viel verändert hatte, als ich nach einer Stunde etwa neuerdings erwachte, oder richtiger, geweckt wurde. Das Zifferblatt meiner Uhr phosphoreszierte nicht mehr, denn der Mond schien noch viel lichter in die Kammer als zuvor. Das war aber nicht alles. Nicht nur Mond und tickende Zeit teilten mit mir Panji Pozñanskás Loch. Ein andrer war noch durch das offene Fenster eingestiegen, hatte den zweiten zerbrochenen Holzstuhl an mein Bett gerückt, saß da und schaute mich an. Es war ein Soldat. Was anderes konnte er auch sein? Außer der Pozñanská und ein paar uralten Juden gab es keine Zivilisten in diesem Frontstädtchen. Es war ein dreckstarrender Infanterist, der geradewegs aus den Schützengräben kam, die sich entlang der Ortslisière hinzogen. Der Mann hatte den typischen Grabenbart, wie er selbst den jüngsten Leuten wuchert, stachlig, buschig, wirr durcheinander, zum Teil blond, zum Teil dunkelbraun, und beides auf demselben Quadratzoll. Diese Männerbärte, die eher hemmungslos üppige Gesichtsvegetation sind, gemahnten mich immer an zusammengerollte rostende Drahthindernisse. Der an meinem Bette sitzende Infanterist war in voller Ausrüstung. Sein Rucksack hing ihm, dick gepackt, über den Schultern. An zwei schmutzigen Bändern, die sich über der Brust kreuzten, trug er links die Feldflasche und rechts den Brotbeutel. Das Gewehr hielt er zwischen den Knien. Sein kurzes, scharfgeschliffenes Bajonett hatte er aus der Scheide gezogen und schnitt damit, zu meinem Erstaunen, schlecht und recht einen tüchtigen Rand von einem säuerlich duftenden Kommißbrot ab, das er danach gemächlich wieder in den Brotbeutel zurücktat. In der linken Hand hielt er nun die dicke Brotscheibe und in der rechten das Bajonett, mit welchem er voll Gelassenheit in die Scheibe regelmäßige Einschnitte machte. Ich sah unendlich fasziniert zu, wie geschickt er das trockene, stark mit Mais versetzte Kriegsbrot zu behandeln verstand, so daß kein Brocken und Brosamen zur Erde fiel. Und nun steckte er den ersten Würfel in den Mund und begann nachdenklich langsam zu kauen. Dabei schaute er mich aus zwei sehr tiefliegenden Augen an, unaufhörlich, unabwendbar. Er schaute mich eigentlich aus gar keinen Augen an, sondern aus zwei aufmerksamen Schatten oder dunkeln Flecken. Dieser Blick war schaurig traurig. Ich fühlte den Haß dieses Mannes, der jede seiner Bewegungen höhnisch langsam machte. Mehr als Haß. Der ganze Mann war verkörperter Vorwurf. Und dieser namenlose Vorwurf, der Vorwurf der ganzen Menschheit richtete sich gegen mich persönlich, als sei ich schuld an allem, an Dreck, an Krieg, Trommelfeuer und Tod. Ich erinnerte mich mit zweifelloser Schärfe, daß ich, der soeben im Mond Erwachte, den großen Vorwurf des Eindringlings mit ganzer Seele annahm, ich, der ich nichts andres war als er, ein nichtiger untergeordneter Soldat. Ich wunderte mich keineswegs darüber, warum er nicht beim Divisionsgeneral eingestiegen war oder zumindest bei irgendeinem Major oder Oberstleutnant, sondern gerade bei mir. Ohne den düstern augenlosen Blick abzuwenden, steckte er nun mit derselben Hand, die das Bajonett hielt, den nächsten Brotwürfel in den Mund. Der Mann roch nach Schlamm und Lehm und wochenlanger Ungewaschenheit und auch nach Jodoform, als sei er verwundet und trage unter der Uniform einen Verband. Sein Mantel war nicht mehr feldgrau, oder richtiger, feldblau, wie es das österreich-ungarische Kriegsregiement vorschrieb, sondern gelbbraun wie ein Sturzacker oder ein offenes Grab.

Ich versuchte loszukommen von der Lähmung, die mich umwand, ein Wort hervorzustoßen, meine Hand zu bewegen. Nichts davon gelang. Da war ich fast sicher, der Infanterist neben mir sei ein geträumter Infanterist. Ich schloß trotz des Bewußtseins der Gefahr für mehrere Sekunden die Augen, um dem Traum die Möglichkeit zu geben, sich aufzulösen. Als ich die Augen wieder öffnete, hatte der Infanterist nicht nur das Gewehr gegen mein Bett gelehnt, sondern sich in seiner ganzen dürren Länge erhoben, als sei die Zeit da, zur Tat zu schreiten. Er kaute kein Brot mehr. Er schaute nur noch. Doch er schaute nicht mehr schaurig traurig als verkörperter Vorwurf, der er war, sondern sachlich und bemessend aus kleinen, blassen, wirklichen Augen. Seine rechte Hand hielt er hinterm Rücken verborgen. Seine Linke lag auf meiner Brust. Sie tastete den Lederbeutel mit den Goldstücken ab. Sie riß an der Schnur ...

Da verstand ich endlich. Ich lag unterm Messer des Mörders. Da gelang es mir. Ich schrie auf:

»Wer sind Sie? Was wollen Sie da?«

Es ist eine große Sache, unterm Messer des Mörders zu liegen. Wer sie nicht erfahren und überlebt hat, kann diese Sache gar nicht ermessen. Ich lag hilflos in meinen Schlafsack gewickelt, der einen Kampf unmöglich machte. Während ich aufschrie, wußte ich genau, daß ich durch diesen Schrei einen Zwang auf den Mörder ausübte, mir das Bajonett, das er hinterm Rücken verborgen hielt, in die Brust zu stoßen. Ich erwartete den Stoß auch mit tödlicher Sicherheit.

Der Infanterist aber wandte den Kopf zum Fenster. Er hörte etwas, was ich noch nicht hörte:

»Militärpatrouille, Zimmerinspektion«, sagte er kurz mit einem fremdartigen Akzent.

»Militärpatrouille« nannte man bei uns dasselbe, was anderswo Militärpolizei heißt. Ich erinnerte mich, daß diese Worte mich zuerst beruhigten. Mein Fenster stand offen und die Militärpolizei auf ihrer Nachtrunde hatte nachgeforscht, wer hier schlief. Ganz in Ordnung. Doch in der nächsten Sekunde schon wußte ich, daß der Mann in seiner schmutzigen stinkenden Montur, in Grabenausrüstung, ohne Armbinde und ohne Korporalsrang nie und nimmer der Führer einer Militärpatrouille sein konnte. Ich wickelte mich aus dem Schlafsack, was nicht gleich gelang. Dann sprang ich auf die Füße. Zum Fenster. Er kann nur einige Schritte weit entfernt sein. Draußen liefen viele Soldaten in allen Richtungen, ihre Mäntel zuknöpfend, ihre Gewehre schulternd, ihre Überschwünge festschnallend. »Militärpatrouille«, rief ich, doch niemand bemerkte es, denn das Trommelfeuer der Russen war bereits im Gange. Nach wenigen Minuten wurde es zu einem einzigen ungegliederten Gebrüll. Schon begannen die ersten Granaten einzufallen. Die schwarzen Bäume der Explosionen wuchsen aus der Erde. In einem Hause am anderen Ende der Straße saß ein Treffer.

Ruhig zog ich mich an. General Brussilow, dessen Granaten durch die Lüfte wimmerten, hatte mich vom Tode durch Mörderhand errettet. Es war eigentlich ganz unlogisch, daß der Mörder durch den Artillerieangriff sich hatte abschrecken lassen, sein Werk zu vollenden. Im Tumult der Schlacht wäre es für ihn viel ungefährlicher gewesen, zu meinen Goldstücken zu kommen als vorher. Dies war zweifellos nicht nur ein unheimlicher, sondern ein höchst wichtiger Augenblick meines Lebens, bei dem es um Tod und Leben ging. Ich hatte diese Geschichte in mir gleichsam mit Zeitlupe wiedererweckt und ausgesponnen, um sie dem Hochschwebenden in ihrer ganzen Wirklichkeit zu offerieren. Die Erinnerung hatte mich so sehr in Anspruch genommen, daß ich vielleicht eine Minute lang vergessen hatte, wo ich war.

Nun suchte ich den Hochschwebenden mit neugierigem Blick, denn er hatte sich inzwischen fortbewegt. Er schwebte nicht mehr über meinen Füßen, sondern plötzlich über meinem Kopf, und zwar mit seinem eigenen Kopf nach unten, so daß sein Buddhagesicht parallel zu dem meinen in der Luft stand. Zugleich aber geschah etwas, wofür ich zum Vergleich das Gemälde eines barocken Spaniers heranziehen muß, das, wenn ich nicht irre, im Amsterdamer Rijksmuseum hängt. Auf diesem Bilde ist ein Heiliger in Levitation dargestellt, dessen Herz mit dem Herzen Jesu Christi, der sich vom Himmel zu ihm herabbeugt, durch einen weißsilbernen, sehr materiell gemalten Lichtstrahl verbunden ist. Zu meinem Schrecken sah ich nämlich, daß von meiner Brust eine Art gelblichweißen Zwirns- oder Garnfadens ausging, den der Hochschwebende mit überraschend flinken Krüppelfingerchen auf eine gläserne Handspindel aufspulte. Es entstand dadurch mit ziemlicher Geschwindigkeit ein breites Spinngewebe, das von der Spindel herniederhing, wobei man deutlich sehen konnte, daß der Faden kein Faden war, sondern eine bestimmte Sorte von erschlafftem, konserviertem, ja eingefettetem Lichtstrahl. Das ist der wichtigste Augenblick meines Lebens, dachte ich, den er da aus meiner Herzgrube spult, selbstverständlich nicht die dumme Anekdote vom Meerschiff im Flüßlein und auch nicht jene ekelhafte Offenherzigkeit, Benoit betreffend, sondern die Mördergeschichte vom Infanteristen, die ich mit Aplomb aus meinem Lebensknäul herausgewickelt habe, weiß Gott, warum gerade diese Geschichte, die er mir nach Diktat wieder erzählen wird. Alle wirklich wichtigen Augenblicke scheinen sich in mir verkrochen zu haben wie die Fledermäuse vor dem Tag. Inzwischen war das von der Handspindel niederhängende Gewebe so lang geworden wie ein kleiner Spitzenshawl. Der Hochschwebende – er war jetzt fünf bis sechs Fuß über mir – ließ es fallen, so daß es auf mich herabschwankte, viel langsamer noch als Flaumfedern. Als das konservierte Licht mein Gesicht erreichte, befand ich mich –

 

Befinde ich mich ... Wo befinde ich mich? Ich befinde mich vor allem in mir selbst. Dieses Ichselbst ist aber ein anderes, als es vorher war. Meine Zunge stößt links oben nicht mehr an Gold, sondern an eine normale Zahnreihe. Ich bin jünger, ich bin jung. Das merke ich am Herzschlag, an der Spannung aller Muskeln, und es ist einen Blitz lang ein erquickendes Bewußtsein, ehe es sofort wieder zur Selbstverständlichkeit geworden und vergessen ist. Dann entdecke ich in diesem Ichselbst – noch lange bevor ich etwas sehe und höre – eine unsichere Verlegenheit, eine sich steigernde Nervenqual. Was ist das nur, was mich mit sehnsüchtiger Macht anzieht und zugleich wünschen läßt, ich wäre zehntausend Meilen von »Hier« und viele Jahre von »Jetzt« entfernt, obwohl ich noch immer nicht weiß, wo dieses Hier und Jetzt sich zur Einheit verbunden hat. Ich weiß nur, daß ich mich wie ein Mörder fühle.

Das erste, was ich sehe, ist die weiße Tür, die ich unendlich behutsam hinter mir geschlossen habe, als könnte ich dadurch die Wirklichkeit ein bißchen hinausschieben. Ich bin zu dieser Tür über einen langen Korridor gekommen und habe einige schwere Herzschläge lang gezögert, ehe ich klopfte und die Klinke niederdrückte. Man erwartet mich. Ich trete in eine Stille, die viel tiefer ist als die Stille draußen. Ein kahler weißer Raum. Viele Blumen. Ein Hospitalszimmerchen. Das Fenster steht offen. Es ist August, vier Uhr nachmittags, und die schwere Luft eines großstädtischen Sommertags dringt herein. Auf dem weißlackierten Krankenbett liegt die Frau, die ich liebe. Sie kann sich nur wenig bewegen. Mit einem Blick begrüßt sie mich, in dem ein Lächeln des Glücks und des Entsetzens der letzten Tage miteinander lebt. Ihr langes blondes Haar liegt offen neben ihr auf den Kissen. Sie ist blutlos weiß im Gesicht, aber niemals war ihre Schönheit glorreicher. Die Frau, die ich liebe, ist nicht meine Frau, noch nicht. Ich bin sogar verpflichtet, in dieser furchtbaren Situation fremd und harmlos zu tun. Eine Krankenschwester neigt sich dort über das Körbchen, in dem das Kind liegt. Ich muß mich beherrschen, um nicht laut aufzustöhnen. Wie ist es nur möglich, daß man von der eigenen Verworfenheit so überzeugt sein kann wie ich und doch weiterlebt? In andern Stunden sage ich mir manchmal als Strafverteidiger meiner selbst: Es gehören zwei dazu.

Jetzt aber weiß ich, daß die Frau, selbst als Sündige, die Heldin ist und das Opfer. Ich war nichts als ein leichtsinniger, gedankenloser, verantwortungsferner Ausbeuter des berauschenden Gefühls, das ich Liebe nenne. Wieso ist das Liebe? Liebe beginnt erst dort, wo man etwas aufs Spiel zu setzen und zu verlieren hat. Was habe ich zu verlieren? Ich bin ein Bohemien oder so etwas ähnliches. Ich mache Gedichte und schreibe Theaterstücke, von welcher ebenso schleuderhaften wie ehrgeizigen Tätigkeit ich und meinesgleichen den sonderbaren Anspruch ableiten, über der »bürgerlichen Weltordnung« zu stehen. Ich zweifle selbst in dieser Sekunde nicht daran, daß man mich mit andern Maßen messen muß. Zugleich aber durchdringt mich immer eisiger, immer schneidender die Erkenntnis, daß wir beide uns nicht nur gegen die bürgerliche, sondern gegen eine höhere Weltordnung vergangen haben. Mann – Weib – Kind, diese heilige Begegnung darf nicht so sein wie hier und jetzt. Ich hätte nicht eintreten dürfen in dieses weiße Zimmer mit einem lächelnden Gruß, mit einem beherrschten Gesicht wie irgend ein Freund und Bekannter. Das letztemal, daß wir uns sahen, war in dem einsamen Hause, in der schrecklichen Nacht, da sie auf Tod und Leben erkrankte. Seither sind drei Wochen vergangen, immer wieder auf Tod und Leben, Operationen und endlich die schwere Geburt. Und heute erst, nach drei schrecklichen Wochen, bekam ich Erlaubnis als ein guter Freund wie andre gute Freunde, sie wiederzusehen. Ich blicke sie so wenig wie möglich an, denn meine Selbstbeherrschung ist aufgebraucht. Jetzt müßte einer von uns endlich sprechen. Da spricht sie schon. Aber nicht zu mir. Sie schickt die Krankenschwester mit einem Auftrag aus dem Zimmer. Ich warte, scharf horchend, bis die Schwester die innere und die äußere Tür geschlossen hat, dann sinke ich neben dem Bett auf die Knie. Diese Kombination zwischen berechnendem Abwarten und plötzlichem Niederknien erscheint mir theatralisch und macht mich unglücklich wie alles andre, was ich in diesen schwerflüssigen Minuten tue. Die Frau fährt mir übers Haar. Sie sagt: »Das Kind ... Dein Kind ...«

Ich stehe auf. Auf Zehenspitzen gehe ich zu dem kleinen Korb am Fußende des Bettes. Ob die Schwester draußen horcht? Warum denke ich an die Schwester? Ich fürchte mich, das Kind zu sehen. Der Arzt, den ich unten ausfragte, hat mit den Achseln gezuckt: »Es ist kaum anzunehmen, daß es leben wird.« Das erste: Verwunderung, daß dieses zu früh geborene Kind ein voller Mensch ist, eine unsagbar ausgebildete Persönlichkeit, die von dem kleinen Körper zwar fugenlos begrenzt wird, aber nicht identischer ist mit ihm als ein Bild mit der Leinwand, auf der es gemalt ist. Ich sehe diese wohlgegliederten Händchen und Fingerchen. Ich sehe das feine, beinahe weiße Gesicht, die hohe Stirn, den überaus runden Schädel mit den rasch pulsenden Fontanellen. Es wird mir lächerlich klar, daß in diesem kugelrunden Köpfchen eine eigene, unabhängige, charaktervolle Dauer lebt, die älter ist als zwölf Tage, die so alt ist wie die Welt. Ich bin der Vater, und dies ist mein kleiner Sohn. Ich bin die Ursache, und hier ist die Folge, und die Kette von Ursache und Folge geht zurück bis zum Anfang aller Dinge. Ich sollte jetzt eine feierliche Zusammengehörigkeit empfinden, das Wunder der allernächsten Verwandtschaft auf Erden, den würgenden Schmerz des nahen Verlusts. Nichts empfinde ich, obwohl ich den schwachen Versuch mache, mir einiges davon einzureden. Doch obwohl sonst ein erprobtes Opfer von Autosuggestionen, jetzt bin ich nicht imstande, jene Regungen in mir zu erzeugen, welche die schwierige Situation fordert. Fremdheit fühle ich und Verlegenheit. Und zwar eine doppelte Verlegenheit.

Eine vor Gott und eine Verlegenheit vor dieser unabhängigen Individualität im Säuglingskörper. Das Kind ist still. Würde es schreien, wäre alles gut. Doch es fiebert hoch, und die großen blauen Augen wandern. Ich weiß, daß ich der Mutter Hoffnung geben muß. Ich will auch mir Hoffnung geben. »Wir werden schon durchkommen«, sage ich oder etwas ähnliches.

Noch einmal, ein letztes Mal, neige ich mich über das runde Köpfchen. Plötzlich ist mir das Kind näher. Ich kenne diesen kleinen fiebernden Knaben. Die Krankenschwester ist wieder ins Zimmer getreten. Ich lege mein lügnerisch harmloses Gesicht an. Die Frau sagt mit leiser Stimme:

»Als Sie vorhin ins Zimmer traten, war draußen eine Trauermusik ...«

Diese Worte geben mir die Möglichkeit, ans offne Fenster zu treten und hinauszusehen. Eine öde Straße in dem Bezirk der Hospitäler, an deren Ende die Bäume eines kleinen Parks im Spätsommer verdorren:

»Ich sehe nichts«, sage ich.

»Schließen Sie bitte das Fenster«, sagt die Frau.

Ich schließe das Fenster. Ein kurzes stummes Aufschluchzen widerfährt mir. Ich drücke meinen Kopf gegen die Scheibe. Wie ich mit der Stirne das kalte Glas berühre, befinde ich mich –

 

Befand ich mich, es ist nicht nötig, zu sagen wo. Den Hochschwebenden hatte es höher gezogen. Er paddelte mit den Ärmchen und trat die Luft lebhaft, konnte sich aber doch nicht mehr so tief unten halten wie früher. Was dieses Wort »früher« bedeutete, das heißt, wieviel Zeit vergangen war, das konnte ich nicht wissen, denn all die »Augenblicke«, die ich mir selbst vergegenwärtigt und den letzten, den ich durch die Kraft des Hochschwebenden wiedererlebt hatte, liefen nicht auf den Schienen der allgemeinen astronomischen Uhrzeit, sondern waren aus eigener, aus heterochthoner Zeit gesponnen. Der Augenblick mochte ebensogut Stunden wie Sekunden gedauert haben.

»Es war genau so, ganz genau so«, murmelte ich, »jeder Gedanke und jedes Gefühl, ich meine jede Gefühlslosigkeit ... Und nichts ist vergangen ...«

»Vergangen?« fragte die zischende Stimme der Intermundien. »Was ist das?«

Der Triumph des Hochschwebenden über mich und meine Fallenstellern war so restlos, daß ich es, trotz der gesteigerten Schwerkraft im Comptoir, nicht länger ertrug zu liegen. Ich tat meine sehr schweren Beine vom Ruhelager und blieb tiefgeduckt und mühsam atmend sitzen. Der Großchronosoph der gegenwärtigen Welt hatte aus meinem Innern das vergilbte Lichtgarn eines verschollenen Augenblicks hervorgespult, den ich längst überwunden hatte, obwohl ich ihn werde vertreten müssen, wenn alles Licht wird eingesammelt werden. Ich mußte an das siebzehnte grundlegende Paradox von Ursler denken, wie es uns der Fremdenführer auf dem Wege durch die Lamaserie der Sternwanderer zitiert hatte: »Zeit und Raum entsteht durch Licht. Licht entsteht nicht durch Zeit und Raum.« Das Licht, dieser schiffbare Strom aller Erscheinungen, trug auch diesen Augenblick weiter zur Mündung.

»Es ist ein schrecklicher Augenblick«, sagte ich. »Aber warum der wichtigste?«

Noch einmal erhielt ich Antwort:

»Weil der verbindungsreichste Augenblick der wichtigste ist.«

Ich verstand das. Plötzlich verstand ich aber noch viel mehr. Wie ein hochgespannter Strom durchzuckte es mich. Kugelrund war der nackte Buddhakopf des Hochschwebenden. Kugelrund war das nackte Köpfchen des Kindes im Korb. Und noch ein anderer Kopf war kugelrund. Der Kopf des kleinen Sternentänzers, der Kopf des künftigen Hochschwebenden. Und mehr als der Kopf. Das Gesicht des Sternentänzers glich ebenbildlich dem Gesicht des Kindes im Korb. War das der Verbindungsreichtum jenes Augenblicks?

Atemlos heiser entrang sich's mir:

»Ist der Knabe, den sie Io-Knirps nennen, der meinige?«

»Die dritte Frage ist beantwortet«, kam es streng zurück. Ich hielt die Hände vor die Augen. Nicht mehr wagte ich zu sprechen. Als ich nach einer Weile aufsah, war der Hochschwebende verschwunden. Das heißt, er klebte wieder oben in einer Ecke des Gewölbes, hoch über den Hängematten und Fischernetzen aus silbernen Spinnweben, als ein dunkles Bündel, eine sonderbare Kesselpauke, dicht an den Felsen gepreßt. Er litt an einem Leiden, das mir, dem Urmenschen, noch unzugänglich war. Von meinem Leben, welcher Art immer es sein mochte, nahm er keine Notiz mehr, obwohl er von diesem Leben hundertmal mehr wußte als ich selbst. Gebieterisch schwankten die Gewebe der wundervollen Sternspinnen ringsum unter der Wölbung der Kanzleihöhle. Nun wußte ich, daß die Spinnweben des Arachnodroms ein Archiv wohlkonservierten Geschehens waren, das man im »Comptoir« registierte.

Als ich später den Djebel verließ, war ich nicht mehr derselbe, wie ich ihn betreten hatte. Ich kann es weniger eine moralische Veränderung nennen, als eine Verwandlung meines ganzen Lebensgefühls. Sie dauert auch jetzt noch an, da ich in einer frühen und ziemlich primitiven Welt diese Seite hier beende.


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