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Drittes Kapitel

Worin ich am Schluß ein neuartiges Mittel der Fortbewegung kennen lerne.

 

Nach diesem Gespräch, das mir sehr kurz erschien, begann ich die Gegend, wo wir uns befanden, schärfer ins unsichtbare, aber sehende Auge zu fassen. Ohne Zweifel, wenn auch sonderbarerweise, hatten B.H. und ich, zwei Städter durch und durch, einander auf dem flachen Lande begegnet. Es war das flachste Land, das ich je erblickt, und es schien zu alledem auch noch ein ganz unbewohntes Land zu sein. Nicht die geringste Andeutung einer städtischen oder dörflichen Siedlung, so weit die Sehkraft reichte. Keine Baulichkeit irgendwelcher Art hob sich von der glatten Ebene ab, keine Tankstelle nah oder fern, kein Wasserrad, ja nicht einmal eine jener großen Reklametafeln, wie sie sonst selbst die einsamsten Wüstenstrecken flankieren. Die Empfindung aber, auf einer Straße zu stehn, konnte ich trotz der unbeschränkten und unparzellierten Ödigkeit ringsum nicht loswerden. Der dichte, wundersam kurz gehaltene, eisengraue Graswuchs, der den Erdboden ununterbrochen bedeckte, konnte nur auf menschliche Pflanzung und Pflege zurückzuführen sein. Der ganze Umkreis, von Horizont zu Horizont, war gewissermaßen Landstraße, eine Straße, anstatt mit Asphalt, mit diesem trauerfarbenen Teppich für Lustwandelnde belegt, eine Straße ohne die leiseste Erinnerung an einen Verkehr und dennoch so, als sei sie irgendeinmal von einem schier unermeßlichen Verkehr verlassen worden, damals, als tausend Reihen von Blitzgefährten nebeneinander in beiden schnurgeraden Richtungen hin und zurück rasten. Erst allgemach erkannte ich, daß die Glätte und Ödigkeit der Gegend nicht so ununterbrochen war wie ich zuerst vermutet hatte. In großen Abständen offenbarten sich meinem Auge, das sich der völligen Unvertrautheit dieser Welt erst langsam anpassen mußte, größere Baumgruppen, oder richtiger Baumhaufen, denn so dicht waren sie gesetzt, daß sie keine Lücken und Scharten aufwiesen und widernatürlich kompakt wirkten. Diese Bäume – es brauchte einige Zeit, ehe ich in ihnen Bäume erkannte – waren alle gleichartig und ziemlich niedrig. Ihre starren Kronen wurden von ledrigem und beinahe schwarzem Laub gebildet, aus welchem große wächserne Blüten hervorleuchteten, deren gelblichem Weiß verschiedene Andeutungen von Farbe zugemischt waren. Ich hatte ähnliche Gewächse nie gesehn. Es fiel mir sofort auf, daß diese Baumhaufen, sofern sie irgendein Leben überwölbten, ein zartes und wehleidiges Leben hüten mußten.

Der Himmel war wolkenlos und glich in seiner tiefblauen Vereinsamung dieser grauen Erde hier unter seinem Bogen. Vermutlich war die Tageszeit ziemlich fortgeschritten, denn der Sonnenball, der mir etwas röter erschien, als ich ihn in Erinnerung hatte, warf schiefe, aber grelle Strahlen und erzeugte eine Temperatur, die man kalte Hitze oder heiße Kälte hätte nennen können. Obwohl mich das Bedürfnis nach dunklen Brillengläsern erfaßte, fror mich zunehmend, trotz meiner unsichtbaren Körperverfassung.

Ich sah B.H. fragend an, vielleicht sogar ungeduldig. Sofort erriet er meine Gedanken. Er hatte eine Art, meine Gedanken zu erraten, die mir sehr unbehaglich war. War das Tibet, fragte ich mich, oder sollte es die Errungenschaft einer Menschheit sein, die sich längst nicht mehr in ihren Anfängen befand? Zu dem verlegenen Nacktheitsgefühl meiner Unsichtbarkeit trat somit die furchtsame Scham hinzu, mein Denken, Wünschen, Planen, meine Zustimmung, meine Ablehnung, meine Zweifel und meine Kritik nicht völlig verbergen zu können.

»Unser Rendezvous«, sagte er, ohne meine Frage abzuwarten, »spielt sich in California ab.«

»Wie das, B.H.?« gab ich zurück, ohne eine Anwandlung raschen Ärgers verwinden zu können. »California kenne ich. Dort hab ich gelebt. Dort lebe ich vielleicht noch immer, trotz deiner merkwürdigen Theorie über mich und mein Totsein (übrigens erinnere ich mich nicht, dir ein Rendezvous gegeben zu haben). Hättest du mir gesagt, wir befänden uns hier im Mittelwesten des Kontinents, dort wo einst die endlosen Prärien sich dehnten, ich hätte dir ohne weiteres geglaubt. Aber California kenne ich ziemlich gut. Man nennt es mit Fug und Recht paradiesisch, obwohl gewisse Snobs mißbilligende Bemerkungen über diesen schönen Erdenfleck zu machen pflegen und sogar behaupten, sie zögen das platte Florida der abwechslungsreichen Westküste vor. Diese Snobs schelten California eine mit künstlicher Üppigkeit überzogene Wüste, deren geschminkte Rosen, Bougainvillas, Poinsettias und sonstige Blumen nicht duften, deren Früchte und Gemüse nicht schmecken und deren Menschen schöngewachsen, aber gewissermaßen lemurisch sind. Das mag damit zusammenhängen, daß California, noch lange vor den uns beiden so vertrauten Anfängen der Menschheit, zu dem teilweise versunkenen Kontinent Lemuria gehörte. Davon hat sich eine Erinnerung erhalten. Die Lemuren scheinen ein schattenhafter, unernster Stamm gewesen zu sein, übertünchte Gräber, mit einem Wort, Schauspieler, die der Welt allerlei Gefälschtes und Gefärbtes vorgaukelten, das ernster Prüfung nicht standhielt. Es gibt einen zeitgenössischen Ausdruck für dieses Ur-Lemurische, das Wort »phony«, und so rümpfen die Snobs heute (ich meine mein eigenes Heute oder Gestern) ihre Nase über California hauptsächlich deshalb, weil dort in einer berühmten Stadt jene Filme, jene photographischen Phantasiegeschichten hergestellt werden, welche ihre Zeit erobert haben, obwohl oder gerade weil sie lemurisch sind. Aber vielleicht weißt du und deine gegenwärtige Menschheit gar nicht mehr, was das ist, ein Film?«

B.H. schüttelte langsam den Kopf und sah mich aufrichtig an:

»Nein, das wissen wir wirklich nicht.«

»Gleichviel, B.H.«, fuhr ich fort, leicht verwundert über meine eigene erregte Beredsamkeit. »Dieses California ist zumeist ein bergiges Land. Gegen Osten erheben sich die gewaltigen, schneebedeckten Sierren, die vielleicht noch keines Menschen Fuß erklomm. Aber auch im Westen, wo der Pazifische Ozean die Küsten benagt, gibt es überall Berge und Hügel, und wären's auch nur Sandhaufen aus verwittertem, zerbröckeltem Urgestein. Dazwischen ziehn die breiten Täler hin, mit unendlichen Obstkulturen bepflanzt, Orangen, Limonen, Grapefruits, immer ist Blütezeit, daß einem Hören und Sehen vergeht von dem Duft. Und selbst die Wüsten blühen im April rosa und violett mit ihren hundertfältigen Kakteen. Wo immer man steht und geht, blauen die Berge in der Ferne. Hier aber ...«

»Du vergißt«, unterbrach mich B.H., »daß du einige längere Erdepochen versäumt hast.« (Es klang nach »unentschuldigt versäumter Schulzeit«.) »Inzwischen sind die meisten Erhebungen der Erdoberfläche eingeebnet worden, teils durch die ordnungsgemäß geologische Entwicklung des Planeten, teils durch den Zweckwillen seiner Bewohner und teils durch jenes grandios entscheidende Ereignis, von dem ich vorläufig noch schweigen will, um dich nicht allzusehr zu erschrecken ... Berge aber gibt es nur mehr außerhalb der Kulturzone ...«

Dagegen ließ sich freilich nichts mehr einwenden. Nur um zu nörgeln, brummte ich noch:

»Das alles ist so monoton ... Ich wünschte mir eine Stadt hierher.«

»Wir sind in einer Stadt«, meinte mein Freund gutmütig und freute sich dieser Pointe, ehe er nach einer Weile erklärend hinzufügte: »Wir sind in einer Stadt, wofern du unter diesem Worte eine zusammenhängende Siedlung verstehst. Alles was du siehst, ist Stadt. California ist der Name einer Stadt. Sie geht nach einigen hundert Meilen Weges in Städte über, die anders heißen, obwohl die Grenzen zwischen diesen Städten abstrakter, ja rein geistiger Natur sind, denn der ganze bewohnte Globus ist eine einzige Stadt.«

»Nun gut, nenn es Stadt«, sagte ich, mehr müde als friedfertig, »obwohl ich jetzt mit Heimweh an die Türme und Tore unsrer mittelalterlichen Heimatstadt denken muß, an ihre Hochburg, den Hradschin, und an ihre gotischen und barocken Paläste ... Wie? Und hierher bin ich eingeladen? Hast du mir nicht vorher verraten, daß ich hierher eingeladen bin, oder sollte ich's nur geträumt haben?«

Seine Stimme wurde ein wenig feierlich:

»Du bist mehr als eingeladen. Man hat dich zitiert ...«

Meine Unsichtbarkeit kam zweifellos meiner Intelligenz und schnellen Auffassung zu Hilfe. Ich verstand sofort. Man hat mich zitiert. Wen »zitiert« man? Die Geister der Verstorbenen. Ich selbst war, ohne ein Gefühl besonderer Unheimlichkeit, ein solcher Geist. Und wer zitiert uns? Die Spiritisten, als da zumeist sind alte, jumperstrickende Damen, pensionierte Generale des Friedensstandes, ausrangierte höhere Staatsbeamte und so weiter. Wer kennt nicht diese leichtgläubige Gesellschaft um ein hopsendes Tischchen?

»Also so weit habt ihr es gebracht«, fuhr ich unziemend auf, »daß ihr diese Fingerübungen der Ärmsten im Geiste aus den Anfängen der Menschheit repetiert und die Intelligenzen der Toten zitiert? Plato, Napoleon, Jack the Ripper und Madame Pompadour? Wie? Ist das ausdenkbar? Und ich, ich muß es mir gefallen lassen, eine Materialisation zu sein, obwohl selbst das eine Übertreibung ist, denn ich bin ja nicht einmal ein ekdoplastisches Phänomen, sondern schlechthin unsichtbar und nur als Bewußtsein vorhanden.«

B.H. blieb ruhig und ernst:

»Manches, was dir noch viel unausdenkbarer erschiene, würdest du es kennen, wir haben's längst verworfen; einiges aber haben wir gerettet und fortentwickelt, was du verachtet hast zu deiner Zeit.«

»Zu meiner Zeit? War's nicht auch deine Zeit, B.H.?«

»Gewiß, F.W., es war unter andern Zeiten auch meine Zeit.«

Bitter drang es aus mir hervor:

»Und warum hast du mich zitieren lassen, gerade mich?« Erst nach einem langem Schweigen fragte er mich zur Antwort:

»Hast du nicht in den letzten Tagen viel an mich denken müssen, F.W.?«

»Jedenfalls scheine ich nur durch dich in diese Verlegenheit gekommen zu sein, mich hier zu befinden.«

»Nein, man hat allgemein deinem Namen zugestimmt«, wehrte er rasch ab.

Mich aber durchschauerte es eitel bei diesen Worten, vom unsichtbaren Scheitel zur unsichtbaren Sohle. Wie, nach fünfzig-, sechzig-, ja vielleicht hunderttausend Jahren kennt man noch meinen Namen? Berge sind eingeebnet, Meere sind ausgetrocknet, die Gravitation der Sonne scheint abgeschwächt, vermutlich ist ihr die Erde ferner gerückt, wie diese grellen aber matten Strahlen beweisen, unter denen selbst ein Gespenst wie ich friert. Vielleicht sind auch die Tage länger geworden und mit ihnen das menschliche Leben. Trotz dieser Verwandlung jedoch über alle Maße und Begriffe, kennt man noch meinen Namen, den Namen eines Menschen, dessen ganzes verdienstloses Verdienst es ist, zwischen endlosen Perioden von Dumpfheit und Faulheit in ein paar kurzen aufgeputschten Stunden eine Anzahl von nackten Seiten Papiers mit Worten angefüllt zu haben, gereimten und ungereimten. B.H. erriet natürlich meine überheblichen Gedanken ohne Verzug.

»Nein, nein, mein Lieber, das ist es nicht«, lachte er, beinahe boshaft. »Für solcherlei hat man fast gar kein Verständnis mehr. Ich habe deinen Namen einfach aus dem Alphabet gestochen, ›durch Zufall‹, würde man damals gesagt haben, in den dunklen Anfängen der Menschheit. Dein Name gefiel allen Hausgenossen recht wohl, und sie meinten einhellig, F.W. soll unser Hochzeitsgast sein, und er soll einen Blick tun aus seiner primitiven Zeit in unsere fortgeschrittene Zeit. Und wir wollen uns durch ihn von der körnigen Kraft jenes urtümlichen Weltalters anwehen lassen, von dem wir nur so wenig wissen ... Das ist alles! Und deshalb hat man dich zitiert.«

»So, so, da bin ich nun plötzlich ein Hochzeitsgast und eine Art Darwinscher Affe«, murmelte ich vor mich hin, während ich blitzschnell meine außergewöhnliche Lage überschlug. Ich bin gestorben vor mindestens sechzig- bis hunderttausend Jahren oder noch mehr, jedenfalls vor einem geradezu astronomischen Zeitraum. Das Interregnum zwischen meinem Tod und dem jetzigen Augenblick habe ich nicht ganz bewußtlos zugebracht. Das abgelebte Leben in mir wirkte so stark nach, daß die schier unendliche Pause mir nicht länger und wichtiger erscheint als eine kurze Nacht. In dieser kurzen Nacht freilich scheint mich einiges betroffen zu haben, das sich noch nicht ganz zum Lichte durchgerungen hat. Währenddessen aber hat mein Freund B.H., von tibetanischen Mönchen trainiert, eine oder mehrere Wiedergeburten durchmessen, der fixe Kerl. Und jetzt gerade nimmt er neuerdings teil an einer fortgeschrittenen Epoche der Menschheit, wo man mit hundertsieben Jahren einem Studenten von 1910 gleicht. Er ist es, der mich dank dem technisch hochentwickelten Spiritismus dieser Läufte hat ins Leben zitieren lassen, wenn auch nicht ins richtige Leben. (Noch war ich von meinem Reiseerlebnis nicht weit genug fortgerissen, um nicht zu zweifeln, ob dies das richtige Leben sei.) Was tut's? Ich sollte weniger empfindlich und cholerisch sein. Mein unsichtbarer Zustand, wenn auch mit wahrem Leben nicht zu vergleichen, erspart mir andererseits die Fährnisse, Risken und Sinnesverdunklungen einer Existenz, die mit sich selbst identisch ist. Ich darf meine Neugier frei schweifen lassen. Eine ähnliche Gelegenheit bietet sich selten wieder. So dachte ich. Laut aber rief ich aus:

»Worauf warten wir noch, B.H.? Gehn wir vielleicht zu Fuß zu dieser Hochzeit?«

»Ja«, nickte er, »natürlich gehn wir zu Fuß, wir haben ja nur vierhundert Meilen Wegs.«

Ich hatte mich sicher verhört. Darum drehte ich mich um meine eigene unsichtbare Achse, nach allen Seiten Ausschau haltend.

»Wo ist dein Auto? Wo ist der nächste Parkplatz? Ich nehme an, daß heutzutage jeder Säugling seinen eigenen Kraftkinderwagen besitzt, der von der Mutter, die zu Hause wirtschaftet, mittels Kurzwellen sicher durch den tödlich dichtesten Verkehr gelenkt wird. Das war ja beinahe zu meiner Zeit schon erreicht.«

»Meinst du unter Auto und Kraftwagen etwas, das auf Rädern gerollt wird?« fragte der Wiedergeborene, und Anstrengung des Denkens und ein leichter Abscheu lag um seinen jugendlichen Mund. Ich suchte Fassung zu bewahren:

»Hör einmal, B.H., du behauptest, wir befinden uns hier inmitten einer Stadt, einer zusammenhängenden Siedlung. Was für eine Stadt aber ist das, die einer noch nicht entdeckten oder schon wieder verlassenen Urlandschaft gleicht in ihrer Pontischen Trostlosigkeit? Erinnerst du dich nicht aus deinen verschiedenen Reinkarnationen, was eine moderne Großstadt ist oder war? Hast du vergessen die zehntausend schnittigen, lautlos gleitenden Gefährte, die von den roten Stoplichtern wie Brandungen gestaut, von den grünen entlassen werden wie glänzende Stromschnellen? Und die langsam sich weiter schiebende Lava der gierig erregten Menge vor den riesigen Spiegelscheiben der Schaufenster, die stets aufs neue die ermüdete Sinnlichkeit aufstacheln zu erfüllbar-unerfüllbarem Wunschleben? Und in der Nacht die kreisenden, jagenden, zuckenden Figuren des Neonlichts zu unsern Häupten? Was rede ich da? Ich komme mir vor, als wäre ich in die reaktionärste Leere verschlagen, ja, meiner Treu, in eine ausgestorbene Welt des unfaßbarsten Rückschritts! Ist es möglich, daß die Technik, an deren früher Wiege wir standen, der wir eine Unendlichkeit von Zukunft und Wohltat zubilligten, ganz und gar verloren und vertan sei binnen sechzig- bis hunderttausend Jahren?«

Der alte Freund lächelte nachsichtig zu meinen Worten.

»Es hat weit weniger bedurft«, sagte er, »als solch einer Zeitspanne, um das auszuschalten, was du vermutlich mit dem heute verloren gegangenen Begriff Technik ausdrücken willst, obwohl gerade während dieser Zeitspanne jenes ungeheure Ereignis eintrat, das allein schon genügt hätte, das geschichtliche Gedächtnis der Menschheit auszulöschen. Dieses Gedächtnis aber ist nicht ausgelöscht worden, sondern nur ein bißchen verwischt, was die Zeiten vor dem Ereignis betrifft. Zum Beweise des Gesagten möge dir dienen, daß wir noch immer die Jahre, wie in den Anfängen der Menschheit, von Christi Geburt her rechnen. Die Technik aber, wenn ich mich recht erinnere, ein primitiver Greuel, zusammengesetzt aus Massenmord, Benzingestank, elektrischer Hochspannung, Atomzertrümmerung, leerer, langsamer Geschwindigkeit und entnervender Bequemlichkeitssucht, unsereins könnte sie nicht mehr ertragen ohne ernstlich zu erkranken. Wer zum Beispiel würde sich in eines jener plumpen Rädervehikel setzen dürfen – man bewahrt einige davon noch auf – ohne einer Nervenkrise ausgesetzt zu sein...«

Er hielt inne und sah mich zögernd an. Ich bemerkte, recht eigentlich zum erstenmale, daß B.H. eine alte Felduniform trug und Wickelgamaschen an den Beinen hatte. Bei näherem Hinschauen aber war's nur die Nachahmung, die Kopie einer alten Felduniform, und zwar in einem mir unbekannten, überaus feinen, silbergrauen Schleierstoff.

»Ich will dich nicht beleidigen, F.W.«, fuhr er fort, »die Menschen haben ihre Kräfte immer angestrengt und ausgedehnt bis an die Grenzen, die ihnen ihre Zeit setzte. Auch wir verwenden selbstverständlich technische Hilfsmittel, wenn du willst. Nur ist unsre Technik lautlos, bescheiden und nicht physikalischer oder chemischer, sondern mentaler Art. Sieh dir zum Beispiel dieses Instrument an, das jeder Zeitgenosse bei sich trägt. Es erspart unsern Eingeweiden, die ihre Ruhelage nicht verändern sollen, jegliches Abenteuer auf rollenden Rädern. Es erspart uns sogar das Abenteuer von Raketen-Luftreisen der primitiven Zeit, jene Reiseart, die dem Sauerstoffhaushalt menschlicher Herzen und Lungen einst so übel zusetzte, daß gewisse Generationen es nicht über fünfzig Jahre Lebensalter bringen konnten. All die Generationen, die durch die Luft hin und zurück eilten, um zu kaufen und zu verkaufen, mußten den frühen raschen Herztod hinnehmen wie ein Naturgesetz. Diese Schädigungen hat gottlob die Menschheit überwunden, ich vermag dir gar nicht zu sagen seit wie vielen Jahrzehntausenden! Die Historiker sind sich nicht einig über den genauen Zeitpunkt, wann die materielle Reiseart von der mathematisch-mentalen Reiseart abgelöst worden ist. Daß sich dieser Zeitpunkt aber im dunkelgrauesten Altertum verliert, darüber herrscht kein Zweifel...«

»Mathematisch-mentale Reiseart?« fragte ich bestürzt.

»Diese Sache«, tröstete er mich, »beruht auf einer urtümlich simplen Einsicht von der Relativität aller bewegten Punkte des Kosmos im Verhältnis zueinander. Simpel wie alles Große ist diese Sache, und man sieht geradezu den braven, namenlosen Handwerksmann mit glattem, schlichtem Weißhaar vor sich, der in mythischer Vorzeit die Relativitätstheorie ausgesonnen hat. Kurz gefaßt: wir bewegen uns, wenn wir reisen, nicht auf das Ziel zu, sondern wir bewegen das Ziel auf uns zu.«

Während dieser Erklärungen hielt er mir ein Ding unter die Nase, das größer war als eine Taschenuhr und kleiner als ein Barometer, also ungefähr einem bescheidenen Kompaß glich. Da ich auf B.H.s abgebissene Fingernägel starrte, wurde ich nicht sogleich gewahr, daß ich Instrumente gleich diesem längst schon gesehen hatte. Es schien mir eines jener Geduldspiele aus meinem Kindheitsbesitz zu sein, bei denen man durch geschicktes Manövrieren bunte Kügelchen in die dazu bestimmten Löchlein praktizieren mußte.

»Ich verstehe nichts von Mathematik«, sagte ich ausweichend, während ich das alte Spielzeug betrachtete, staunend und von unsagbar schwermütigen Empfindungen bewegt.

»Die Mathematik ist nur ein Hilfsmittel«, beruhigte mich B.H. »Sie ist eine tautologische Operation, die ein Zeichen einem andern gleichsetzt, um durch solche Gleichsetzungen zu unbekannten Resultaten vorzudringen. Auf der Leiter der Gleichsetzungen läßt es sich freilich getrost herumklettern, wie du sehr bald selbst erfahren wirst.«

Und indem er mit stumpfem Zeigefinger auf das glasbedeckte Zifferblatt des Geduldspiels hinwies:

»Siehst du hier die beiden konzentrischen Kreise der kleinen Löchlein? Der äußere gehört der Mathematik an. Da müssen die blaßblauen Kügelchen hinein. Hier! Da du unsichtbar bist, kannst du gewiß auch ohne Brille diese Diamantschrift lesen ...«

Und ich las ohne Brille und ohne Mühe: »›Galaktischer Zeitpunkt‹ – ›Planetarer Zeitpunkt‹ – ›Kontinentaler Zeitpunkt‹ – ›Örtlicher Zeitpunkt‹ – ›Galaktischer Raumpunkt‹ – ›Planetarer Raumpunkt‹ – ›Kontinentaler Raumpunkt‹ – ›Örtlicher Raumpunkt‹ – ›Genaue Winkelneigung des Lichtstrahls‹.«

»So, da wären wir«, sagte B.H., während er mit jungenhafter Freude an seiner Überlegenheit die blaßblauen Kügelchen in die Löchlein hineinbalancierte, welche die obigen Beschriftungen zeigten. Die Geschicklichkeit, mit welcher er das Geduldspiel beherrschte, war mir geradezu unfaßlich.

»Ich verstehe nichts davon«, stieß ich hervor, »und ich will auch nichts davon verstehen.«

Unbeirrt von meinem Widerstand, setzte er seine Belehrung fort, mit dem Fingernagel den innern Kreis auf dem Zifferblatt des Instrumentes nachziehend:

»Siehst du, hier? Viel wichtiger als der mathematisch-astronomische ist der mentale Zirkel. Verzeih, den Begriff ›mental‹ könntest du vielleicht mißverstehen. Es wird damit nicht eine bloße Tätigkeit des Intellekts gemeint; als mental bezeichnen wir jede Seelenregung, jede Emotion, die vom Lichte des Bewußtseins reingewaschen und somit vergeistigt wird ... Warum bist du unaufmerksam? Strengt es dich an, zuzuhören ...? Hier, lies mit mir die Termini über den Löchlein, in die ich jetzt die hellen grünen Kügelchen einrollen lasse: ›Willensrichtung‹ – ›Veränderungsdrang‹ – ›Zielsicherheit‹ – ›Mutmaßliche Dauer der Ungeduld‹ – ›Mutmaßliche Dauer der Geduld‹.«

»Halt, B.H.«, unterbrach ich ihn, ernstlich verwirrt. »Ich bin eingeladen oder ›zitiert‹, was viel ärger ist, bei wildfremden Leuten. Ich weiß nicht, wie und wer diese Leute sind, wie sie heißen, und wie sie leben. Ich kenne nicht ihre Sprache, ihre Sitten und Gebräuche, ihr Zeitalter, das von dem meinigen, den Anfängen der Menschheit, vielleicht hundertzwölftausenddreihundertfünfundzwanzig Jahre getrennt ist. Du hast dich durch mehrere Wiedergeburten durchgeschlagen und davon ein Savoir Vivre behalten, mit dem du in jeder Gesellschaft weiterkommst. Weißt du denn, wie mir zumute ist, einem von Natur schüchternen und verlegenen Menschen, der schon im Jahre 1930 nur mit Schweißtropfen auf der Stirn ein fremdes Wohnzimmer betrat? Wie soll ich mich benehmen? Wie soll ich mich verhalten? Der einzige Vorteil, der meinen Nerven zugute kommt, ist der, daß ich unsichtbar bin. Du kannst mich nicht so mir nichts dir nichts der Friktion einer solchen Begegnung aussetzen, nach einer vollen Ewigkeit der Entwöhnung ...«

»Da habe du keine Sorge«, lächelte er gütig. »Deine Schüchternheit, deine Verlegenheit entstammt ja nur einer menschenfresserischen Zivilisation, einer auf götzendienerischen Tabus errichteten Gesellschaft, wo oben und unten, groß und klein, reich und arm, schön und häßlich durch tödliche Abgründe voneinander getrennt lebten! Ich verspreche dir, du wirst den freundlichsten, den hübschesten, den taktvollsten Leuten bei der Hochzeitsgesellschaft begegnen, in wenigen Minuten ... Siehst du, es fehlt nur mehr das letzte hellgrüne Kügelchen für das Löchlein, über welchem die Worte stehn: ›Scharf eingestellter Wunsch.‹«

»Hab doch ein Einsehn, B.H.«, bat ich, »ehe es zu spät ist. Du kannst mich doch nicht ohne alle Informationen und Ratschläge hineinschneien lassen in diese Welt! Vielleicht wäre es am klügsten, das Ganze jetzt noch rückgängig zu machen. Bitte, bitte, hilf mir! Vielleicht kannst du mich verschwinden lassen. Du weißt, ich bin stolz. Ich möchte mich nicht gern blamieren.«

So peinlich dieses Bekenntnis für einen Reiseschriftsteller auch sein mag, in diesem Augenblick war meine Eitelkeit, mein Hochmut und meine Angst größer als meine Neugier und die gebotene journalistische Abenteuerlust. B.H. aber kümmerte sich nicht um mich, sondern hatte jetzt einige Mühe, das letzte Kügelchen ins letzte Löchlein zu bringen und damit das Ziel auf uns zu bewegen.

»Sei nur nicht nervös«, sagte er, ohne aufzuschauen, »du wirst gar nichts spüren ... Heute abend wirst du noch dein eigenes Instrument besitzen.«

Und er faßte mich mit seiner freien Hand unter, so daß wir eine Einheit bildeten.

Als das Kügelchen endlich in das Löchlein des »Scharf eingestellten Wunsches« sprang, gab es einen kleinen, angenehmen Knax, nicht ein Zehntel so deutlich wie der leichte elektrische Schlag, den man an klaren Wintertagen in New York erhält, wenn einem jemand die Hand reicht. Ich erwartete nun, die Ferne werde lautlos aber rapid unserm festen Standort entgegenstürzen. Nichts dergleichen geschah. Man mußte schon einen scharfen Beobachtungssinn besitzen, um unmittelbar zu erkennen, daß sich Zahl, Lage und Anordnung der großen Baumhaufen ringsum auf der endlos öden Ebene ohne Übergang verändert hatten. Einer dieser dichten Baumbestände lag nun keine fünfzehn Schritte von uns entfernt. Blaß leuchteten die wächsernen Blüten mit ihren vagen Farbandeutungen von den regungslosen Zweigen im schwarzen, ledernen Laub. Wir waren am Ziel, oder genauer, das Ziel war an uns. Wir begannen, unsre Beine zu bewegen, B.H. seine sichtbaren, ich meine unsichtbaren. Es war ein merkwürdiges Vergnügen, auf diesem grauhaarigen Rasenteppich auszuschreiten, mit dem der ganze gealterte Erdball belegt zu sein schien.

Plötzlich konnte ich mich nicht länger beherrschen, blieb stehn und schrie B.H. an:

»Ich gehe keinen Schritt weiter, ehe du mir nicht sagst, was du unter dem ›ungeheuern Ereignis‹ verstehst, mit dem du mich nicht erschrecken willst ...«


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