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Sechzehntes Kapitel

Worin ich am Rande eines Dschungels der mentalen Epoche stehe und Zeuge des Exodus der Hauskatzen sowie des ersten Blutvergießens werde.

 

Meine dumpfe Ahnung, die während des Ganges durch die Lamaserien des Djebel nicht von mir gewichen war, hatte mich nicht betrogen. Irgendetwas Unangenehmes bereitete sich vor. Ich münzte anfangs meine Besorgnis auf das Haus und den Zirkel meiner neuen Freunde. Glücklicherweise war das ein Irrtum. Was sich da heimlich vorbereitete, betraf vorerst nicht eine einzelne Familie, sondern die ganze Welt-Wohngemeinschaft, die ganze Panopolis, deren innere Grenzen, wie man uns schon verraten hatte, nur geistig und daher nicht markiert waren. Die Unifikation der Menschheit schien auch ihre verdammten Nachteile zu haben, denn folgender Argwohn ließ sich nicht abweisen: Wenn's an einem Orte losging, mußte notwendig jeder andere Ort mitgerissen werden, von Pol zu Pol. Ich war über mich selbst recht sehr verwundert, weil ich Erleichterung fühlte, daß »zu Hause« nichts passiert war. Man staune doch mit mir über die Feilheit meines oder sogar des menschlichen Charakters im allgemeinen: Schon fühlte ich mich zu Hause, hunderttausend Jahre von mir selbst entfernt. Schon war ich attachiert an irgendwelche wildfremde, unbegreifliche Kreaturen, die sich teils in verwischte Nacktheit, teils in changierende Schleiergewänder hüllten, die an farbigen Säftchen und Süppchen nippten, wie sie der Arbeiter im Tal der Quellen und Kräfte mittels sideraler Einwirkung für alle Welt braute. An all das hatte ich mich schon voll gewöhnt, und es war mir selbstverständlich geworden, nicht anders als in meinem Vorleben der Wechsel der Kost auf einer Reise. Unheimlich schnell war sie erfolgt, selbst für meine impressionable Person, diese Assimilierung, zumal wenn man berechnet, daß ich erst gestern genau um diese Zeit zum ersten Mal auf dem kurzen eisengrauen Rasen der mentalen Kultur stand und inzwischen auch noch das elastische Mare Plumbinum Merkurs unter den Füßen gehabt und auf dem roten wogenden Ödmoor Apostel Peters einen veritablen Schiffbruch erlitten hatte. Mein Besuch des Niederen Intermundiums hatte mir übrigens die alte Erde, das heißt die neue, mentale Erde, nur trauter und heimatlicher gemacht. Ich freute mich wirklich drauf ins Haus der Hochzeiter zurückzukehren. An Morgen und an eine Zukunft dachte ich nicht. Sorgloser bin ich nie gewesen. Mein Zeitsinn war völlig anästhesiert, was kein Wunder ist. Das einzige, was mir eine gewisse Bedenklichkeit einflößte, war eben diese überraschende Bindung an meine hiesigen Freunde, die ich in mir wachsen fühlte. In den letzten Jahren meines Vorlebens hatte ich mich in einer schlimmen Abart von schutzsuchendem Egoismus dagegen gewehrt, neue Menschen kennen zu lernen und neue Beziehungen anzuknüpfen. Diese Abwehr erstreckte sich sogar auf Tiere. Einen prächtigen Hund verschenkte ich, ehe ich mich noch an ihn gewöhnt hatte. Hat man einmal das fünfzigste Jahr überschritten, sehnt man sich nach nichts mehr und fürchtet man nichts mehr als neue Liebe.

Hinter der Pforte der Kanzlei wartete B.H. nervös. Der Fremdenführer dieses Zeitalters war plötzlich von Amts wegen abberufen worden. Wir irrten führerlos durch das Labyrinth des Djebel, über schiefe Ebenen, durch Schächte, Laufgänge und Korridore, mit regulierter Gravitation dahinfliegend. Hätte uns Io-Fagòr nicht persönlich herausgepeilt, Gott weiß wann wir den Ausgang gefunden hätten.

Unser Gastfreund hatte ein charmantes Lächeln vor die bedenklich ernste Grundierung seines Gesichtes getan. Verfeinerte Menschen, in fernster Zukunft wie in fernster Vergangenheit, entblößen ihre Sorge nicht gern.

»Ich hoffe, Seigneur«, sagte Io-Fagòr, »Sie nehmen drei treffende Antworten aus dem Djebel mit ...«

Ehe ich aber noch etwas erwidern konnte, fragte B.H., der den Brautvater ziemlich erstaunt betrachtete:

»Hat sich etwas Böses begeben?«

»Sie sollten eher fragen«, versetzte Io-Fagòr, »wird sich etwas Böses begeben? Um darüber einen Wink zu empfangen, haben sich Berufene an jene Instanz gewandt, welche unser Freund hier soeben verlassen hat ...«

»Nach meiner Erfahrung im ›Comptoir‹«, sagte ich, »kann ich mir denken, daß es nichts gibt vom ersten bis zum jüngsten Tage, das Seine Hochgnaden nicht weissagen könnte.«

Io-Fagòr lehnte meine Meinung mit einiger Strenge ab.

»Der Hochschwebende ist kein Wahrsager, sondern ein Wissender«, erklärte er. »Er kann nur Winke geben, was die Zukunft betrifft, denn die Zukunft der Menschen bleibt ihm selbst verborgen, weil, wie ein altes Wort überliefert, jeder Augenblick ein Knotenpunkt vieler Straßen ist, welche der Mensch nach Willkür wählt.«

B.H. fixierte noch immer unsern Gastfreund:

»Irgendwas hat sich doch begeben«, sagte er.

»Und etwas nicht ganz Uninteressantes begibt sich noch immer«, lächelte Io-Fagòr. »Erwarten Sie aber nicht zuviel, Seigneur ...«

Dann wandte er den schönen, goldgekrönten Kopf leicht hin zu B.H.:

»Ist Ihr Freund schon aufgeklärt?«

»Wenn es sich um den Dschungel handelt«, fiel ich ein, »so habe ich bereits einige Informationen erhalten.« Und ich dachte an mein Gespräch mit Minjonman und seinem Sohn.

»Ich hoffe, daß Sie nicht zu müde sind, Seigneur«, zögerte Io-Fagòr.

»Ganz im Gegenteil«, mußte ich lachen. »Die Chronosophie, die so viel Zeit und Raum verbraucht, gehört zu den erfrischendsten Wissenschaften, die ich kenne.«

»Im Anfang ist das immer so«, nickte der Gevatter. »Nach der vierten oder fünften Unterrichtsstunde würden Sie anders sprechen ... Wenn es Ihnen recht ist, Seigneur, begeben wir uns nur dahin, wo sich etwas begibt.«

Der eisengraue Rasen, sonst so gleichmäßig dicht, wurde immer dürftiger und räudiger. Wir gingen nun – wie genoß ich das normale Ausschreiten – über eine schmale Strecke, die ich bei mir das »Glacis der Unentschiedenheit« nannte, da der Erdboden hier in Verlegenheit zu sein schien, ob er seine mentale Form bewahren oder sich dem Rückfall in überwundene Vegetationen freudig hingeben sollte. Dieses Glacis der Unentschiedenheit bestand aus sandiger Erde, auf der einige mir unbekannte Distelpflanzen und kümmerliche Kakteen wucherten. Dazwischen aber gab es auch ein paar schüchterne grüne Flecke von echtem Gras und Unkraut. Dann ging's etwa fünfzig Schritte eine ziemlich steile Böschung empor, die schon entschlossener grün war. Auf der Höhe dieser Böschung schnitt uns eine Brustwehr aus gewaltigen Steinquadern den Weg und die Welt ab, denn sie zog sich wie die Chinesische Mauer endlos nach beiden Richtungen hin. Dieser Brustwehr konnten sich Unbefugte nicht ohne weiteres nähern. In ziemlich weiten Abständen nämlich sahen wir Wachen stehen, deren Aufgabe es zweifellos war, den Zutritt zur Brustwehr zu verhindern. Diese Wachen waren nicht eigentlich bewaffnet; Waffen wurden ja vom Arbeiter nicht produziert, und wenn solche in großer Zahl hier und dort noch vorhanden waren, so entstammten sie, wie Io-Do's interessante Sammlung, den Ausgrabungen, wie sie der Bau neuer Häuser notwendig machte. Die Wachen also, die breitbeinig dastanden und sich außerordentlich wichtig vorkamen, trugen in der Art mittelalterlicher Landsknechte oder wie die Schweizer Garden im Vatikan, Lanzen in der Hand, von denen jedoch die Eisenspitzen oder Stoßblätter entfernt worden waren, so daß sie den langen Alpenstöcken glichen, wie sie die Bergsteiger meiner Jugendzeit benutzt hatten. An gewissen, weit auseinander liegenden Stellen waren in die Mauer breite viereckige Söller, das heißt vorspringende Plattformen eingebaut. Wenige Schritte vor meinen Augen drängte sich eine dichte Gruppe von Menschen auf einem dieser Söller. Ich erkannte Io-Do und den lieben Herrn Io-Solip, seinen Vater. Auch der Wortführer, der Hausweise und der Beständige Gast waren da. Vor den drei letztgenannten Junggesellen mit ihrer konventionellen aufklärerischen Intelligenz war mein Respekt nach meinen großen Erfahrungen im Djebel ein wenig gesunken. Von den Damen sah ich nur unsere jugendschöne Ahnfrau. Ich gestehe offen, daß ich enttäuscht war, Lala, die Braut, nicht vorzufinden. Wie ich aber hörte, war erst der heutige Abend von der Sitte dazu ausersehn, daß Braut und Bräutigam gemeinsam in der Öffentlichkeit sich zeigten. Die vielen anderen, die hier versammelt waren und erregt von den Söllerzinnen hinabstarrten, kannte ich nicht. Man machte mir Platz wie immer, mit höflicher Scheu. Jedermann schien über meine Herkunft und Konsistenz aufgeklärt zu sein. Ich aber blieb, als ich die Brustwehr erreicht hatte, festgewurzelt stehen. Was mich am Dschungel zuerst bewegte, ja beinahe erschütterte, war die Fernsicht dort, die blaue Ferne alter Zeiten, meiner Zeiten.

Obwohl ich nicht mehr als vierundzwanzig Stunden in dieser Welt mich aufhielt, so hatte doch ihre Eingeebnetheit, ihre gegensatzlose Fläche, ihr unabsehbares Gleichmaß mich mehr bedrückt, als ich sagen kann. B.H. gegenüber hatte ich dann und wann eine Bemerkung gemacht, worauf er mich jedesmal mit der schlüssigen Erklärung tröstete, daß die mentale Verinnerlichung und Bereicherung des Menschen damit unlöslich zusammenhing, daß seine Erde äußerlich viel langweiliger geworden war. Seien, so fragte er, die für den Fremdenverkehr zurechtgemachten Gegenden des zwanzigsten Jahrhunderts im Vergleich zu den wandernden Gebirgen und brüllenden Vulkangruppen des Antediluviums nicht mindestens ebenso langweilig gewesen? Kultur sei in jeder Weise der Fortschritt vom grobfarbigen Spektakel zur zarten seelischen Differenzierung. Eines bedinge das andere. Kein Zweifel, er hatte recht. Das änderte aber nichts an meinem Unbehagen, welches in mir durch die Tatsache erweckt wurde, daß die Natur keine rechte Natur mehr war, selbst im Park des Arbeiters nicht. Jetzt aber sah ich wieder Berge, Berge ...

»Mach doch deinen Mund zu«, mahnte B.H. lächelnd. Er hatte wahrscheinlich wieder einmal Grund, sich meiner zu schämen. Man wird mir entgegenhalten, daß in der Tat keine Ursache vorlag, über den Anblick von Bergen in allzugroßes Staunen zu geraten, denn erst vor wenigen Minuten hatte ich mich ein letztes Mal umgedreht, um vom herrlichen Bilde des Djebel mit seinen regenbogenartigen Farbenbrechungen Abschied zu nehmen, und zweieinhalb Stunden vordem hatte ich mit eigenen Augen die anthrazitschwarzen und blutroten Küstengebirge des Johannes Evangelist sehen dürfen. Welch ein falscher Einwand! Der Djebel war Menschenwerk, das staunenswerteste der zukünftigen Geschichte, aber immerhin nur Menschenwerk, bedeutsamer, größer, aber nicht wesensverschieden vom Tempel von Karnak und vom Eiffelturm. Die rotschwarzen Küstengebirge Merkurs jedoch gehörten mir nicht an. Ich hatte Mühe, sie mir wieder vors innere Auge zu rufen. Dort aber die Berge waren mein, waren die Berge meiner Erde, und der leichte, kühle, holzrauchgeschwängerte Wind, den sie verströmten, trieb mir fast die Tränen in die Augen.

Die Berge stiegen gegen Westen an. Die Sonne (kein goldenes Vlies und keine Fahrradlampe, sondern die gute Erdensonne) stand schon ziemlich tief und überschüttete die Hänge mit vollem Nachmittagsgold. Die Höhen selbst wuchsen in mehreren Schichten, Tinten und Verfernungen hintereinander empor. Die letzte Schicht war schneebedeckt wie sich's gehörte, obwohl sich meinem Gefühle nach die Schneegrenze im Laufe der Jahrtausende nach unten mußte verschoben haben. Das mochte eine Folge der wachsenden Abkühlung unserer Erdkruste sein, oder die Sonne hatte seit ihrer Katastrophe an jenem dreizehnten November doch fühlbar an Wärmekraft eingebüßt, oder der verminderte Wasserdampf in der reinen astromentalen Atmosphäre verhinderte die wohltätige Ansammlung von Wärme, wie wir sie gewöhnt sind. Höhere Reinheit scheint stets mit minderer Wärme im Bunde zu sein. All diese Erscheinungen habe ich schon bei meinem ersten Eintritt in die neue Welt kurz erwähnt. Ich wiederhole sie an dieser Stelle, weil ich nach meinen chronosophischen Erfahrungen alles klarer, ich möchte sagen, alles planetarer empfand und verstand.

So vertraut mir die Linien der Berge waren, ich fühlte sie zur selben Zeit wie von einem Punkte des Grauen Neutrums herab. Im übrigen erinnerten sie mich weniger an die Waldgebirge meiner engeren Heimat als an die Apenninen oder an andere Bergzüge am Mittelmeer und am Pacifischen Ozean, in dessen nächster Nähe wir uns schließlich hier aufhielten. Was mich am meisten erstaunte, war die enorme Ausdehnung dieser Vegetationsinsel, die von den mentalen Erdbürgern völlig unzutreffend Dschungel genannt wurde. Wenn es freilich, wie man mir eingestand, mehr als hundert solcher Dschungelländer auf dem eingeebneten Globus gab, so bestand zweifellos die Gefahr, daß er über kurz oder lang seine eisengraue Langweiligkeit einbüßen werde. Die niedrige Brustwehr hier konnte die Vegetation gewiß nicht daran hindern, fortzuschreiten und immer mehr Raum der Panopolis abzutrotzen. Wenn man es mit dem Worte Dschungel auch falsch bezeichnete, das Phänomen selbst mußte für mentale Augen von beklemmender Wucht und Fremdartigkeit sein. Ich verstand Io-Fagòrs Depression besser als gestern. Plötzlich unterschied ich auf den nahen Vorhügeln mir gegenüber Pinien und Oliven und Palmengruppen und dazwischen schöne weiße Kuben:

»Da sind ja Häuschen, das sind ja Villen«, entfuhr es mir.

»Schauderhaft«, erklang eine Stimme aus der Gruppe, die mich umgab. Es war die Stimme des Wortführers. »Schauderhaft zu denken, daß Menschen in solchen Würfeln leben, und zwar oberhalb der Erde.«

»Kann man das Menschen nennen«, empörte sich Io-Do, der Bräutigam, der mit seinem Goldhelm und im schwarzen Festgewand heute schön und ernst aussah.

»Es sind Menschen«, sagte Io-Fagòr, »leider. Ich würde ruhiger sein, wenn es keine Menschen wären. Sie unterscheiden sich aber von uns nur dadurch, daß sie sonnverbrannter sind, barbarische Gewänder tragen und selbst mit den Händen arbeiten. Das ist ein geringer Unterschied.«

Hier mischte sich die holde Ahnfrau ins Gespräch, die sich mit vollendeter Grazie rechts auf den Arm des Hausweisen, links auf den Arm des Beständigen Gastes stützte. Man hatte sie zärtlich in viele Schleiershawls eingemummt, denn wenn das hohe Alter auch der Schönheit keinen Abbruch tat, so zeigte es sich doch in einer gewissen Empfindlichkeit der Atemorgane.

»Ich erinnere mich an meine eigene Ururgroßmama«, sagte die Ahnin, »sie war eine der schönsten Frauen ihrer Epoche. Als Kind, ich werde Ihnen das Jahrhundert nicht eingestehen, hörte ich aus ihrem Munde viel von dem damaligen Dschungel. Er war natürlich viel kleiner, bescheidener und unentwickelter als heute, begann aber große Mode zu werden. Da gab es gewisse Damen, die durchbrannten und im Dschungel verschwanden. Die Dschungelmänner waren aber noch viel sonnverbrannter und barbarischer gekleidet als heute ...«

»Verehrteste Madame«, unterbrach sie ihr Nachkomme Io-Fagòr gequält aber ritterlich. »Sie sollten in freier Luft Ihre samtene Stimme mehr schonen.«

»Und doch sind's keine Menschen«, trotzte der Bräutigam. »Menschen wohnen nicht oben im Freien.«

»Wir haben oben gewohnt, mein lieber Freund«, versetzte ich ziemlich spitzig, »und zwar in ebensolchen Häusern wie Sie dort sehen können ...«

Da legte sich B.H. beruhigend ins Mittel:

»Nun, nun, lieber F.W., wir wollen doch nicht vergessen, daß die Kathedralen, Stadtburgen, Kaiserschlösser, Wolkenkratzer, Flugzeugfabriken, ägyptischen Tempel und amerikanischen Gartenstädte deiner Lebenszeit doch etwas anderes gewesen sind als das dort ...«

Darauf antwortete ich nicht mehr. Mir war tatsächlich so, als stünde ich auf der Höhe eines mächtigen Festungswalles, denn die Brustwehr dehnte sich entlang am Rande eines schroffen (wahrscheinlich künstlichen) Felsabsturzes, welcher ungefähr hundert Meter hoch sein mochte und recht schwer zu erklimmen. Unter ihm lief ein breiter, grüner Festungsgraben, das heißt, ich nenne den Einschnitt Festungsgraben, der den »Dschungel« von der »Welt« trennte. Ich gewann aber den Eindruck, daß diese äußere Trennung mehr ein symbolisches als ein reales Hindernis bildete, und daß beide Teile, die mentalen Menschen und die Dschungelleute, keinen Wunsch empfanden, miteinander in Verbindung zu treten. Dies freilich war sehr sonderbar und widersprach allen Mustern der mir bekannten Geschichte. Jenseits des breiten, grünen Bandes, das hier Festungsgraben genannt wird, begann das Terrain langsam, stufenweise, terrassenartig anzusteigen und die Vegetation oder allgemeiner gesagt, das Leben dort drüben wurde Schritt für Schritt dichter.

Es war wiederum der störende Astigmatismus, der meine unbewaffneten Augen daran hinderte, alles ganz deutlich zu sehen, was zu sehen war. Aber was ich gesehen habe, das habe ich gesehen, und mein Bericht fügt nichts hinzu. Ich sah am äußersten, uns zugekehrten Rande des so ungerecht als Dschungel verschrienen und als »säuisches Getümmel« beschimpften Gebirgseilandes kleine, durch Zäune säuberlich getrennte Parzellen, wie sie ähnlich zu meiner Zeit am Rande der Städte zu finden gewesen sind. Man nannte sie Anno dazumal Schrebergärten, und sie dienten in der Periode der Weltkriege, der Lebensmittelknappheit und der schwarzen Märkte dazu, den kleinen Leuten, die dort ihr Gemüse zogen, ein wenig Zukost zum verschimmelten Elendsbrot zu liefern und, wenn es hoch ging, auch ein paar Hühner zu halten. Hinter diesen Schrebergärten zog sich ein weiter Strich von Gestrüpp und Gebüsch hin, der wahrscheinlich auch als Absonderung gedacht war. Hinter diesem Gebüsch schimmerten ein paar einfache, weiße Häuschen durch. Ich sah ein Kirchlein mit niedrigem Glockenturm und einem Kreuz darauf. Ich sah noch manches andere, obwohl ich niemanden daran hindern kann, meinen schlechten Augen zu mißtrauen. Ich sah zum Beispiel einige Felder, wirkliche echte Felder, auf denen das Getreide noch grün war. Ich sah etwas höher eine Art von Rummelplatz, sehr primitiv, mit einem laufenden Ringelspiel, einigen Schaukeln, einem Kletterbaum, wo sich eine kreischende Kinderschar vergnügte. Ich konnte sogar in der klaren Luft die bräunlichen Spatzenglieder dieser Kinder in ihren armseligen Bauernkitteln wahrnehmen und die dichten Haarpelze auf den Köpfchen, nicht nur pechschwarze, sondern auch blonde. So weit die Tatsachen. Zu ihrer Verteidigung und Deutung muß ich an das Wort erinnern, das der Wiedergeborene zu mir gestern in dem kleinen Salon gesprochen hatte, wo wir, wie Fossilien im Bernstein, saßen. Das Wort hieß »Rückfall« oder »Rückfälligkeit«. Zweifellos war vor mir die Oase mit ihrer Vegetation und menschlichen Besiedlung ein Rückfall, eine Rückfälligkeit der Natur in einen vergangenen Zustand der Erdgeschichte. Man kann sich denken, wie ganz sonderbar ich davon berührt war, daß unsere Erde, die soeben das Elfte Weltengroßjahr der Jungfrau durchlief, an dieser Stelle hier in eine Lebensform zurückgesunken zu sein schien, die ungefähr der meines eigenen Vorlebens entsprach. Ich will damit nicht sagen, daß der Dschungel vor meinen Augen ganz genau das Bild eines Dörfchens im zwanzigsten Jahrhundert darbot. Es konnte ebensogut das siebzehnte oder fünfzehnte Jahrhundert sein, vorausgesetzt, daß es im fünfzehnten Jahrhundert solche simplen Karussels schon gegeben hatte, was wohl anzunehmen ist.

Für Rückfälle der Menschheit besteht so manches Beispiel. Ich erinnere an das »dunkle Zeitalter«, das zwischen der Antike und der christlichen Zivilisation liegt. Doch mehr als das, jeder Ausbruch eines neuen Vulkans, jedes Versinken einer Insel, ja jedes große Erdbeben ist eine Rückfälligkeit der Erde in ihre Pubertät. Der Rückfall der Erde in die milde Vegetation des wohlgeordneten, saubern Dschungels dort mochte den hunderttausend Jahren entsprechen, die sie inzwischen älter geworden war. Daß verschiedene Stufen der Zivilisation nebeneinander bestanden haben, wußte ich nicht nur aus der Geschichte, sondern aus eigener Erfahrung, da ich zu meiner Zeit ein hübsches Stück der Erde gesehn hatte. Daß aber in einer längst eingeebneten und vereinheitlichten Welt sich eine primitive Gesellschaft abgesondert hatte, das war eine neue Erscheinung, für die ich kein Vorbild kannte. Der gesetzmäßige Magnetismus der höheren Zivilisation, der die niedrigere assimiliert und absorbiert, schien hier nicht in Kraft treten zu können, weil beide zu weit auseinanderlagen. Um diese absonderlichen, aus plötzlich aufgebrochenen Sümpfen im mentalen Rasen hochgewachsenen Enklaven richtig einzuschätzen, muß man sich vorstellen, daß in der Umgebung von London, Paris und New York über Nacht große Urwälder entstehen würden, mit scheuen Pygmäenstämmen darin, die sich in Klüften und Schluchten verstecken. Wir freilich, ich meine darunter meine ehemaligen Zeitgenossen, smart und hart wie wir waren (das heißt sind), hätten mit den Urwäldern bei London, Paris, New York, sowie mit den dort verborgenen Pygmäen kurzen Prozeß gemacht. Einer solch barbarischen »Liquidation« aber stand die Milde der Sitten im Wege, welche seit Zeiten und Aberzeiten schon den Totschlag und gar den Massenmord nicht etwa nur verabscheute, sondern für ein krasses Ding der Unmöglichkeit hielt. So mußte man sich mit dieser schweren Anomalie abfinden und nur in einem Punkte unerbittlich sein, in dem der vollkommenen und restlosen Abtrennung. Die grünenden Saatfelder und die Gemüsegärten bewiesen mir, daß die Dschungelleute als antike Ackerbauern lebten und vom Arbeiter und seinen Tälern »der Quellen und Kräfte« keine Nahrung erhielten. Die groben Kittel der Kinder zeigten, daß in den Dschungel keine Schleierstoffe noch auch die anderen Textilien der sideralen Industrie geliefert wurden. Die Dschungelleute mußten also nicht nur pflügen, säen, ernten, sondern auch spinnen und weben. Mit einem Worte, sie mußten arbeiten. Ich gedachte der sonderbaren Ansicht Io-Joels, daß die Erneuerung sich auf die Dschungeln stützen werde. Welch ein wüster Snobismus! Doch auch der Großbischof stand dieser Ansicht nahe in seiner Theorie von der durch die bloße Zeit wachsenden Entfernung von Gott.

Während angesichts der trauten Berge, Gärten, Felder, Hütten mich dergleichen Gedanken bestürmten, wurde ich jäh durch einen Laut des Abscheus unterbrochen, den meine Hausgenossen und die andern hier Versammelten im Chore ausstießen. Als ich mich umkehrte, sah ich all die jugendschönen Gesichter von Ekel verzerrt. Etwa dreißig ausgestreckte Arme wiesen auf einen Punkt des Festungsgrabens hin, als begebe sich dort etwas über die Maßen Abscheuliches. »Seht nur, seht nur«, riefen viele gepreßte Stimmen.

Ich verstand nicht sofort, daß es das zahlreiche aus den Lattenzäunen der Schrebergärten hervorgetretene Hühnervolk war, das in den Mentalen ringsum diesen würgenden Abscheu hervorrief. Für mich waren's auf den ersten Blick nur Hähne, Hühner und Kücken. Was weiter, dachte ich. Beim zweiten Blick allerdings erkannte ich bereits, daß die Hühnerwelt während meiner Absenz und ihrer Absenz – denn erst der Dschungel hatte sie wieder neu hervorgebracht – sich auf das imposanteste verändert hatte. Die Veränderung war zwar nicht ganz so gewaltig wie im umgekehrten Sinne die der Ziegen und Schafe zu Capricornetten und Ovetten, aber insonderheit die Hähne schienen weit über ihr gewohntes Maß hinausgewachsen zu sein. Sie hatten nicht gerade die Hochgestalt von Straußen erreicht, befanden sich aber auf dem besten Wege dahin. Nun, ich will nicht übertreiben, sie waren gut um ein Drittel größer und vor allem dicker als die unsrigen in den Anfängen der Menschheit. Das Tier ist immer inkarnierte Einseitigkeit, bis vielleicht auf den Hund, diesen vielseitigen Kopisten. Die Einseitigkeit, welche die Hähne verkörperten, war niemals sympathisch. Einst, zu meiner Zeit, hatten sie eitel daherstolzierenden Hidalgos geglichen. Ritter Heißsporn, das war ein Hahn. Hier, im Festungsgraben zwischen Dschungel und Welt, waren die Hähne keine drahtigen Kavaliere im stahlschimmernden Federgewand mehr, sondern aufgeschwemmte Bohemiens. Schlapp und fett stand der Kamm auf dem dummen Kopf, und eine unverschämt beutelige, brandrote Lavalliere oder Künstlerkrawatte schwabbelte ihnen unterm Schnabel. Sie überwachten ihr nickendes, pickendes Hühnervolk nicht mehr so streng wie einst. Sie schienen geniale Geistesabwesenheit zu posieren. Manchmal krähte einer der Hähne: Es war aber kein tenorales Kikeriki mehr, sondern ein tiefes, ausgesungenes Gekrächze. Andere besprangen zerstreut die Hennen, unterbrachen ihr Werk aber mitteninne, als lenke sie ein kostbarer Einfall ab. Wenn demnach Chanteclair, das gallische Hierozoon, doch auch das Opfertier des griechischen Äskulap, sich gewiß zu seinem Nachteil verändert hatte, so war das »Uh« und »Huh« des Ekels doch nicht ganz angemessen, welches die Mentalen bei seinem Anblick schaudernd ausstießen. Was würden diese feinen Leute erst zu Lämmer-, Mönchs-, Aasgeiern und Urubus gesagt haben, wenn diese sich in langsamem Gleitfluge über ein gefallenes Pferd zur Mahlzeit niederließen. Inzwischen schien sich das Hühnervolk im Festungsgraben auffällig zu vermehren. Lauter und lauter wurde das Gegacker der fetten Hennen und das Gekrächze der ausgeschrienen Tenöre, denen ihr Kikeriki hinuntergerutscht war. Der Himmel färbte sich schon, und die Stunde war nicht fern, von der es heißt, daß man in ihr mit den Hühnern schlafen geht. Der Einbruch des Federviehs in den Festungsgraben machte auf mich immer mehr den Eindruck einer absichtlichen Veranstaltung. Ja, irgendeine satyrische Absicht mußte im Spiele sein, um das nervöse Grauen der hochnäsigen Menschheit gegenüber den braven Eierlegern herauszufordern. Wie sehr ich mit diesem Verdachte recht hatte, kam schon in der nächsten Minute an den Tag. Zuerst waren's glitzernde Augen und Gesichter, die dort drüben, zwischen dem dichten grünen Gesträuch hervorstarrten. Dann teilten sich die Büsche, und es erschienen Menschen, die einzeln und in Gruppen bis an die Zäune der Schrebergärten vortraten und zu uns, herüber und herauf, manchen verstohlenen Blick sandten. Die Dschungelleute waren keineswegs Pygmäen. Ihre kräftigen Gestalten überragten im Gegenteil die astromentalen Zeitgenossen um ein gutes Stück. Möge der skeptischere Teil der Leser mit Recht oder Unrecht meinen Astigmatismus für den Vergleich verantwortlich machen, ich sah in jenen Primitiven ein Mittelding zwischen farbenprächtigen Zigeunern, wie sie etwa Victor Hugo und andere Romantiker beschrieben haben, und ehemaligen Montenegrinern oder albanischen Skipetaren, die ich aus eigener Anschauung kennengelernt hatte. Die Männer trugen ihr glänzendes Schwarzhaar in Zöpfen geflochten rechts und links über der Schulter. Einige hatten rote Zipfelmützen über den Scheitel gestülpt. Ihre Jacken schimmerten und klimperten von Silberknöpfen, Medaillen und Schnüren. Wie aus runzligem Wurzelholz der südlichen Steineiche oder des Ölbaums geschnitten wirkten die Gesichter, die Hälse, Hände und Unterarme. Ich konnte schwarze, graue und weiße Schnauzbärte unterscheiden, die tief herabhingen, sowie die Fratzen von zwei oder drei zahnlosen Greisinnen, die hexenhaft verwittert waren. Junge Frauen sah ich nicht. Die Kinder aber kamen vom Rummelplatz herbeigelaufen und schmiegten sich zwischen die Großen. Ich hätte mir ohne weiteres einbilden können, ich schaue von einer albanischen Berghöhe auf ein (erstaunlich sauberes) Dorf bei Skutari herab. Das Merkwürdige aber war, daß die Dschungelleute, obwohl sie den Mentalen den Hühnertort antaten, keineswegs Gehässigkeit zeigten, sondern eher Spott. Um so weniger aber war mir begreiflich die Reaktion meiner astromentalen Freunde auf dem Söller. Sie betrachteten die Naturkinder dort unten mit verstörten, haßverzerrten Gesichtern, ja mit heimlicher Angst. Selbst auf B.H.s Zügen konnte ich echten Abscheu wahrnehmen.

Für diese zierlichen, kahlen, ewigjungen und ewigschönen Lichtgötter war der Anblick der zigeunerischen Urmenschen dort, die irgendwelchen obskuren Kreuzungen ihr Leben verdanken, obszön und aufreizend, was er für mich, der selbst ein Urmensch war, nicht sein konnte.

»Warum duldet man das?« hörte ich noch den Bräutigam Io-Do mit jener verbissenen Stimme sagen, die mich schon vormals an ihm verwundert hatte, dann trat die »interessante Begebenheit« ein, das heißt, sie setzte sich nach mehrstündiger Pause wieder fort.

Die Sonne stand jetzt genau über den Schneebergen. Jetzt färbte sich der Himmel grün und violett, wie wir ihn gestern überm Geodrom erlebt hatten. Die Brustwehr mit ihren Zinnen und unseren Köpfen begann überlange Schatten zu werfen. Da sah ich, wie immer mehr Dschungelleute aus den Schrebergärten zusammenliefen und mit neugierigen Händen und mit rasch geplapperten Silben – zweifellos Monolingua, wenn auch ein gebirglerischer Dialekt – in eine bestimmte Richtung zu weisen begannen.

»Da ist es wieder, das Phänomen ...«, sagte Io-Fagòr sehr ernst. Er stand dicht hinter mir.

»Nachdem es heute früh genau nach Sonnenaufgang abgebrochen wurde«, ließ sich der Hausweise vernehmen. Und er fügte, exakt wie er war, hinzu: »So berichten die Kustoden ...«

»Das wissen wir ja alle, wozu immer diese Wiederholungen«, sagte der Wortführer ennuyiert.

Ich blickte mit angestrengten Augen in die Richtung wo alle hinstarrten, um mir in möglichster Deutlichkeit das »Phänomen« einzuprägen, welches eine solche Unruhe unter den astromentalen Bürgern hervorrief. Das Phänomen bestand vorerst aus nichts anderem als einer Katze, aus einer ganz gewöhnlichen, grau und schwarz gefleckten Hauskatze, die etwa zwanzig Schritte von uns entfernt, zögernd und witternd, mit hochgehobenem Schweif, auf der Brustwehr sich duckte. Die Katze war mittelgroß, nicht größer und nicht kleiner, nicht häßlicher und nicht schöner als die ordinären Hauskatzen meiner Tage; als ein langjähriger Bewohner eines entlegenen Winkels am Canale San Polo von Venedig, verstehe ich etwas von ordinären Katzen.

Ich kapierte noch nicht, warum dieses triviale Tier, das mit anerkennenswerter Charakterfestigkeit im Laufe so vieler Jahrtausende seine Gestalt nicht verändert hatte, ein Phänomen sein sollte, und warum die Gruppe auf dem Söller oben eine verhaltene und ernste, der Haufen der Dschungelleute im Graben unten eine neugierige und lustige Erregung verrieten. Die Katze selbst, nervös an eine Zinne geschmiegt, schien zu zagen, zu überlegen. Dann auf einmal machte sie einen tückisch hohen Buckel, ihr elektrisches Fell sträubte sich, sie sprang von der Brustwehr auf den nackten Felsen, flitzte entlang einer natürlichen Rinne im Gestein blitzschnell in den Graben hinab und verschwand gestreckten Laufes durch den Zaun eines Schrebergartens irgendwo im Dschungel. Heftige Ausrufe von unten und sogar von oben begleiteten dieses dem Anschein nach ganz bedeutungslose Ereignis. Schon wollte ich mich ärgerlich an Io-Fagòr oder B.H. wenden, um mir erklären zu lassen, warum dies ein »Phänomen« sei, als beide mich mit ungeduldigen Augen wieder in dieselbe Richtung verwinkten.

Nun waren es vier Katzen, vier ganz gewöhnliche Hauskatzen, mit rötlich getigertem Fell, die gesträubten Haares und hochgestellten Schweifes auf der Brustwehr zauderten, bevor sie den Sprung taten und den Felssturz hinabflitzten wie ihre Vorgängerin. Ich glaubte den starren, eisig strahlenden Katzenblick zu erkennen, als eines der Tiere uns den Kopf zuwandte. Die nächsten Katzen zögerten nicht mehr. Zuerst waren's noch immer einzelne Gruppen, dann aber, so unglaublich es klingt, eine dichte ununterbrochene Armee von Katzen, die in entwickelten Reihen über die Brustwehr sprangen, den Berg hinabsausten, den Graben überquerten und im Bereiche des Dschungels verschwanden.

Ich muß bekennen, Io-Fagòr hatte recht gehabt. Es war ein Phänomen. Und wären nicht so viele nüchterne Köpfe rings um mich Zeugen dieses Phänomens gewesen, ich hätte es leicht für einen Anfall von Delirium meinerseits halten können, oder vornehmer gesagt, für eine Vision. Katzen sind sehr individualistische Tiere. Sie sonnen sich einzelweise vor den Haustüren.

Die Katze schnurrt, wenn ihr behaglich zumute ist, in sich selbst geschlossen und versammelt, indem sie mit deutlichster Ablehnung die Umwelt nicht zur Kenntnis nimmt. Ihre Egozentrik ist unbekehrbar, daher ist sie auch der einsamste aller Jäger. Sie läßt keinen Weidmannskollegen am Jagdvergnügen und an der Mausbeute teilnehmen. Ihre Selbstverehrung und Selbstgerechtigkeit gehen so weit, daß eine Katzenmutter ein Junges verstößt, wenn eine andere Kätzin es abgeleckt hat. Das ist die Katze. Und nun, wer hat jemals schon eine Herde von Katzen gesehen? Der Anblick einer Armee von Katzen verschlägt den Atem. Wir oben schwiegen tiefbeklommen. Und auch die Dschungelbauern unten schwiegen. Selbst die albernen Riesenhühner hatten ihr Gackern eingestellt.

»Sollte die Katze im astromentalen Weltalter ein soziales Tier geworden sein?« fragte ich mehr mich selbst als einen andern.

»Katze ist Katze«, sagte Io-Fagòr. »Sie kann wohl niemals etwas anderes gewesen sein. Sie ist nicht bildsam, nicht sprachbegabt, nicht kommunikativ, nicht einfühlend wie der Hund, doch sie ist verdammt begabter als er ...«

»Das aber, was ich dort sehe«, verwunderte ich mich, »ist eine gemeinschaftliche Unternehmung der Katzen. Ich hätte dergleichen nicht für möglich gehalten. Eine solche kollektivistische Unternehmung des Instinktes muß einen Zweck haben. Kennt man den Zweck?«

»Der Zweck ist sehr einfach«, erwiderte Io-Fagòr, »die Katzen verlassen uns.«

Ich mußte den Kopf schütteln: »Sind die Menschen heute so große Liebhaber der Katzenwelt geworden«, erkundigte ich mich, »die sich durchaus nicht veredelt hat? Im Gegenteil, bei uns gab's viel feinere Spezies wie Angora, Perser und Siamesen. Wird man diese gewöhnlichen Typen vielleicht wegen ihrer Nützlichkeit vermissen, da man ja unter der Erdoberfläche wohnt, wo es allerlei überlebende und sogar vergrößerte Nagetiere geben mag? ...«

»Wer denkt daran«, lachte Io-Fagòr kurz, »das Phänomen ist ein allgemein tellurisches Omen, das von den meisten anderen Dschungeln ebenfalls berichtet wird.«

»Omen?«, warf ich ein. »Zu meiner Zeit sagte man, Ratten verlassen das sinkende Schiff, nicht Katzen.«

»So weit wollen wir nicht denken, Seigneur«, sagte Io-Fagòr plötzlich stolz und abweisend. Ich war zu weit gegangen.

Nicht grundlos hatte Io-Fagòr von den bildsamen, sprachbegabten, kommunikativen Hunden gesprochen. Allgemach fand sich nämlich ein ganzes Rudel von Surs hier an der Brustwehr ein. Das heißt, unser eigener Hausgenosse Sur war gar nicht unter diesen Exemplaren; glücklicherweise hatten die Humanitätsvereine die Hunde des Zeitalters noch nicht in den Gebrauch des Reisegeduldspiels eingeweiht. Es wirkte auf mich beinahe schamlos, wie wenig sich diese Hunde durch Farbe, Fell, Schnauze und andere körperliche Merkmale voneinander unterschieden. Die Vereinheitlichung aller Hunderassen hatte dazu geführt, daß man sich die Physiognomien merken mußte, um die einzelnen auseinanderzuhalten. Es lag in dieser Gleichmäßigkeit dieselbe Prätension verborgen wie in der bellenden Beherrschung der Monolingua. Ich wiederhole das schon einmal gebrauchte Wort »Angemenschtheit«, um diese sowohl aufgeblasene wie inhaltslose Simulierung von Persönlichkeit auszudrücken. Mir fiel es auf, daß in den Katzen gerade deshalb mehr Persönlichkeit steckte als in den Hunden, weil sie die Monolingua nicht erlernt, weil sie ihr ausdrucksvolles, leises Miauen rein erhalten hatten, und weil sie sich durch Fell und Farbe voneinander unterschieden, wie eh und je. Die Katze, ein ebensolches Haustier wie der Hund, hatte durch all die Jahrtausende dem Menschen widerstanden. Ihr starrer, eisig strahlender Blick sah über ihn hinweg und schuldete ihm nichts. Io-Fagòr hatte wohl diese Ungebrochenheit des Wesens im Sinne, als er der Katze die größeren Talente zubilligte.

Der Hunde, die im beginnenden Sonnenuntergang immer zahlreicher zusammenliefen, hatte sich eine zornige Erregung bemächtigt, die fühlbar aus Neid, Eifersucht und unsicherer Angst vor irgend etwas Kommendem gemischt war. Sie umsprangen die Menschen auf dem Söller, sie liefen auf der Fläche der Mauer wie besessen hin und her, bildeten kläffende Konventikel, die mit kurzen Anrufen und Hetzworten auf die Katzen einhämmerten, ohne sich freilich näher zu wagen. Um die Rede eines oder gar das Geschwätz mehrerer Hunde zu verstehen, mußte ich immer eine Weile warten, damit sich das flache Gebelle und Geknurre in meinem eigenen Gehör zu Worten differenziere. Ich kann daher nicht den genauen Wortlaut, sondern nur den allgemeinen Sinn jener Interjektionen und Anwürfe zum besten geben, wie sie die versammelte Hundeschaft der auswandernden Katzenschaft nachschleuderte:

»Da sieht man's wieder ... Der berühmte Instinkt, he, was ... Großmama hat schlecht geträumt ... Instinkt, ja, aber wo bleibt Treue und Naivität ... Oh, ihr Verruchten, oh, ihr Verfluchten, wie gut, euch los zu sein ... In den Dschungel, ha, ha, wo es kein Säftlein gibt, nicht pistaziengrüne und nicht einmal safrangelbe ... Aber behaarte Papachen und Mamachen gibt's ... Da gehört ihr hin, aber nicht wie wir in die Kultur, Kul-tur ...«

Die beiden Silben von Kultur, dessen erinnere ich mich ohne Zweifel, gingen in ein wüstes Gebelle über. Die Katzen, die in schlanken Wellen den Felsbruch hinabsausten, kümmerten sich den Teufel um ihre Rivalen. Sie sahen sich nicht einmal um. Sie reagierten mit keinem Maunzer. Vermutlich fühlten sie die Bewunderung, die sich hinter Schimpf und Anklage verbarg, diese ewig mißvergnügte Bewunderung der Domestizierten, der Philister für die, welche ausbrechen. Am weitesten hatte sich eine Hündin namens Melba in die Nähe des Katzenexodus vorgewagt. Weiß Gott, warum sie diesen Namen trug, der in meiner eigenen Jugendzeit sehr berühmt war. Alle Hunde nannten sich, wie schon bekannt, selbst bei ihrem Namen und sprachen in der dritten Person von sich, ein Brauch, der uns von Kindern und Primitiven vertraut ist. Ich will die Möglichkeit nicht leugnen, daß ich mich verhört habe und daß jenes Tier Malba hieß. Melba oder Malba, wie auch immer der Name lauten mochte, hatte ihren Kopf schief gelegt und hielt die Schnauze hoch, wie es die Hunde zu tun pflegen, die den Mond anbellen. In ihrem Fall heulte sie die sinkende Sonne an. Ich unterschied zwei Ausrufe, die sie immer wiederholte:

»Melba sehnt sich ... Melba will singen ...«

Die Hunde schienen die Heulende genauer zu verstehen als ich. Ein böses, empörtes Geknurre ballte sich gefährlich hinter ihr zusammen:

»Du Hündin ... Du Tochter einer Hündin ... Fort mit dir in den Sumpf ...«

Ich bitte den Leser, hier zu beachten, daß die Hunde das Wort »Hündin« als schmutziges Schimpfwort benützten. Diese seltsame Gewohnheit, sich durch sich selbst zu beschimpfen, haben die Hunde nicht erfunden. Alle Verachteten, Verlachten, Verfolgten übten sich seit jeher in ihr. Wenn Prostituierte in Streit geraten, wirft unweigerlich eine der anderen die »Hur« an den Kopf. Und ich erinnere mich eines komischen Gauklers, der griesgrämig, wie alle seines Zeichens, über einen anderen Gaukler die Achseln mit den Worten zuckte: »Was wollen Sie, ein Clown!«

Während das letzte Viertel der roten Sonne alpenglühend über den Schneefeldern des Hochgebirges stand und ein kreosotduftender Schwall von Purpurlicht die Räume durchdrang, schien der Exodus der Katzen seinen Höhepunkt erreicht zu haben. Immer neue Scharen verschwanden in der terrassierten Landschaft des Dschungels. Durch den schmalen Körper der Hündin Melba oder Malba oben auf der Brustwehr ging ein Krampf, ein Zittern. Sie zerrte an einem unsichtbaren Halsband, das sie zu würgen schien, denn sie stieg hoch wie ein Pferd. Plötzlich aber riß sie sich los von der imaginären Leine ihrer mentalen Hundemoral, sprang über die Mauer, rutschte den Berg hinab und galoppierte, immerzu heulend, neben den hinhuschenden Katzen wie ein Hirtenhund neben der Herde. Binnen weniger Sekunden war sie in den Schrebergärten und im Gebüsch verschwunden. Darüber verloren die anderen Hunde beinahe ihre Sprachkenntnisse. Ein hysterisches Gekläffe, Gezeter, Gequarrel in allen Stimmlagen setzte ein, und ich bin überzeugt, daß Io-Fagòr oder ein anderer die Hundegesellschaft mit strengem Verweis weggejagt hätte, wäre nicht ein Ereignis eingetreten, das die allgemeine Aufmerksamkeit mächtig an sich zog.

Schon seit einer geraumen Weile war ich dessen gewahr geworden, daß diese seltsame Parade langhinschießender Katzenleiber nicht mehr so ganz unvermischt schien wie früher. Neben und unter den zumeist hellfelligen Hauskatzen tauchten da und dort dunklere, plumpere, fremdere Tierkörper auf, manche davon kleiner, manche aber auch beträchtlich größer. Ich kann von diesen Tieren, die sich dem Exodus angeschlossen hatten, nichts anderes aussagen, als daß sie gewiß Vierfüßler und vermutlich Säuger waren. Da es auch in der astromentalen Erdepoche keine Regel ohne Ausnahme gab, so mußten innerhalb der endlosen, mit dem eisengrauen Rasen bedeckten, zur einheitlichen Panopolis zusammengefaßten Kontinente unzählige Schlupfwinkel vorhanden sein, vergessene Einöden, verborgene Schluchten und Klüfte, in welchen allerlei scheues Wild Herberge und Nahrung fand. Ein Teil dieses hier in der Nähe beheimateten Wildes schien nun die Gelegenheit gerne zu benutzen, um im Gewühl der treulosen Katzen in den Dschungel zu echappieren. Den höheren Tierarten ist ja die Anlage zu kausalem Handeln nicht gänzlich versagt. Diese Anlage mochte sich im Laufe der Zeiten höher entwickelt haben. Wenn die Katzen, von denen jedermann weiß, daß sie am Hause, aber nicht am Menschen hängen, diese Häuser verließen, warum sollten die ungezähmten Tiere mit ihren schärferen Instinkten nicht ebenso Lunte riechen. Das Wild, das sich da und dort unter die Katzen mischte, war mir nicht bekannt und mußte verschiedenen Kreuzungen und Kombinationen der Vergangenheit entsprungen sein. Ich hätte keins richtig benennen können. Da waren füchsische Kreaturen darunter, marderartige, ameisenbärenähnliche, am häufigsten aber Variationen der Katzennatur selbst. Hätte zum Beispiel jenes schlanke Tier mit dem runden, abgeplatteten Kopf und dem sandfarbenen Fell nicht eine Wildkatze, ein Luchs, ja sogar ein kleiner Berglöwe sein können, wie er zu meiner Lebenszeit noch dann und wann in californischen Städten auftauchte? Jetzt gab es hier außerhalb des Dschungels keine Berge, ich weiß es. Und doch, das elegant gefährliche Tier sah einem jener Berglöwen ähnlich. Es wand sich, wie ich es so scharf wie möglich ins Auge faßte, in einer der Felsrinnen zu Tal. Während aber die Hauskatzen den Festungsgraben durchjagten, ohne sich um ihre Umgebung zu kümmern, schlug der zierliche, löwenartige Fremdling einen Haken, stürzte sich auf die dicken Riesenhühner, im Laufe einiger Sekunden ein veritables Massaker unter ihnen veranstaltend. Es gelang ihm aber nicht, seine Beute davonzutragen, denn die Dschungelleute kamen mit Zaunpfählen gerannt, um ihre Hühner zu retten. Sie stießen schrille, kriegerische Schreie aus. Die Knöpfe an ihren Jacken leuchteten auf im letzten Sonnenpurpur. Der Räuber war beutelos entflohen. Klägliches Gegacker kollerte ihm nach. Einer der ausgesungenen Hähne ließ sein ohnmächtiges Gekrächze hören. Dann vernahm man nur mehr das leise Gepiepe von vier oder fünf großen Hennen, die in ihrem Blute saßen, aber noch lebten. Eine kurze Stille folgte, ehe jäh und ohne jeden Übergang die Hähne und ihr Volk in scheußlichem Blutdurst hüpfend und flügelschlagend sich auf die verwundeten Hennen warfen, sie zerfleischten und auffraßen. Das dauerte keine Minute. Nichts war übrig geblieben als einige Haufen von blutigen Federn, Knochen und blutigem Gras. Die Dschungelleute trieben darauf das Federvieh scheltend heim, ohne von den mentalen Zuschauern die geringste Notiz mehr zu nehmen. Diese aber starrten, blaß und schweigend, auf die blutigen Reste des Hühnermords. Ich nehme an, daß keiner von ihnen jemals nacktes, das heißt unnatürlich vergossenes Blut gesehn hatte, ebensowenig wie etwa zu meinen Lebzeiten ein durchschnittlicher Staatsbürger einer Autopsie beiwohnen konnte. Mir erschien das Grausen der Mentalen lächerlich und übertrieben.

»Hühnerblut«, sagte ich nach einer Weile, »soll das etwa ein Symptom bedeuten?«

Niemand antwortete, auch Io-Do nicht, der neben mir stand. Ich erinnerte mich seiner gestrigen Frage über den Krieg: »Wie ist das, wenn der Blutquell hochspringt?«

Die Hunde hatten sich mit eingezogenen Schwänzen davongetrollt. Das lächerliche Schweigen ringsum machte mich geschwätzig. Ich wandte mich an B.H.:

»Einmal bei einer alten Frau hab ich einen kleinen Band gesehen, der war betitelt ›Ägyptisches Traumbuch‹, ich erinnere mich genau. Darin konnte man die Bedeutung von Fischblut oder Hühnerblut nachschlagen und mehr als das, die genaue Bedeutung der Szene dort unten, die wir soeben erlebt haben. Denn daß Hühner sich auf ein blutendes Nebenhuhn werfen und es zerreißen, das ist eine ebenso alte wie bedeutungsvolle Einzelheit der Naturgeschichte. Die Deutung steht in diesem ägyptischen Traumbuch. Erinnerst du dich nicht, B.H., du kennst ja alle Bücher der Vergangenheit und Zukunft. Das ist es ja, was ich so an dir bewundere ...«

»Traumbüchlein, nicht Traumbuch, F.W.«, verbesserte mich B.H. leise. »Am besten, du sprichst nicht davon, denn es war barer Unsinn, und nicht einmal verliebte Dienstmädchen glaubten daran ...«

»Unsinn, wer kann's beurteilen«, verhedderte ich mich weiter. »Selbst Ursler sagt im siebzehnten Paradox, daß Zeit und Raum eine Schöpfung des Lichtes sind und nicht umgekehrt. Infolgedessen ist auch alles Blut als Unterabteilung von Zeit und Raum verdunkeltes Licht. Halte deine Hand gegen die Sonne dort, und sie wird durchscheinend und rot sein...«

»Die Sonne ist ja längst fort«, sagte jemand mürrisch.

Die Sonne war fort. Schnelle Dämmerung breitete sich über das Gebirgsland aus, das man Dschungel nannte. Der Himmel war aber noch so farbgetränkt, daß nur allmählich die ersten drei blassen Sterne hervortraten. Der hellste von ihnen, der Abendstern, war ohne Zweifel Maria Magdalena. Der zweite, dicht über der Linie der Sierra, nahe der versunkenen Sonne, konnte kein anderer sein als Johannes Evangelist, der Lieblingsjünger. Der dritte schließlich erglomm blau und groß und ruhig und funkelte nicht, auch er demnach ein Planet. Warum nicht Petrus der Apostel? Oh, könnte einer oder der andere von denjenigen, welche im Geiste meiner Reise Begleiter sind, die heiligen Schauer nachempfinden, die mich beim Anblick dieser weit auseinanderliegenden Sterne des Himmels durchliefen, hatte ich doch noch vor wenigen Stunden mit wachen Sinnen auf zweien von ihnen geweilt. Diese Schauer waren so stark, daß ich den Kopf senken mußte, um mich nicht bis zur Grenze des Wahnsinns außerhalb des Erdplaneten zu empfinden. Ein schneller Blick überzeugte mich davon, daß nun auch der Exodus der Hauskatzen zu Ende war, wenigstens zeitweilig. Nur die Schatten einiger Nachzügler sprangen noch über die Brustwehr und verhuschten in den Schrebergärten.

Ich wandte mich um, der Kulturwelt zu. Und wie ich, so taten alle. Da sahen wir in der tiefen Dämmerung etwas Mattleuchtendes von unten herankommen und den Hang ersteigen, der zur Brustwehr emporführte, welche die Wachen mit den Bergstöcken breitbeinig und schwarz hüteten. Es war ein Mensch. Es war ein Kuttenmännchen. Es war zuletzt Io-Fra, der Mutarianer. Ich wunderte mich nicht darüber, daß seine feine kleine Gestalt ein bißchen leuchtete, wie es gewisse phosphoreszierende Hölzer in der Dunkelheit tun. Warum sollte ein Mutarianer nicht leuchten, er, der die Gelübde der Blindheit und der Taubheit abgelegt hatte und daher das innere Gesicht und den innern Stimmschall besaß? Io-Fra kam, um den Bräutigam, dem er diente, zur Heimkehr zu mahnen. Die erste Nachtwache hatte nämlich schon begonnen. Und nun hieß es, sich geziemend für die zweite, festlich rauschende Nachtwache vorzubereiten, während welcher die Verlobten sich beim Sympaian öffentlich zeigten. Alles setzte sich nun in Bewegung, um geschwind den Rand des eisengrauen Rasens zu erreichen, denn die astromentale Reiseart funktionierte nur dort, wo man diesen Rasen unter den Füßen hatte. Während wir über die sandige Zwischenstrecke dahineilten, die uns von der Kultur trennte, trat die Nacht ein, rasch wie in den Tropen. Es war meine zweite Nacht im Elften Weltengroßjahr der Jungfrau. Vertrauter schien mir bereits das helle, bläuliche Geisterlicht der Sterne, die so dicht den Himmel bedeckten, weil die menschenförmige Brust des Universums jetzt gerade »einatmete«, im Gegensatz zu meiner vorigen Lebenszeit, in der sie »ausgeatmet« hatte. Ich schüttelte verwundert den Kopf über all die gewaltigen Lehren, die ich binnen weniger Stunden empfangen hatte. Niemand wird es mir glauben, dachte ich, vielleicht nicht einmal ich selbst.

Da bemerkte ich unweit von unserer Gruppe, mit der ich mich bewegte, einen jungen Mann, der einsam, das heißt außerhalb aller Gruppen, mit einer gewissen verächtlichen Wurstigkeit daherschlenderte, die meine Aufmerksamkeit erregte. Jetzt erkannte ich Io-Joel, Minjonmans abtrünnigen Goldsohn. Mich gelüstete es, seine Ansicht über das »Phänomen« zu erfahren, welches meine Gastfreunde in schweigende Depression versetzt hatte. Ich rief ihn an. Er blieb stehen. Ob sein spöttisch überlegener Ausdruck echt war, weiß ich nicht. Daß er sich unangenehm berührt fühlte, weiß ich. In meiner Verlegenheit machte ich eine konventionelle Handgebärde zu Io-Do, dem Fiancé hin:

»Darf ich vielleicht die Herren miteinander bekannt machen?«

Io-Do bleckte mit einem verkrampften Lächeln die Zähne. Er konnte aber kein Wort sprechen, denn Io-Joel kam ihm zuvor:

»Nicht nötig, Doktus und Seigneur«, sagte er gewandt, »die Herren kennen mich, und ich kenne sie ...«


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