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Dreizehntes Kapitel

Worin die große astrale Episode im Djebel beginnt, die mich vorerst in die unterste Knabenschulklasse der Chronosophen und mit dieser in den interplanetaren Weltraum führt.

 

Dies hier ist nicht nur eine Reisebeschreibung. Wenn ich's einen Reiseroman nenne, so verfälsche ich die Wahrheit nicht, um etwa den Leser bei der Stange zu halten. Während die Reisebeschreibung ein einfacher Kreis ist, so ist der Reiseroman eine Ellipse mit zwei Brennpunkten. Der zweite Brennpunkt ist das Ich des Reisenden, das nicht nur die Dinge und Ereignisse passiv hinnimmt, sondern oft, ohne es zu wollen, in die fremdartigsten Abenteuer hineingezogen und dann und wann sogar zum schaudernden Urheber kaum lösbarer Verwicklungen wird. Doch immer wieder will und muß ich es sagen, nicht um spannender Abenteuer willen unternimmt der Reiseschriftsteller seine Arbeit, nicht um Charaktere aufzubauen und zu zergliedern, sondern einzig und allein, um seine Leser mit einer unbekannten Welt bekanntzumachen, hier mit einem völlig weißen Fleck auf der Landkarte der fernsten Zukunft.

Da ich dieses mein Prinzip stets im Auge behalte und jetzt zu einem ausnehmend wichtigen Kapitel komme, dessen Stoff sich hoch über alles »Romanhafte« und auch »Menschlich-Interessante« erhebt, so nehme ich mir die Freiheit, die nächsten Ereignisse nur im Fluge zu berühren.

Meine Hausgenossen hatten mich vermißt. B.H. war ziemlich unruhig geworden, denn die Möglichkeit einer plötzlichen Regression meinerseits ins Unsichtbare schien ihm keineswegs ausgeschlossen. Wir hatten uns beide seit gestern sehr aneinander attachiert, er an mich ebenso wie ich an ihn. Da B.H. wußte, daß der Arbeiter mein erster Programmpunkt dieses Tages war, suchte man mich im Park bei den jungen Müttern und Babies und später im Tal der Quellen und Kräfte. Da der Freitanz und das Picknick der Bräute schon zu Ende waren, brauchte es einige Zeit, bis man meine Spuren entdeckte, die ins Haus des Großbischofs führten. Von dort aber verloren sie sich.

Inzwischen saß ich aber noch immer in König Sauls sonderbar vollgepropftem Antiquitätenzimmer und hörte dem gereizten Disput zu, der ihn mit seinem Sohn Joel-Hainz entzweite und verband. Joel-Hainz führte seinen Kampf wie von Anfang an indirekt, indem er seine polemischen Antworten nicht an seinen Vater, den Juden dieses Zeitalters, sondern an mich richtete. Es erschien mir merkwürdig, daß beide, Minjonman und sein Sohn, davon überzeugt waren, daß die mentale Welt »verändert« werden müsse. Die Gründe des Vaters waren orthodoxer Natur, wenn auch ziemlich verschieden, ja gegensätzlich zu denen des Großbischofs. Er erklärte zum Beispiel die großbischöfliche Lehre vom Sündenfall als eine geschraubte Interpretation des Bibeltextes, die zugleich eine groteske Überschätzung des Menschen und eine blasphemische Unterschätzung Gottes bedeute.

»Jene sind so begabt für die Welt«, seufzte Minjonman, »und so unbegabt für Gott. Hätten sie die Sache mit Gott uns allein überlassen, wäre ihnen wohler.«

Im Gegensatz aber zu diesem selbstbewußten Ausspruch beschwor er seinen Sohn Joel-Hainz, sich nicht »einzumischen« und von allen Bündeleien mit jenen abzulassen, die aus ihrer Unzufriedenheit kein Hehl machten:

»Es ist schlecht«, sagte er. »Weiß ich nicht besser als jeder andere, wie schlecht es ist? Aber dieses Schlecht ist ihr Schlecht und nicht unser Schlecht. Was geht es mich an? Mit dieser Frage habe ich vieles überlebt. Frag dich auch: was geht es dich an?«

Gegenüber diesem ganz ungeheuerlichen Isolationismus schien der erkünstelt affektlose Joel-Hainz seine pedantische Apathie verlieren zu wollen. Seine Augen bekamen Farbe und sahen zum erstenmal den Vater durchdringend an. Selbst der goldene Kopfputz, mit welchem er die schöne Welt der andern nachahmte, war etwas zur Seite gerückt. Die Antwort wäre nicht wenig giftig ausgefallen, hätte Minjonman nicht plötzlich Unruhe gezeigt, an seinem Schwarzbärtchen gezaust und sich erhoben. Auch ich stand auf und frug, was gewiß kein Gespenst vor mir je gefragt hatte:

»Bin ich nicht zu lange geblieben ... Störe ich Sie?«

»Nicht Sie stören, Doktus«, erwiderte König Saul, »aber das ›Amt der Verlorenen‹ sendet Rufe nach Ihnen aus...«

»Und wie hab ich auf diese Rufe zu reagieren?« erkundigte ich mich.

»Indem Sie selbst den lauten Ruf ausstoßen ›Hier bin ich‹«, sagte Minjonman, hob aber zugleich beschwörend den Arm, um mich zu hindern, es zu tun:

»Ich möchte Sie bitten, Doktus'«, sagte er, »nicht in meinem Hause ›Hier bin ich‹ zu rufen.«

Bei dieser Gebärde und diesen Worten hörte ich das erste Mal Joel-Hainz lachen. Das heißt, ich hörte ihn nicht, denn er lachte lautlos und ohne einen Gesichtsmuskel zu verziehen. Es war ein Lachen, das nichts Gutes für die Zukunft verhieß. Dies mußte ich denken.

»Soll ich's um Ihretwillen nicht tun oder um meinetwillen?« fragte ich gespannt.

»Was braucht man Sie beim Juden dieses Zeitalters zu erwischen?« brummte König Saul.

»Sie sollen es um seinetwillen nicht tun«, sagte Joel-Hainz pointiert und langsam, »denn er will die Welt nicht verändern, sondern mit ihr nichts zu schaffen haben. So liegt's ihm im Blut.«

»Du aber brennst darauf, mit der Welt zu schaffen zu haben«, brach König Saul aus, »obwohl's dir nicht im Blut liegt.«

»Sehr möglich«, sagte Joel-Hainz gemacht träumerisch.

Obwohl mir noch viele Fragen auf der Zunge brannten, folgte ich schweigend Io-Saul-Minjonman, der mich durch dumpfe Gänge und über dunkle Treppen ins Freie führte. Wir befanden uns fernab von den parallelen Mauern der »Ehemaligen Unterstadt«.

»Stellen Sie Ihren Wunsch nur auf die ›Ehemalige Unterstadt‹ ein, wenn man von Ihnen Unmögliches verlangt und Sie mich brauchen.«

Ich stutzte. Es war das zweite Versprechen, mir aus der Klemme zu helfen, an diesem Vormittag. Ich wartete, bis Minjonman untergetaucht war. Dann rief ich laut: »Hier bin ich.«

Keine zwei Minuten währte es, bis wir einander auf offenem Graurasen wieder begegneten, meine Hausgenossen und ich. Obwohl wir beide Ziele bildeten, ich und sie, die auf einander zu bewegt wurden, so war doch die Illusion der freien Begegnung vollkommen. Immer wieder mußte ich über die Feinfühligkeit des modernen Transportwesens staunen. Ich erwartete, als Ausreißer und Herumtreiber mit zumindest vorwurfsvoller Reserve empfangen zu werden. Nichts davon. Die Begrüßung konnte nicht freudiger und herzlicher sein. Nicht einmal ein Witzwort über mein freies Flanieren traf mich. Nur B.H., der Wiedergeborene, der ja noch einen Rest des nervösen zwanzigsten Jahrhunderts in sich bewahrte und außerdem sowohl den Gastfreunden als auch mir gegenüber die Verantwortung für meine Existenz trug, flüsterte mir ins Ohr:

»Gott sei Dank, daß du noch auf der Welt bist. Ich hab schon Blut geschwitzt.«

Es waren gekommen, um mich zu suchen, Io-Fagòr, der Herr des Hauses, der Wortführer, der Hausweise und der Beständige Gast, diese drei bemoosten Junggesellen seines Hofstaates sowie der liebe Herr Io-Solip, sein Gegenschwieger. Letzterer benachrichtigte sofort seinen Sohn, den Bräutigam, durch Anrufung, daß ich wiedergefunden sei. Io-Do war verpflichtet, den Tag in einsamer Ruhe und Betrachtung zu verbringen, denn der heutige Abend – derselbe, den man bei uns Polterabend nennt – war einem festlichen Sympaian geweiht, worunter ich mir etwas wie eine Theater- und Musikaufführung vorstellte. Freilich, als ich hörte, der junge Mann Io-Do sei mit innerer Betrachtung beschäftigt, sah ich ihn im Geiste vor seiner Waffenwand stehen und den unheilbaren Rost von Schießprügeln des Altertums putzen. Io-Fagòr und die andern forderten mich auf, nach Hause zu kommen und eine kräftige Mahlzeit einzunehmen.

»Meine Herren«, dankte ich, »das wäre zu viel für meinesgleichen, denn man hat mich im Laufe dieses Vormittags schon mit drei mystischen Mählern traktiert. Zuerst bekam ich heidnischen Käse und Quellwasser zu kosten, dann Brot und Wein und schließlich Milch und Honig. Ich bin satt.«

»Und was dürfen wir Ihnen sonst anbieten?« fragte der Wortführer, zu dessen Ressort die Unterhaltung gehörte.

»Die Sonne steht hoch am Himmel, und ich dürste nach neuen Erkenntnissen«, sagte ich, und es klang weit weniger scherzhaft, als ich's gemeint hatte.

»Wie wär's mit dem Seminar des Sophistes Io-Clap?« erwog der Hausweise.

»Warum sind Sie so streng gegen mich?« fragte ich lachend.

»Das sieht Ihnen wieder einmal ähnlich«, starrte der Wortführer den Hausweisen vernichtend an, in dem er den überflüssigsten aller Rivalen sah.

»Haben Sie nicht gestern das Wort ›Chronosophie‹ gebraucht?« wandte ich mich nachdenklich an Io-Fagòr.

»Da ich Ihre Interessen ahnte, und mehr als ahnte«, lächelte der Brautvater, »habe ich längst schon alles veranlaßt. Wir werden uns sogleich zum Djebel begeben. Sind Sie bereit, Seigneur?«

»Ich möchte, daß Sie zuerst überlegen«, unterbrach ihn B.H. mit spürbarer Ängstlichkeit, »ob eine chronoelastische oder chronogymnastische Übungsstunde für eine völlig untrainierte Seele nicht große Gefahren in sich birgt. Vielleicht sollte man vorher einen Arzt zu Rate ziehen ...«

»Aber B.H.«, sagte ich empört. »Untrainierte Seele? Was soll das heißen? Meine Absenz und meine Wiederkunft, war das etwa kein Training?«

»Von den Zuständigen«, erklärte Io-Fagòr beruhigend, »ist alles reiflich bedacht und geprüft worden. Seigneur wird am Elementarunterricht der jüngsten Knaben teilnehmen.«

 

Da hatten wir nun den berühmten »Djebel« in seiner vollen Großartigkeit vor unsern Augen. Wir, das waren Io-Fagòr, B.H. und ich. Der Djebel aber war ein gewaltiger, künstlicher Berg von mehr als viertausend Fuß absoluter Höhe und aus einer zum Teil völlig durchsichtigen, zum Teil höchst durchscheinenden glasflußartigen oder kristallinischen Masse errichtet, wobei sich die Feder sträubt, das Wort »errichtet« für ein artifizielles Phänomen anzuwenden, das alle natürlichen Phänomene des eingeebneten Planeten an Wucht und Erhabenheit weit zu übertreffen schien. Im Djebel hatte die strebende Menschheit (die von Gott immer weiter fortstrebende, nach des Großbischofs Wort) die »Transfiguration der Natur« beinahe erreicht. Der Berg bedeckte ein Gebiet von nicht geringerem Flächeninhalt als einst ein mittelgroßer Gebirgsstock der Alpen bedeckt haben mochte. Auch war er besonders schön gestuft und gegliedert, und zwar dergestalt, daß die symmetrischen Gedanken seiner Architektur sich immer hinter den Asymmetrien der nachgeahmten wilden Natur zu verbergen wußten. Einschnitte und Täler unterbrachen den Djebel in seinem ganzen Umfang. Aus diesen Tälern ergossen sich Bäche von der Höhe hinab in die Ebene. Dieselben Bäche aber bildeten im prismatischen Kristallgezack der oberen Regionen regenbogenfarbige Wasserfälle, Sprüh- und Schleierkaskaden. Der Djebel bot sich mir überhaupt weit mehr als ein optisches Gebilde dar als wie eine überwältigende Baulichkeit aus festem Material. Mit den Worten »optisches Gebilde« will ich etwas bezeichnen, was eher aus Licht, Lichtflächen, Schlagschatten, Strahlen, Strahlenbrechungen, Spektralphänomenen, Farbenreihen und -rückungen besteht als aus etwas anderem. Dieses vieldeutige Licht war manchmal unerträglich blendend, manchmal farbenschwer gedämpft. Niemals aber verlor der Djebel seine kathedralenhaft sich nach oben verjüngende Bergform. Er war ein Aiger, ein Mönch, eine Jungfrau, nicht ganz so hochragend wie diese Schweizer Gipfel, dafür aber von Menschenhand aus einem Stoff geschaffen, der von der Ferne nicht viel weniger materiell sich darbot als das pure Licht in seinen verschiedenen Brechungen. Mit ausgesprochenem Vergnügen sahen mein Freund B.H. und mein Gastfreund Io-Fagòr die anstaunende Fassungslosigkeit in meinen Zügen. Es war ja das erste Mal, daß ich mich fassungslos zeigte, denn das Zusammenhüpfen der Himmelssterne zu journalistischen Verkündigungen hatte mich eher nervös gemacht als in staunende Bewunderung versetzt. Vor dem millionenfachen Durcheinanderblitzen und -glitzern, Flammen und Flimmer des astromentalen Berges hatte ich aber wirklich meine blasierte Haltung verloren.

»In unserem Djebel, den Sie hier vor sich sehen,« belehrte mich lächelnd Io-Fagòr, »sind alle drei Lamaserien der Chronosophen untergebracht.«

»Wie ist es möglich«, hörte ich mit Unlust mich selbst stammeln, »wie können die Körper und Nervenzellen mentaler Menschen inmitten solcher Lichtkatarakte das Leben ertragen?«

»Aber F.W., wo denkst du hin?« schüttelte B.H. über meine Naivität den Kopf. »Selbstverständlich befinden sich die ›chronoelastischen‹ und ›chronogymnastischen‹ Übungssäle der Sternwanderer, die Versammlungshallen der Verwunderer (der Thaumazonten), die Erkenntniszellen der Fremdfühler (der Xenospasten), von den Dormitorien der Studenten bis hinab zum Comptoir des Hochschwebenden in den angenehmsten Dämmerungen und Hausbeleuchtungen. Zu meiner Schande muß ich sagen, daß ich dies alles nur vom Hörensagen weiß, denn trotz meines Alters habe ich nie den Djebel betreten ...«

»Und Sie selbst, Seigneur«, fügte Io-Fagòr hinzu, »werden im Djebel eine Finsternis kennenlernen, von der Sie sich auch während Ihrer Absenz nichts haben träumen lassen.«

Mich durchfuhr plötzlich eine Ahnung. War der Djebel etwa ein riesenhaftes, unermeßlich kompliziertes Spiegelteleskop, das das menschliche Auge über alles je Erdachte hinaus in den Weltraum trug und das echte Bild der kosmischen Wirklichkeit in unser Bewußtsein projizierte? Schon wollte ich diesen Einfall verraten, als mich davon der Gedanke zurückhielt, daß bereits am Ende meines Lebens die mammuthaften Teleskope von Mount Wilson oder Arequipa altmodisch und überholt gewesen sein mochten und vermutlich durch kleinwinzige elektronische Ikonoskope oder durch televisionäre Filmapparaturen abgelöst zu werden im Begriffe standen. Man konnte ohne Zweifel ein oder zwei Jahrzehnte nach meinem Dahingang das aktuell abrollende Bild des Sternenhimmels in der Westentasche tragen wie eine Uhr, um es zu Hause nach einem gemütlichen Souper in unglaublicher Plastik sich selbst vorzuspielen wie den Amateurfilm, den man von einer Ferienreise heimgebracht hat. Ein oder zwei historische Epochen später konnte allerdings die Astronomie wieder bei Mammutapparaten halten, im ewigen Wechsel der Dinge.

Meine Leser wissen schon, daß ich nichts erkläre, was ich nicht selbst erklärt bekam, oder, obwohl ich's erklärt bekam, nicht erfaßte, einfach deshalb, weil die rückständigen Voraussetzungen eines Geistes aus den Anfängen der Menschheit zum Verständnis nicht ausreichten. Ebensowenig wie ich versucht habe, das Reisegeduldspiel und seine Wirkungsweise zu erklären, ebensowenig und noch viel weniger will ich's beim Djebel versuchen, obwohl ich, wie man noch sehen wird, einigemal von dem Argwohn, mich inmitten eines Teleskops zu befinden, versucht wurde. Die Anwandlungen des Zweifels aber verschwanden jedesmal schnell. Wir alle werden in Kürze den interplanetaren Raum durchdringen, ohne die Wirklichkeit unserer Erfahrung zu bezweifeln, und wenn wir vor den intergalaktischen oder gar vor den internebularen Räumen haltmachen müssen, so wird es nur deshalb geschehen, weil unsere Gastfreunde und die chronosophischen Oberen uns die Kraft nicht zutrauen, so tief in die Raumzeit und den Zeitraum vorzudringen, ohne das eigene Leben zu verlieren.

Inzwischen fühlte ich wieder jene eisartige Spiegelfläche unter meinen unversehens schlittschuhbeflügelten Füßen. Im Tageslicht erglomm diese Fläche flaschengrün, und wenn man niedersah, bot sie dem Auge eine meeresartige Tiefe dar, obwohl sie keinesfalls aus gefrorenem Wasser bestand, sondern aus einem ähnlichen Material vermutlich wie der Djebel, für welches ich dem bloßen Augenschein nach das Wort Glasfluß verwendet habe. Wir hatten in wenigen Minuten und in nervenbelebendem Schwung die beträchtliche Entfernung zurückgelegt, die uns vom Fuße des Djebel trennte. Nun glitten wir in einen der hundertelf Riesenpylone ein, welche als Eingänge die Südwand durchbrechen (waren's hundertelf? Woher weiß ich das so bestimmt? – Anmerkung des Autors). An uns sausten in beiden Richtungen junge Männer vorbei, die an Schnüren aufgefädelte Büchlein um den Hals trugen, ähnlich wie Südseeinsulaner Muschelketten. Es waren Externisten und Kursbesucher. Sie riefen einander Spott- und Scherzworte zu, lachten und machten Lärm wie zu meiner eigenen Studienzeit. Vermutlich gehörten sie zu den untersten Stufen der chronosophischen Studentenschaft. Damit uns kein Pedell oder Pförtner aufhalte, hatte Io-Fagòr ein hellblaues Fähnchen entfaltet, das er hin und her schwang. Darauf stand geschrieben: »Ich bin ein Gönner und Förderer des chronosophischen und astropathetischen Unterrichts.«

Das Wort »Unterricht« entspricht nur zum geringsten Teil den Tatsachen, die ich kennenlernen sollte. Es war eine geschämige Untertreibung. Ebensowenig würde das Wort »Wissenschaft« hinreichen, um den hehren Dingen gerecht zu werden, mit welchen man sich in den drei Hauptlamaserien beschäftigte. Der Unterricht, den ich in meiner Jugend kennengelernt hatte, vermittelte fertiges, gargekochtes Wissen, das man mittels des Gedächtnisses zu sich nahm und mittels des Vergessens wieder ausschied. Mehr oder weniger vage Wissensspuren blieben im Geiste zurück. Bildung hieß die gesellige Kunstfertigkeit, diese Wissensspuren flink zu allerlei mosaikartigen Mustern kombinieren zu können. Wie aber schon das Wort »Lamaserie« verrät, hatte die mentale Wissensaneignung nur sehr wenig mit dem oberflächlichen Schulbetrieb jener fernsten Vergangenheit zu tun, welcher ich zum Glück wieder angehöre. Lamaserien, das waren große, klosterartige Internate, in die man als Knabe eintrat, um sie erst wieder mit zweihundert zu verlassen, wenn das Leben zu Ende ging. War es aber so weit, so klagten die meisten Adepten der Chronosophie, der Sternwanderschaft, des Verwunderertums und der Fremdfühlerei, daß sie kaum bis zur Hälfte des Wissens vorgedrungen seien und als bessere Analphabeten aus den Welträumen schieden. Der wesentliche Unterschied zwischen der astromentalen und unserer alten intellektuellen Schule lag darin, daß Wissen nicht ein abgetrenntes Stückwerk war, das man als Kollegheft in die Tasche steckte, sondern eine ganz bestimmte Seinsform, eine zur Existenz gewordene geheimnisvolle Essenz, mit der man sich vom ersten bis zum letzten Tage körperlich, seelisch und geistig zu durchtränken hatte.

Ich habe soeben behauptet, daß die mentale Wissensaneignung nichts mit dem Schulbetrieb aus unsern Anfängen der Menschheit zu tun hatte. Diesen Satz halte ich hartnäckig aufrecht, obwohl ich mich nach einigen Irrläufen innerhalb der äußeren Vorhöfe des Djebel in ein regelrechtes Klassenzimmer versetzt fand, das recht gut mein eigenes Klassenzimmer in der Volksschule der Piaristenpatres hätte sein können, in welchem ich Lesen und Schreiben gelernt habe. Die schwarze Tafel war da, das große Podium mit dem Katheder des Lehrers, die weißgetünchten Wände, ein Schrank mit verschiedenen Globen, kurz alles, bis auf die Schulbänke. Statt ihrer standen Pritschen mit hochgestützten Lehnen neben- und hintereinander in Reih und Glied. Das Ungewöhnlichste aber waren die Schlafsäcke aus durchscheinendem, regendichtem Stoff, die auf den Pritschen lagen. Mir wenigstens erschienen sie auf den ersten Blick fälschlich als Schlafsäcke. Sonst aber standen dieselben halbwüchsigen Buben umher, die meinen Mitschülern von ehemals glichen, bis darauf, daß sie enganliegende Lederkappen mit Ohrenklappen über ihre Kahlköpfchen gezogen hatten. Sie betrachteten mich neugierig und mißtrauisch, nicht anders als wir einen Eindringling oder Hospitanten meiner Art betrachtet hätten. Sie hatten ihre Allotria unterbrochen, schwiegen und waren verlegen, ebenso wie ich und B.H. Mein Freund hatte darauf bestanden, bei dem anscheinend so harmlosen Abenteuer dieser Schulstunde an meiner Seite zu sein. Ich fühlte, daß unsere Anwesenheit den Jungen immer komischer vorkam und daß wir über kurz oder lang mit dem Ausbruch einer höhnischen Klassenheiterkeit zu rechnen haben würden. Da entblößte ich für alle Fälle ein wenig die violette Handgelenkschleife, worauf sofort ein erregtes und achtungsvolles Tuscheln einsetzte. Man hätte nicht glauben sollen, daß dieses ehrende Angebinde, das ich selbst zuerst nicht hoch genug eingeschätzt hatte, einen solchen Eindruck selbst auf die astromentale Schuljugend machte. Da aber hatte schon der Lehrer mit langausgreifendem Lehrerschritt die Klasse betreten.

Der Lehrer war ein Lehrer jeder Zoll. Seine Erscheinung bewies mir, daß gewisse Grundtypen der Menschheit unberührt bleiben von den extremsten Verwandlungen und Entwicklungen der Geschichte. Sogar die schwärzliche Kutte des Beamten, in welche er seinen bläßlich schmalen Leib nervös und fröstelnd hüllte, war lehrerhaft. Ebenso lehrerhaft war die Art, mit der er plötzlich zusammenzuckte, mit leerem Ausdruck sein Handgelenk betrachtete, mißbilligend spöttisch den Mund verkniff oder argwöhnische Blicke über seine Klasse hinschweifen ließ, um in der letzten Reihe irgendeinen Unfug zu entdecken, der ihn mit Lehrerschmerz, Lehrerzorn und Lehrersorge für den betreffenden Schüler erfüllte, je nachdem. Er trug einen langen Geographiezeigestab in der Rechten, den er teils als Stütze, teils als Waffe, teils als Taktstock zu nützen gesonnen schien. Manchmal fuchtelte er mit ihm drohend in der Luft herum, wenn das zackige Geschwätz der Buben oder eine falsche Antwort seine Geduld erschöpft hatte. Für mich bedeutete der archaische Charakter des Lehrers eine außerordentliche Beruhigung. Denn warum soll ich's verheimlichen: Ich sah meiner ersten chronosophischen Schulstunde mit einigem Bangen entgegen, oder, um es ganz richtig auszudrücken, mit einer Art von kosmischer Angst. (Das, was ich hier kosmische Angst nenne, war ein Erbteil meiner Kindheit, das ich mir erworben hatte, als ich das erste Mal Aufklärung über die wahre Natur der Himmelskörper empfing.) Ich hätte mir gewünscht, der Lehrer würde dann und wann auch mich ins Gebet nehmen wie seine anderen Schüler. Das hätte mir ein großes Sicherheitsgefühl gegeben. Er hingegen behandelte mich nicht nur mit ausgesuchter Hochachtung, sondern sogar mit scheuem Respekt, als wäre ich ein amtlicher Schulinspektor, der ein folgenreiches Urteil über seine pädagogischen Eignungen abzugeben habe.

Wir drängten uns vorerst vor dem Katheder des Lehrers, B.H., ich und die ganze Klasse, die aus etwa zwanzig Schuljungen bestand, die meinem Gefühl nach zehn bis dreizehn Jahre alt sein mochten. Wieviel Jahre sie im mentalen Leben wirklich zählten, das konnte ich nicht beurteilen. Der Lehrer hatte mit hoheitsvollem Gesichtsausdruck seine Klasse zweimal abgezählt; nun murmelte er formelhaft:

»Wir stellen uns jetzt rechter Hand an die Lager der Ruhe und der Bewegung!«

Mit Lärm, Gelächter, Getrampel gehorchten die Buben dieser Weisung. B.H. aber und ich blieben verlegen stehen. Da eilte der Lehrer vom Podium auf uns zu und führte uns mit steifen Kopfneigungen und geziertem Lächeln zu den beiden längsten Strecksesseln oder Pritschen in der ersten Reihe.

»Diese beiden Lager der Ruhe und Bewegung«, sagte er, »sind für die Herren reserviert.«

Crescendo im Schuljungengeschwätz indessen. Der Lehrer hob den Kopf mit einem Ruck, wurde zornig und rief:

»Ruhe da hinten! Kann ich das bißchen Ernst und Feierlichkeit nicht erreichen, um das ich die Klasse täglich anflehe, und heute gar, wo uns hohe Hospitanten mit der violetten Handgelenkschleife die Ehre geben?« (Er verneigte sich vor mir und B.H., ohne aber seine Mahnrede zu unterbrechen.) »Wir werden sogleich in den Weltraum auffahren, und ihr benehmt euch wie die Babies im Park des Arbeiters. Wenn es auch nur der ›Kleine Weltraum‹, das ›Niedere Intermundium‹ ist, den wir mit unseren lieben Gästen heute ein bißchen durchturnen wollen, so muß ich doch darauf bestehen, daß es mit Ernst und Feierlichkeit geschieht. Ernst und Feierlichkeit sind die Lampen, in denen die wahre innere Freude brennt. Man soll voll innerer Freude sein, wenn man in das Intermundium auffährt! ...« Er unterbrach sich und suchte plötzlich mit fast tückischem Lehrerblick ein Opfer:

»Wenn es der Sprachgebrauch auch erlaubt zu sagen ›Auffahren‹, ist dieses Wort sinngemäß und richtig? Antworten Sie, Schüler Io-Schram, der Sie Ihrem Nachbar so viel zu erzählen haben.«

»Nein«, zögerte eine Schülerstimme hinten, »es ist nicht sinngemäß zu sagen ›Auffahren‹, Herr Lehrer ...«

»Und warum nicht, guter Io-Schram?«

»Aus mehreren Gründen, Herr Lehrer«, entgegnete der Schüler immer tastender.

»Ei, sieh da«, lachte der Lehrer ziemlich giftig, »Schüler Schram hüllt sich in Allgemeinheiten. Wie wäre es, wenn Sie die Güte hätten, mir wenigstens einen von Ihren mehreren Gründen zu nennen?«

Lange Pause. Dann kam stockend unsicher die Antwort:

»Weil man ebenso ... nach unten auffährt ... wie man nach oben abfährt ...«

Die Klasse brach in eines jener Hohngelächter aus, deren Opfer jedermann, der ein Schuljunge war, gewiß schon einmal gewesen ist. Ich war ganz erstaunt über die anheimelnde Wiederholung unseres eigenen Lebens, während ich zu B.H. amüsiert hinüberzwinkerte.

»Ruhe«, donnerte der Lehrer. »Sie lachen falsch. Schüler Schram hat in seiner ungebildeten Art die richtige Antwort gegeben ... Gehen wir weiter! Wo haben wir gestern unterbrochen?«

Durcheinander der Bubenstimmen, die eifrig antworteten. Ich mußte nur die Augen schließen, um mich in meine eigene Schulzeit versetzt zu fühlen. Was diese Antworten freilich zu bedeuten hatten, davon verstand ich zuerst gar nichts:

»Gestern haben wir die Maria Magdalena gehabt, Herr Lehrer ... und dann haben wir gehabt den Täufer, aber nur einen Augenblick ...«

»Einer nach dem andern, wenn ich bitten darf«, rügte der Lehrer. »Wir sind nicht auf dem Geodrom bei einer Rätselsoirée, sondern im Djebel in der Lamaserie der Chronosophen, deren Vorhof anzugehören wir die Ehre haben ...«

Ich sah erschrocken meinen Virgil an, den Wiedergeborenen, der sich zu meinem Ohr neigte und mir zuflüsterte: »Du brauchst keine Angst zu haben, F.W., den Planeten Maria Magdalena hast du unter dem Namen Venus gekannt, den rötlichen Täufer unter dem Namen Mars, und der Apostel Paulus war einst Saturn mit seinem Ring. Nach dem letzten Erdenkrieg, du erinnerst dich, dem Krieg von drei dreizehntel Minuten zwischen den Blauen und Roten, der ja wegen der Sternbenennung ausbrach, beschloß das Konzil von Tao-Tao die Planeten und galaktischen Konstellationen zu christianisieren. Sie heißen jetzt nach den Propheten, Aposteln und Heiligen.«

»Verstanden, B.H.«, sagte ich wie ein Bauchredner mit geschlossenem Munde, und mit einem Blick auf den Lehrer: »Ich glaube, wir dürfen nicht schwätzen ...«

Der Lehrer, der nun wieder auf dem Kathederpodium stand, verkündete, indem er mit seinem Geographiezeigestab eine Wellenlinie in der Luft beschrieb:

»Wir werden uns heute zu einem freien Programm bekennen, zu Ehren unserer teueren Hospitanten ...«

»Fein, Herr Lehrer, freies Programm ist immer lustig«, jubelten die Jungen durcheinander und ließen jeden Ernst und jegliche Feierlichkeit vermissen.

»Wir legen nun unser Raumtauchergewand an«, befahl der Lehrer trocken und machte damit dem Freudenausbruch ein Ende.

Rings um mich Bewegung und lautes Geraschel. Die Schuljungen schlüpften in die Schlafsäcke aus wasserdichtem, oder vielmehr aus raumdichtem Stoff, die auf den Schulpritschen lagen. Es waren aber keine Schlafsäcke, sondern wirkliche Tauchergewänder mit Kopfglocken aus dickem Glas, das heißt Glas konnte es wegen der Leichtigkeit nicht sein, sondern irgendeine durchsichtige Masse, vielleicht dieselbe, aus welcher der Djebel errichtet war. Der Lehrer höchstselbst half mir und B.H. in die sonderbare Montur und schraubte mir die Glocke über der Schulter fest. Wenn mich einer meiner früheren Zeitgenossen gesehen hätte – einen Befrackten im Tauchergewand – der hätte ohne Zweifel große Augen gemacht. Glücklicherweise sah, hörte und atmete ich in diesem hermetisch verschlossenen Gehäuse, das fast überhaupt kein Gewicht besaß, weit besser als früher. Der raumdichte Stoff, und vor allem die durchsichtige Masse der Kopfkugel, schien alle Sinne zu schärfen, sogar das Gehör.

»Kannst du es verstehen«, sagte ich zu B.H. neben mir, »daß ich auf eine mir ganz unbekannte Art Herzklopfen habe?«

»Ich kann es wohl verstehen«, versetzte er, »da auch ich das erste Mal an einer chronosophischen Übungsstunde teilnehme, und ich lebe schon hundertundsieben Jahre in dieser Zeit und Welt.«

»Nun, da muß ich mich wenigstens vor dir nicht schämen, B.H.«, lachte ich.

»Wir strecken uns nun aus, jeder auf sein Lager der Ruhe und Bewegung«, ordnete der Lehrer an, was von der Klasse mit unnötigem Lärm und Gelächter befolgt wurde, worauf er noch einmal seinen Wahlspruch laut erschallen ließ:

»Ernst und Feierlichkeit bitte!«

Ich verstand ihn. Mein Herz klopfte wirklich arhythmisch. Es war mehr als Ernst und Feierlichkeit in mir. Es war Furcht und Zittern. Ich konnte nicht zweifeln, daß wir nach all diesen Vorkehrungen nicht nur bildlich, sondern körperlich in den Weltraum auffahren würden. Der Lehrer hatte jetzt den Tonfall eines Schiffskapitäns, der die letzten Anordnungen zur Abreise trifft. »Ich ernenne heute die beiden Schüler Io-Hol und Io-Rar zu Antwortern. Lasset unsere lieben Gäste nicht aus den Augen.«

Zwei brave Stimmen hinten:

»Jawohl, Herr Lehrer, wir bleiben in der Nähe.«

Nun tauchte auch der Lehrer unter und verschwand, da er sich auf seine Pritsche auf dem Kathederpodium ausstreckte. Zugleich aber schien er die Beleuchtung ausgeschaltet zu haben. Denn aus dem regnerischen Alltagslicht, welches das Schulzimmer bisher erfüllt hatte, war Finsternis geworden, eine ganz gewöhnliche Zimmerfinsternis übrigens. Das nächste Ereignis war zunächst noch immer nicht ganz ungewöhnlich.

»Die Lager der Ruhe und Bewegung« nämlich, auf denen wir ausgestreckt lagen, begannen langsam vorwärts zu rollen. Wir fuhren durch die ganz gewöhnliche Zimmerfinsternis, als gäbe es hier keine abgetrennten Räumlichkeiten und keine Wände mehr, die uns Widerstand leisteten und Grenzen setzten. Ich tastete nach B.H.s Hand. Sie bewegte sich neben mir.

»Siehst du«, sagte ich, ein wenig triumphierend, »es ist und bleibt ein Gefahrenwerden, und der Großbischof meint, ich sei gar nicht gestorben ...«

»Warten wir's ab, F.W.«, sagte B.H. »Ich glaube übrigens, wir werden nicht gefahren, sondern wir werden geflogen, was doch etwas ganz anderes ist ...«

Kaum waren diese Worte gesprochen, als unsere Lagerstätten allerlei Kapriolen auszuführen begannen. Ihr Tempo beschleunigte sich beängstigend und verlangsamte sich nicht minder beängstigend. Wir beschrieben wilde Kreise und Schraubenlinien, fuhren strack in die Höhe, sausten jach in die Tiefe wie auf den Scenic railways der Rummelplätze. Ich hatte aber das ganz bestimmte Gefühl, weiß Gott warum, immer wieder auf denselben Platz zurückzukehren, oder besser, trotz der erregtesten und labyrinthischsten Fortbewegung nicht vom Platze zu kommen.

Trotzdem konnte ich nicht unterscheiden, ob's ein Gefahren- oder Geflogenwerden war. War's eine Fahrt, so erfolgte sie jedenfalls ohne die geringste materielle Reibung. Man spürte weder den Erdboden unter dem Vehikel noch den Luftzug, den unsere Bewegung hervorrufen mußte.

Es war sehr ähnlich wie die große Todesfahrt, die ich vor Unzeiten kennengelernt hatte. Nur um meine Stimme zu hören, sagte ich zu B.H.:

»Geht's hier nicht zu wie im Grimmschen Märchen, wo Hans das Gruseln lernen will? Das Bett fährt und fährt ...«

Ich wunderte mich, daß ich diese Worte nur mit atemlosen Keuchen hervorstoßen konnte. Die Stimme des Lehrers knapp vor mir aber war ganz ruhig:

»Was ist die chronosophische Übung Groß Eins, klein a? Geben Sie Antwort, Antworter Io-Hol.«

Prompt und klar erscholl's aus dem Munde des Vorzugsschülers dicht hinter mir:

»Übung Groß Eins, klein a: Verwirrung des Raumsinns ...«

Dies aber ist keine gewöhnliche Finsternis mehr. Gott weiß, ob wir uns in einem Schulzimmer befinden. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Von Zimmerfinsternis jedenfalls kann man nicht mehr sprechen. Die gewöhnliche Zimmerfinsternis ist ja nichts anderes als eine zeitweilige Abblendung wohlbekannter Raumverhältnisse. Sie ist gar keine wahre Finsternis, sondern nur eine Verdunkelung, ein Blackout. Dies gilt auch für die tiefste irdische Nacht, die sich ja nur auf die relative Abwesenheit des fortbestehenden Sonnenlichtes gründet. Zwischen irdischem Dunkel und wirklicher Lichtlosigkeit herrscht übrigens derselbe Unterschied wie zwischen dem menschlichen Tod und dem wirklichen Nichtsein, was ich unbedingt dem Großbischof noch hätte auseinandersetzen müssen.

Hier jedoch, wo ich mich jetzt befinde, ist zweifellos etwas von der allerersten Finsternis, das heißt Lichtlosigkeit, zurückgeblieben, die war, ehe die Schöpfung war. In dieser Lichtlosigkeit gibt es nicht rechts und links, nicht oben und unten. Übung Groß Eins, klein a scheint völlig gelungen zu sein. Sollte mich der Herr Lehrer jetzt fragen: »Schüler F.W., wo ist Ihre rechte Hand?« ich würde lange und tief über dieses Problem nachdenken müssen. Links trage ich jedenfalls die Ehrenschleife, das ist das einzige, was in meinem Bewußtsein feststeht. Aber warum liege ich nicht ausgestreckt wie zu Beginn der Verdunklung? Es ist doch lebensnotwendig, daß ich liege, auf der Schlafbank, auf der schmalen Pritsche, auf dem Lager der Ruhe und Bewegung, sonst falle ich doch hinunter ins Nichts. Nein, ich bin von der körperlichen Überzeugung erfüllt, daß ich ebenso leicht in die Höhe stürzen könnte wie in die Tiefe. Am meisten beunruhigt es mich, daß mein Rücken nichts berührt. Doch ich habe noch mehr Grund zur Unruhe. Ich weiß nämlich nicht, ob meine Füße oben sind oder mein Kopf. Dabei bin ich fest überzeugt – es ist wiederum eine rein körperliche Überzeugung –, daß ich ohne die geringste Anstrengung mich viele hundertmal in der Minute um meinen Nabel wirbeln könnte wie ein Flugzeugpropeller. Vorderhand aber macht mir die Möglichkeit, ungeahntermaßen die Primaballerina meiner selbst zu sein, gar keinen Spaß. Alles muß man üben, nicht nur auf Erden, sondern auch im Niederen Intermundium, wo ich mich zu befinden ahne. Immer deutlicher kommt es mir zu Bewußtsein, daß diese ungewöhnliche Finsternis, der ich angehöre, keine Nacht ist. Oh, wie waren die Nächte, die tiefsten, die ich kannte, schwarz, pastos, sonor. Die Finsternis, in der ich stecke, ist nicht schwarz, pastos, sonor, sie ist ganz und gar farblos wie die Blindheit eines Blindgeborenen, der nicht weiß, wann und wie es Abend und Morgen wird. Vermutlich wäre es klüger von mir gewesen, diese Schulstunde zu schwänzen. Pfui Teufel, wie sehr ist doch selbst ein routinierter Toter ein Lebensdeserteur. Der schäbige Selbsterhaltungstrieb reicht also über die faktische Existenz hinaus. Hätte ich nicht jetzt die beste Gelegenheit, zu zerfließen, im Weltraum verloren zu gehen? Jetzt oder nie ...

»Wie fühlst du dich, F.W.?«, traf mich B.H.s Stimme, die nicht tönte. Ich hätte nicht sagen können, von wo sie ausgesandt war, ob rechts oder links von mir, ob von oben oder unten, ob hinter meinem Dasein oder vor meinem Denken. Sie erklang von überall zugleich, wobei das Wort »erklang« bereits eine Fälschung ist, denn, wie schon erwähnt, B.H.s Stimme hatte keinen Klang, ebensowenig wie meine eigene oder die Stimme der anderen, die ich hier noch hören sollte.

»Mir geht's ganz passabel, B.H.«, beeilte ich mich zu antworten, obwohl mich tiefe Beklemmung, ja beinahe Übelkeit beherrschte.

»Wenn ich nur wüßte, wo ich meine lieben guten hundertsechzig Pfund gelassen habe ...«

In die Leere hinein erscholl sofort darauf des Lehrers Stimme, tonlos, am ehesten einem matten Zischen vergleichbar. In diesem Augenblick wußte ich, daß ich dicht von der Schulklasse umgeben war. Eine balsamische Beruhigung für meine Nerven, obwohl ich nichts und niemanden lokalisieren konnte. Dem Lehrer aber hatte ich mit der Erwähnung meines Gewichts ein gutes Stichwort gegeben:

»Antworter Io-Rar«, zischte er unlokalisierbar, »antworten Sie, wo hat Seigneur sein Gewicht gelassen?«

»Im Djebel, Herr Lehrer«, antwortete Antworter Io-Rar, worauf die Klasse, die mich jetzt schon deutlicher umgab, ein bißchen kicherte. Ich verstand nicht warum. Es klang, wie wenn ein wenig Dampf ins Heizungsrohr einzustöhnen beginnt.

»Antworter Rar, von Ihnen hätte ich keine faulen Witze erwartet«, zischte der Lehrer. »Ich übernehme die Antwort selbst: Seigneur und wir anderen haben kein eigenes Gewicht hier. Unsere lieben und guten hundertsechzig Pfund oder weniger sind genau der persönliche Anteil an der Liebe unserer Mutter Erde, mit welcher sie jeden von uns festhält, respektive festgehalten hat.«

»Also doch«, durchschauerte es mich vom Scheitel zur Sohle. Wir waren jenseits der irdischen Schwerkraft. Unsere Gewichtlosigkeit bewies es klipp und klar. Das poetische Gleichnis des Lehrers verstimmte mich übrigens. Wenn die Liebe meiner Mutter Erde für mich nur hundertsechzig Pfund wiegt, so bin ich jedem dickeren und schwereren Mann gegenüber ein vernachlässigtes Stiefkind.

»Antworter Io-Hol«, befahl jetzt der Lehrer, »bestimmen Sie unseren Standort! Wo befinden wir uns?«

»Wir befinden uns ...« zögerte die diensteifrige, doch immer noch nicht lokalisierbare Knabenstimme.

»Daß wir uns befinden, das weiß selbst der Dümmste«, spottete der Lehrer. »Um das Wo handelt es sich.« Da er keine Antwort bekam, zischte es nach einer Pause:

»Andere legen hundert Lichtjahre zurück, ehe meine Schüler die leichtesten Fragen beantworten ... Wir befinden uns im Grauen Neutrum ... Die ganze Klasse wiederholt!«

Chor der Klasse: »Wir befinden uns im Grauen Neutrum.«

Der Lehrer erklärte diesen Ausdruck nicht weiter. Es war auch nicht nötig. Das Graue Neutrum konnte wohl nichts anderes bedeuten als jenen Teil des »Kleinen Weltraums«, in welchem die Gravitationsfelder der einzelnen Himmelskörper neutralisiert, das heißt unwirksam sind, und den keinerlei Lichtstrahlen durchfluten.

Ich bekenne, daß ich ein astronomischer Barbar bin und beim Betreten der chronosophischen Elementarklasse vom Kleinen Intermundium fast nichts und von den größeren Intermundien überhaupt nichts wußte. Ich erwähne diesen Umstand nur, weil es für mich selbst einen peinlichen Nachteil, für den zweifellos viel gebildeteren Leser jedoch einen angenehmen Vorteil bedeutet, daß ich nicht imstande bin, ihn mit wissenschaftlichen Erörterungen und Weitschweifigkeiten zu langweilen, sondern mich in meinem Bericht einzig und allein auf die faktischen Erlebnisse meiner armseligen Sinne beschränken muß. Ich weiß genau, daß diese meine Unwissenschaftlichkeit ganz und gar unziemend ist, aber ich will nichts verheucheln. Arme Leute kochen mit Wasser. Ich bin daher gezwungen, von meinem Besuch im interplanetaren Raum nicht anders und nicht gelehrter zu plaudern wie etwa von einem Sonntagsausflug in die Umgebung meiner Heimatstadt, anno dazumal, mit Wagen und Pferd.

Unter den Schuljungen der Klasse, der ich nun selbst angehörte, wurde der Jüngste, Kleinste, Hübscheste und Grazilste bei dem gutmütigen Spitznamen Io-Knirps gerufen. Trotz allem Ernste und aller Feierlichkeit, die unser Lehrer im Weltraum mit Recht gewahrt zu wissen wünschte, bediente auch er sich desselben Spitznamens, obwohl er in seinem Munde mehr wie ein Kosewort klang. Der Kleine mit seinem lichten aufmerksamen Gesichtchen und seltsam kugelrunden Kopf war nämlich sein ausgesprochener Liebling, und zwar hauptsächlich darum, weil er als Muster und Meister im »Kometenturnen« gelten mußte.

»Sind Sie in Bereitschaft, Io-Knirps?« zischte des Lehrers tonlose Stimme, und dann folgte eine kurze Erklärung, die ohne Zweifel an B.H. und mich gerichtet war, diese beiden Unbelehrten, die aus der Tiefe der Zeiten kamen und doch weniger Ahnung von der Zeit hatten als irgendeiner der chronosophischen Pennäler hier. Jeglicher Körper, erfuhren wir, der sich im Himmel, das heißt außerhalb der sideralen Schwerkräfte befinde, sei so eo ipso ein Himmelskörper. Es bleibe uns allen daher unbenommen, nein, es sei eine blanke Notwendigkeit, die Gestalt von Himmelskörpern anzunehmen. Die einzige Gestalt freilich, die für uns in Betracht komme, sei die der Kometen, der schweifenden und geschweiften Sterne.

Hundertsechzig Pfund irdischer Materie, die Hälfte davon, das Viertel, das Zehntel, das Hundertstel, reiche vollkommen hin, um einen stattlichen Kometen abzugeben, mit leuchtendem Kopf und einem Schweif von Millionen Kilometern. Da wir aber nicht nur Materie seien, sondern auch Geist und Wille, so könnten wir unsere Himmelskörperlichkeit frei bestimmen, ihre Ausdehnung und ihre Zusammenziehung, ohne Gefahr zu laufen, in den interstellaren Raum geschleudert oder unerwünschterweise als Meteor von einer planetaren Schwerkraft abgefangen zu werden. Wir könnten in jeder Richtung nach Wunsch spazieren, meinte der Lehrer. Auf dieser erhabenen Harmonie der Freiheit zwischen Materie, Geist und Wille sei von den Begründern der Chronosophie die wichtige Kinderdisziplin des Kometenturnens errichtet worden.

»Da wir heute hohe und sehr fremde Gäste mit uns haben«, schloß der Lehrer, »wollen wir in keine Extravaganzen verfallen, merken Sie sich das, Io-Schram und einige andere noch. Wir wollen uns daher nicht über die bescheidene Länge des doppelten polaren Erdradius ausdehnen, welche beträgt, Antworter Rar? ...«

»12.713 Kilometer«, kam die Antwort des Antworters prompter als sonst.

»Weniger 200 Meter«, nörgelte der Lehrer mit dem Gezisch einer widerspenstigen Dampfheizung. »Faule Witze und keine Präzision. Bessern Sie sich, Io-Rar.« Er machte nach Lehrerart eine Pause, um der Zerknirschung des Vorzugsschülers Raum und Zeit zu geben sich zu entwickeln. Dann durchdrang seine stimmlose Stimme wiederum die Resonanzlosigkeit rundum, nur etwas ermunternder als vorher:

»Und nun los, lieber Knirps!«

Das Graue Neutrum, in dem wir – ich finde kein treffendes Zeitwort –, in dem wir unseres Da-Seins bewußt waren, schien jenem Terrain zu ähneln, das man in der Taktik des Infanteriefeuergefechtes den toten Raum nennt, nämlich jenen Teil des Zielfeldes, der von den Projektilen nicht bestrichen werden kann. Mit anderen Worten, dort wo ich war, ohne zu wissen wo oben ist und unten, vorne und hinten, dort war ein ausgesparter Raum, ein abseitiger Winkel, den die nahen Strahlen der Sonne und die fernen Strahlen der Sterne nicht trafen. Das hatte zur Folge, daß man nicht nur nicht die Hand vor den Augen sah, sondern daß die Idee des Sehens überhaupt, welche ja notwendig an die Vorhandenheit von Licht gekettet ist, zum baren Unsinn wurde. Da die menschliche Seele und gar die meinige, wie wir schon allzu oft bemerkt haben, sich mit Charakterlosem Fanatismus den jeweiligen Lebensbedingungen anpaßt, so hatte ich hier im Grauen Neutrum die Existenz des Lichtes beinahe schon vergessen. Um so wohliger erstaunte ich jetzt, als sich allgemach vor meinen Augen ein kaum merklich schwaches und lindes Phosphoreszieren zu entschleiern begann. Es war die Kopfkugel des Knirpses, die diesen Hauch von Licht ausstreute, in welchem man die zierliche Gestalt des Knaben immer deutlicher wahrnehmen konnte, wie sie mit tänzerisch ausgestreckten Armen und graziös gekreuzten Beinen um sich selbst wirbelte wie ein Kreisel. Aus welchen Materialien unsere Raumtauchergewänder und Kopfkugeln bestanden, das war mir, wie schon erwähnt, unbekannt. Es mußten jedoch die richtigen Materialien sein, denn siehe da, mit einem jähen Ruck zog sich die Gestalt des hübschen kleinen Wirblers in die Länge, wurde zu einem Strich, wurde schließlich zu einem matten Strahl, der von einem Ende des Grauen Neutrums bis zum andern reichte, ohne anzufangen und aufzuhören. Ich konnte den reizenden Knirps nicht mehr überblicken, da er sich auf Anordnung des Lehrers in die Länge von 12.713 Kilometern weniger 200 Meter gezogen hatte, und ich selber noch immer nicht länger war als rund 1.69, sollten außerhalb der irdischen Schwerkraft Maße mehr Bestand haben als Gewichte. Das also war das Kometenturnen, das Kleinkinderexerzitium der Chronosophen. Welche Übungen und Leistungen hatte man angesichts dessen von den fortgeschrittenen Jahrgängen und gar von den Meistern zu erwarten. Beim Anblick des so einfach im Handumdrehen in einen matten Strahl verwandelten Knirpses, erfaßte mich selbst ein kosmischer Übermut (im Gegensatz zur kosmischen Angst vorher), ja eine prickelnde Naschhaftigkeit nach astralen Erfahrungen ohne Beispiel. Ohne es recht zu wissen und zu wollen, begann auch ich mich um meine eigene schiefgeneigte Achse zu drehen, mit melodisch ausgestreckten Armen und gekreuzten Beinen. Einige Beifallsrufe der Klasse erreichten noch mein Ohr, dann aber riß mich meine völlige Schwerelosigkeit zu einer Umdrehungszahl hin, die mich für einige Augenblicke des Bewußtseins beraubte. Als ich zu mir kam, war auch ich ein unendlich in die Länge gezogener Strich, ein matter Strahl mit einem Leuchtköpfchen, der sich auf dem stehenden Raum des Grauen Neutrums wiegte wie ein Baumstamm auf einer Lagune.

Muß ich dem phantasievollen Leser den Genuß beschreiben, ein Strahl zu sein, das heißt ein kaum mehr materieller Strich von leuchtender Energie? Nein, ich bin überzeugt, der Leser empfindet den Genuß mit mir. Das Sonderbarste und Wichtigste aber war, daß die Verwandlung meiner Gestalt, daß die schier unendliche Verdünnung der Körperlichkeit, aus der ich bestand, nichts an meinem Bewußtsein, ja nicht einmal etwas an meinem physischen Selbstgefühl geändert hatte. Ich war in dem Binnenbewußtsein meiner selbst genau derselbe wie vorher, was schon etwas heißen will, wenn man die ungesicherte Art meiner Erscheinung bedenkt, seitdem sie in dieses mentale Zeitalter aus irgendeinem Tor getreten war.

Nicht ich schien mich verändert zu haben, sondern die Leere, auf der ich als Himmelskörper neben den andern Himmelskörpern meiner Mitschüler lag, und die wir erst durch unser Liegen und Leuchten zum Raume voll Richtungen machten. Mein Schimmerkopf in der glasartigen Kugel schwamm jetzt dicht neben dem von Io-Knirps, der allerlei Evolutionen ausführte, die ich nachzuahmen suchte. Immer mehr Striche und Strahlen mit glimmenden Stecknadelköpfen tauchten auf. Die chronosophische Hauptübung, Kometenturnen genannt, war in vollem Gange.

Auch ich, dem Beispiele Knirpsens folgend, zog mich mehrere Male mit der Geschwindigkeit des elektrischen Stroms zu meiner normalen Gestalt zusammen und zu meiner himmelskörperlichen Gestalt auseinander, durch jede dieser Übungen meine chronoelastische Fähigkeit vermehrend. Als dünne kometartige Striche waren wir eine Abart des Sonnenlichtes, ungefähr den vierundzwanzigsten Teil einer Lichtsekunde lang. Wir konnten uns also mit einer Geschwindigkeit durch das Graue Neutrum bewegen, die nur vierundzwanzigmal geringer war als die Geschwindigkeit eines Sonnenstrahls.

Nur keinen Argwohn bitte. Ich habe das nicht selbst ausgerechnet. Die Schüler Io-Rar und Io-Hol behaupteten es, welche immer wieder dem Herrn Lehrer Rede und Antwort stehen mußten, der sie wegen ihres Hanges zur Ungenauigkeit bitter tadelte. Ich hatte wahrhaftig eine fürchterliche Freiheit in meiner Gewalt. Angenommen, unser Standort (man entschuldige den schiefen Ausdruck) im Grauen Neutrum befände sich auf der Höhe des Erdplaneten, so hätten wir, die Schuljungen der chronosophischen Unterklasse, B.H. und ich, die Reise mitten in den Sonnenball in 192 Erdminuten zurücklegen können.

Nun, unser Standort im Grauen Neutrum lag, ohne daß ich's wußte, dem Quell allen Lichtlebens noch viel näher, wenn auch unsere Reise, tour retour, so atemberaubend sie war, sich in bescheideneren Grenzen halten sollte. Das Merkwürdigste aber, was mir vom Kometenturnen in Erinnerung geblieben ist, war eben jenes doppelte Körperbewußtsein, das ich weiter oben schon angedeutet habe.

Obwohl die feste, gute, dicke Materie, aus der ich bestand, sich für irdische Sinne fast bis zur Verflüchtigung verdünnt hatte, fühlte ich mich doch herrlich beisammen. Ich fühlte mich sogar noch besser beisammen als während meiner Unsichtbarkeit am gestrigen Tage, als ich B.H. in der mentalen Welt zuerst begegnet war. Mit hundertsechzig Pfund Körperlichkeit, so lang wie die Erdachse, versuchte ich zu husten und zu reden, und siehe da, es gelang mir ebenso gut wie allen anderen.

Da befiel mich wieder der Verdacht, wie er mich noch einigemal befallen sollte, ich sei nur das Illusionsopfer einer mentalen Veranstaltung und befinde mich inmitten komplizierter Spiegelungen in der Tiefe des Djebel, Spiegelungen, welche das Intermundium ohne viel Mühe auf die Erde niederzwingen. Fast wäre ich meinem Verdachte erlegen und hätte unvernünftigerweise ihn ausgesprochen, hätte nicht das göttlich schöne Ereignis, das jetzt folgte, jeden Zweifel an der Wirklichkeit dessen, was wir nun erleben werden, bis auf den Grund vernichtet. Nicht einmal der berechtigte Einwurf, daß ein kometartiger, zu umschweifender Bewegung verpflichteter Himmelskörper nicht einfach faul auf dem Raume liegen kann wie ein Baumstamm auf stehendem Wasser, kann mich vom Gegenteil überzeugen. Hatte nicht der Lehrer immer wieder auf den »freien Willen« des Chronosophen hingewiesen, der in jeder Richtung spazieren oder ruhen darf, da er ja Geist vom Geiste ist?

Es begann mit Musik. Wenn freilich Musik das ist was sie ist, nämlich die tönende Organisation des Zeitablaufs wie ihn der Mensch erlebt, dann war es weniger und doch viel mehr als Musik. Es war die tönende Organisation des Zeitablaufs wie sie ein Planet erlebt. Man stelle sich vor: Unzählige Bienenschwärme, deren dumpfes Sommersummen sich nähert. Nein, zu wenig. Man stelle sich vor: das heranfeilende Zirpen von Oktillionen von Grillen. Nein, zu einseitig. Man stelle sich vor: Ein stimmendes Orchester, in dem zehnfach so viel Musiker sitzen als es lebendige Wesen gibt, und jeglicher, in sich versunken, bläst, fiedelt, dudelt seine eigenen Passagen, seine selbständigen Phrasen. Die obere Tongrenze der Instrumente ist nicht etwa mit Pickelflöte und Es-Klarinette abgeschlossen, sondern setzt sich unendlich hoch über das hörbare Tonspektrum fort. Und ebenso nach unten die Brummbässe unendlich tief unter dem Schwingungspendel der Kontrafagotte und Kontrabaßtuben. Ein stimmendes Orchester ist das Chaos, das der Erlösung wartet. Es gibt nichts Spannenderes. Wie aber wenn die Erlösung ins Chaos eingesprengt ist, die unbegreifliche Ordnung in die scheinbare Unordnung? Wie, wenn das stimmende Weltenorchester nach Noten spielt, und zwar Hunderttausende von Symphonien gleichzeitig und gleichräumig? Ach, vergessen wir all diese Vergleiche, die doch nur Vergleiche sind und daher ohnmächtig. Hören wir ihn heransummen, den chromatischen Riesendonner, der alle Register der akustischen Natur zieht und doch nicht laut ist, sondern höchstens zum vollen Mezzoforte sich steigert, doch trotz seiner niederschmetternden Größe niemals jenen verschleierten Adel verliert, den nicht einmal der ahnte, welcher das Wort »Harmonie der Sphären« erfand. Und diesem sanft göttlich sich nähernden Braus vom Pedal zum Diskant entspricht genau die sichtbare Erscheinung, wie sie jetzt auftaucht am Rande des Grauen Neutrums und majestätisch auf uns zuwächst. Zuerst ist es ein Heroldschein ganz matten Silberlichtes, der das Nichts durchadert. Und dann steigt sie auf, die Scheibe, nein, die Kugel, und immer mehr Kugel oder Sphäroid, denn wir sehen plastisch, wir kometartigen Himmelskörper.

»Maria Magdalena«, flüstern die chronosophischen Schuljungen, die nur schaukelnde Lichtstriche sind. Und plötzlich können die Stimmen ihrer Leuchtköpfchen im Leeren eine tiefinnere Atemlosigkeit zischend zum Ausdruck bringen.

»Fest zusammenhalten und strecken«, mahnt der Lehrer; die verführerische Schwerkraft des aufziehenden Venusplaneten könnte manch einen der Schüler aus dem Grauen Neutrum locken. Obwohl wir größer sind als der Durchmesser der vorbeigleitenden Königin überwächst sie den ganzen Raum und füllt einen Augenblick lang unser ganzes Blickfeld aus. Maria Magdalena, Venus und früher Astaroth, ihr Licht ist unendlich gedämpft und daher so büßend, so geisterhaft entsagend. Maria Magdalena hat den Schleier genommen. Sie läßt nichts von ihrem Körper blicken. Wir sehen nur das dichte weiße Gewölk, den undurchlässigen Wasserdampf ihrer Atmosphäre, in den sie sich ewig hüllt. Dieses Gewölk, ihr erhabenes Faltenkleid, ist unruhig, wallt vielgestaltig durcheinander, als litte der Sternenleib unter ihm bittere Schmerzen. Einzig und allein am verwischten Rande des Sphäroids erhellt sich das dampfige Geisterlicht zu einer Ahnung goldener Nacktheit.

Als ich, ein Knabe von sechs Jahren, zum erstenmal das Meer sah, erlitt ich einen Ohnmachtsanfall. Als ich ein Jahr später zum erstenmal einen Gletscherberg vor mir hatte, hielt ich mir die Augen zu. Jetzt aber, da ein Planet ganz nahe an meinen Blicken vorüberzog, den Weltraum vor mir vollständig ausfüllend, da begann ich zu zittern. Ich war ein schwacher, unermeßlicher Strich und zitterte an meiner ganzen Länge. Da ich aber trotz allem auch Augen und Herz und Nerven hatte, brach ich zudem in ein unbeherrscht wildes Schluchzen aus.

Ich konnte nichts dagegen tun, so sehr ich mich bemühte, denn bald bemerkte ich, daß nicht eigentlich ich weinte. Was in mir Gottes war, weinte sich aus in süßester Erschütterung und in ungeheuerlichem Entzücken über die Schöpfung, und weil sich selbst in Sternen fühlsam unterscheiden ließ das Männliche und Weibliche.

Alles bisher Erlebte wäre für den Skeptiker noch immer kein strikter Beweis meiner körperlichen Anwesenheit im Kleinen Weltraum. Die nächsten Ereignisse meiner chronosophischen Schulstunde aber werden es ihm bereits schwerer machen, zu behaupten, daß ich mit Lehrer und Klasse den Djebel nicht wirklich verlassen habe. Doch sei's wie es sei, noch einmal wiederhole ich: die Sichtung, Scheidung, Deutung und Erklärung der mentalen Errungenschaften ist nicht meine, des blutigen Laien, Sache, sondern die Aufgabe von Fachgelehrten. Vergessen wir aber keinesfalls die unveränderliche Grundformel, auf der sich die Praxis aller Zivilisationen aufbaut, von der primitivsten bis zur astromentalen: höchstmögliche Allgegenwart des Menschen bei geringster körperlicher Abnutzung. Unantastbar bleibt das Faktum bestehen, daß der Lehrer mit uns Schülern in erwünschter Ausweitung des Kometenturnens den Boden zweier Planeten betrat, den Boden von zwei herrlichen Himmelskörpern, deren Umlaufsbahnen nicht nur Millionen und Millionen von Kilometern weit auseinander lagen, sondern die auch höchst gegensätzlicher Charakternatur waren. Ich kann nicht sagen wodurch es möglich war, daß wir innerhalb einer einzigen Schulstunde Räume überwanden, die zu durchmessen ein Raketenflugzeug mit etwa tausend Kilometer Stundengeschwindigkeit mehrere Jahrzehnte gebraucht hätte, ebensowenig wie ich sagen kann, warum unsere federleichte Ausrüstung genügte, die grausige Kältetemperatur und den Atmosphärenmangel des Niederen Intermundiums so leicht zu überstehen wie eine frische und doch milde Frühlingsnacht, ganz zu schweigen von der Flammenhitze jenes Aufenthalts, den wir in einigen Minuten beziehen werden. Nichts interessiert mich weniger, nichts liegt mir ferner als die Verfassung einer Jules Verneade. Ich erzähle ja auch von einer astromentalen Welt und nicht von einer technisch-materialistischen wie der genannte Franzose. Ich erzähle, was mit mir geschah, und wie ich es erlebte und nicht mehr. Wir müssen aber stets im Gedächtnis behalten, daß gerade dasjenige, was uns Leuten aus den Anfängen der Menschheit so schwer begreiflich ist, den Inhalt und Endzweck der chronosophischen Lehre bildete, wie sie die mentalen Meister im Djebel vermutlich seit vielen Jahrhunderten entwickelt hatten: die Vertiefung, die Vergeistigung, die Vergöttlichung, oder, was dasselbe ist, die Vernichtung des Zeitgefühls im Menschen durch den täglichen Umgang mit dem sideralen Universum.

Die Initiative ging natürlich von unserm Knirps aus, dem Augapfel des Lehrers. Knirps hatte für eine der Erscheinungen des Niederen Intermundiums eine besondere Vorliebe und fast eine kindliche Schwärmerei. Dies war das Mare Plumbinum, ein gewaltiges Binnenmeer aus geschmolzenem Blei, das sich auf dem letzten der drei inneren, das heißt der Sonne zunächst gelegenen Planeten befand, von denen unsere Erde der drittletzte ist. Ich spreche vom ehemaligen Merkurstern, dem Hermes der Griechen, dem Nabu der Chaldäer, welche seine intellektuelle (prophetische) Wesenheit schon frühe erkannt hatten: Eine Wesenheit aus Leichtfertigkeit und Grübelsinn sonderbar gemischt, weshalb sie ihn auch der Schriftgelehrsamkeit weihten, da sie vermutlich den windigen Charakter der Schriftsteller genau kannten. Heute – ich meine das mentale Heute – hieß der christlich getaufte Merkur nicht mehr nach dem Götterboten mit dem Zweischlangenstab, sondern er hieß nach Jesu Christi Lieblingsjünger: Johannes Evangelist. Die Umtaufe der Himmelskörper war nicht ohne induktiven und deduktiven Tiefsinn erfolgt. Der Evangelist Johannes, der Prophet der Apokalypse, der das Göttlichverborgene offenbart, entsprach aufs feinste Hermes und Merkur, dem Sendboten des Verborgenen, dem Mystiker unter den Göttern, an dessen Stabe die Äskulapschlange des Heils und die Versucherschlange des Unheils sich umschlingen. Zugleich aber, als nächstes Geschöpf, niemals von der Seite der Sonne weichend, versinnbildlichte der Pianet den Lieblingsjünger Johannes, der vom Heiland nicht abläßt.

Es war also Io-Knirps, der dem Lehrer die Erlaubnis zu einigen Extravaganzen abschmeichelte. Wir durften noch schneller um unsere schiefgeneigte Achse wirbeln und uns noch länger strecken als vorher. Nicht nur ich, sondern auch B.H. waren nach und nach der unsagbaren Lust des Kometenturnens auf die Spur gekommen. Einmal konnte sich der sonst so gesetzte Wiedergeborene nicht zurückhalten und brach wie ein Schwimmer in einen rauhen langen Jubelruf aus, der hohl in der resonanzlosen Leere verzischte. Wir verwandelten uns nun, ich weiß nicht in wie lange Striche und Strahlen, die sich unaufhaltsam vorwärts streckten. Da aber das ganze System, wie der Vorüberzug der Maria Magdalena bewiesen hatte, sich uns entgegenbewegte, so geschah es urplötzlich und unversehens und, wie man mir glauben wird, nur mit einem kleinen Teil unseres tief hypnotisierten Bewußtseins, daß wir in die grelle, schrille, gellend auf uns zuwachsende, rasch den ganzen Raum erfüllende, schließlich zu einer weltweiten Schüssel mit hochgeworfenen Horizonten sich höhlende Merkurscheibe des Johannes Evangelist uns einschraubten und einbohrten. Das Unerklärliche, das heißt das Unerklärliche für nicht Vollchronosophen war, daß niemand von uns Schaden nahm, daß wir, obwohl im Bereich der neuen Gravitation sofort aufhörend Himmelskörper zu sein, nicht als schäbige Meteore verpufften, sondern daß wir, wie vorhergesehen und vorhergewünscht, auf dem silbernen Mare Plumbinum landeten, sehr nahe der Küste, und uns sogleich mit dem geschmolzenen Blei, das uns nicht verbrühte, anzuspritzen begannen wie Kinder, die in einem Teich baden. (Es muß schließlich beachtet werden, daß die meisten von uns auch Kinder waren.)

Während ich also in etwas gespielter Kindlichkeit spritzte, lachte, tollte und die sonderbare Elastizität des schwerflüssigen Schmelzmetalls mich bei jedem Sprung hoch in die Luft warf (welche es freilich hier nicht gab), war mir gar nicht so leichtsinnig und kindlich zumute. Ein dicker, schwarz-silberner Dampf wölkte aus dem Bleimeer allüberall zum Himmel. Man hätte uns nur die Glaskugel vom Kopfe schrauben müssen mit ihrer sich stets erneuernden Erdlebensluft, dann wären wir nicht nur erstickt, sondern eine gewaltige Bleivergiftung hätte uns im Nu getötet. Obwohl Blei dasjenige Metall ist, das, wie jeder zumindest von der Neujahrsnacht weiß, schon bei geringen Hitzegraden schmilzt, so mußte auf dem dampfenden Mare Plumbinum dennoch keine empfehlenswerte Temperatur herrschen. Unser Raumtauchergewand war freilich so beschaffen, daß wir kein anderes Klima verspürten als etwa in den mentalen Häusern, hier wie überall. Erst später erfuhr ich, daß Johannes Evangelist ebensowenig eine Rotation um seine Achse vollführt wie unser Mond, sondern in beständiger Faszination und ewiger Anbetung sein Antlitz der relativ nahen Sonne zukehrt, wodurch auf seiner Tagesseite die furchtbare Mittags- und Sommerhitze sich niemals abkühlen kann. Aber es waren nicht wissenschaftliche Fragen und Überlegungen, die meine Seele bewegten, während ich immer geistesabwesender meine Hände ins Bleimeer tauchte oder hochgewirbelt in die Höhe sprang.

Ich dachte daran, daß ich der einzige noch im neunzehnten Jahrhundert geborene Mensch war, der seinen Fuß auf einen anderen Planeten setzen durfte. Ich fühlte ungenau, daß mir aus diesem Faktum gewisse Verpflichtungen erwüchsen, obwohl ich jetzt nicht wissen konnte, daß ich je würde vor Ohren, die meine Sprache verstanden, Rechenschaft ablegen dürfen. (Es war aber doch bemerkenswert, daß in diesem Augenblick, wie immer wieder von Zeit zu Zeit, das halbe Bewußtsein der Forschungsreise sich in mir geltend machte.) Ich versuchte also mich zu beruhigen und faßte den Entschluß, mit aller Objektivität und Kühle, die mir zu Gebote stand, jene Eindrücke, die der fremde Wandelstern erweckte, zu sammeln und meinem Gedächtnis für immer präzise einzugraben. Letzteres war nicht so selbstverständlich wie es klingt. Das menschliche Gedächtnis wehrt sich dagegen, das ihm nicht Gemäße zu behalten. Alles aber, was nicht irdisch ist, das versucht unser menschliches Gedächtnis als ungemäß auszustoßen. Ich will, um der Steigerung meines Berichtes willen mit den kleineren Dingen beginnen, in umgekehrter Reihenfolge also wie ich diese neue Welt erlebte; denn das Größte des Größten schlug mir sofort aufs Herz. Der Bleidampf hatte sich wie silberner Ruß auf die Kopfkugeln gelegt, die unsere Augen schützten; das war ein großes Glück. Denn nur durch diese sehr dichte Dämpfung konnten wir überhaupt den verrückten Lichtgrad ertragen, der auf dem Johannes Evangelist herrschte. Instinktiv hielt ich mein Gesicht von der ungeheuerlichen Lichtquelle so lange wie möglich abgewandt, welche auf diesem Planeten unabwendbar und ununterbrochen zwischen Zenit und dem westlichen Horizonte stand. Ich blickte zumeist in östlicher Richtung auf die langen Züge der Küstengebirge: Sie bestanden aus schwarzen Basaltschroffen mit eingesprengten Porphyrwänden, wobei ich für die mineralogische Richtigkeit dieser Diagnose nicht gutstehen kann. Diese beiden übertriebenen Grundfarben von glänzendem Anthrazitschwarz und intensivem Blutrot sowie auch die wildzerrissene Formation der nicht sehr hohen, aber überaus abweisenden Gebirge, die sich an der Küste bis weit über die Sichtgrenze hinzogen, ähnelten nur ganz entfernt unserer irdischen Geographie. Eine andere Welt als die Erdenwelt hatte diese Felsen von funkelnder Schlacke hervorgebracht, ich möchte sagen ein anderer seelischer Charakter von Welt. Ich wußte sofort, es sei eine tote Welt, doch nur in unserem irdischen Sinne, da sie organisches Leben wie die Erde es hervorbringt, zumindest auf dieser ihrer ewigen Tagseite nicht hätte dulden und ernähren können. An und für sich aber, das heißt in seinem eigenen Sinne, war Johannes Evangelist alles eher als eine tote Welt. Ich fühlte während dieser Minuten mit beispielloser Deutlichkeit, wie vermessen es ist, nur unserm grünen Leben die Eigenschaft des Lebens zuzubilligen. Die Landschaft, die ich durch den wohltätig abdunkelnden Bleidampf vor mir sah, drückte etwas aus, was ich nicht verstand, doch ich verstand, daß sie etwas ausdrückte. Wie verschieden sind schon die Charaktere innerhalb einer menschlichen Familie. Die Charaktere jener allerersten Sonnenkinder aber, welche Planeten heißen, sind nicht nur verschieden, sondern schwer beschreibliche Gegensätze. Ich hätte mir in meinem irdischen Bewußtsein niemals frei vorstellen können, daß es irgendwo im Universum diese tausendzackigen Gebirgszüge aus glanzschwarzem und blutrotem Fels geben könne, die ein stumpfsilbernes dampfendes Meer unter einem Himmel umsäumen, der nicht blau ist, sondern wie aus unerträglich blendenden, perlmutterigen und opaligen Fischschuppen gebildet, dahinter die Schwärze des Raumes lauert.

Das geschmolzene Blei schlug in langen, langsamen und dickflüssigen Brandungsstrichen gegen die Steilküste, von der wir nur einige hundert Meter entfernt waren. Diese rhythmische Brandung erzeugte ein weit in die Ferne krachendes und splitterndes Geräusch, das ich mit keiner Art von irdischem Lärm vergleichen kann. Warum das Bleimeer brandete, da es doch keiner Rotation unterlag, weiß ich nicht, ebensowenig wie ich weiß, warum es, da keine Atmosphäre vorhanden war, in solchen Wolken von dickem, silbernem Ruß steil zum Himmel qualmte. Die Geschwindigkeit freilich, mit der diese todfremde Welt, auf der ich mich befand, sich um die Sonne bewegt, war im Vergleich zur Erdengeschwindigkeit rasend zu nennen. Wurden vielleicht die Partikel dieser sonderbarsten aller Meeressubstanzen in Form von Metallwolken durch die Gewalt des überwältigend raschen Umlaufs in den Raum gerissen? Wer bin ich, daß ich diese Frage beantworten könnte? Ich stellte sie mir nicht einmal, ebensowenig wie ich mich wunderte, daß ich in dem geschmolzenen Bleimeer nicht versank, sondern mich auf dessen Oberfläche wundervoll bewegte und zugleich in den glühenden Schmelzfluß unverbrüht greifen konnte wie in ein besonders fettes und warmes Spülwasser. Ein Himmel aus Perlmutterschuppen und Opal. Wohin das küstenüberblickende Auge reicht, tausendzackige Gebirgszüge aus tiefstem Glanzschwarz und leuchtender Blutfarbe. Ein Weltmeer aus dickem, trägem, stumpfsilbernem Schmelzmetall mit langen Wellenstrichen wie Falten auf einer schweren Decke, darüber ins Unendliche aufsteigende Wolken, die nichts anderes sind als zu rußigen Staubgebilden geballte Haufen von Metallteilen, das war die Landschaft des Johannes Evangelist, die ich mir selbst kaum mehr vors Auge rufen kann.

Viel wichtiger aber als die Ungemäßheit der Merkurlandschaft war für mich die Ungemäßheit meiner selbst in dieser Umgebung. Gegen die Macht dieses Fremdheitsgefühls erschien mir das ganze Kometenturnen bereits als eine liebe alte Gewohnheit. Dort oben im Grauen Neutrum war ich schwerelos. Völlige Schwerelosigkeit aber läßt sich nicht erleben. Hier hingegen auf dem Johannes Evangelist war ich leicht. Und Leichtigkeit war ein äußerst verblüffendes Erlebnis. Da ich vermutlich astronomisch ungebildeter war als der Einfältige des Zeitalters, ganz zu schweigen von dem jüngsten chronosophischen Schulbuben, so wußte ich noch nicht, daß Merkur der kleinste, massenärmste und schwächste aller Wandelsterne ist und kaum den vierten Teil der irdischen Schwerkraft besitzt. Meine hundertsechzig amerikanischen Pfunde waren daher augenblicklich kaum achtzehn europäische Kilogramm wert. Die Fluchtgeschwindigkeit, mit der man dieser armseligen Schwerkraft entgehen konnte, betrug nur etwas über drei Kilometer in der Sekunde, was selbst für uns Anfänger in der Chronosophie kaum der Rede wert war. Doch all diese billige Wissenschaft in Maßen und Gewichten, in Zahlen und Ziffern, erwarb ich selbstverständlich erst nachträglich. Als ich auf dem Mare Plumbinum des Johannes Evangelist konditionierte – wir wiegten uns auf dem geschmolzenen Metall wie auf einer prächtig federnden Matratze –, da erlebte ich meine eigene Leichtigkeit als eine einzigartige Erfahrung. Mein Gewicht war zu dem eines Kindes zusammengeschmolzen, meine irdische Muskelkraft hatte sich dagegen nicht verändert. Nicht nur konnte ich, von der elastischen Oberfläche mich leicht abstoßend, hundertmal so hoch springen wie vergleichsweise ein Gummiball, und dann schwebend und zögernd auf der Oberfläche landen wie eine schwerere Schneeflocke, ich flog auch, der Horizontalen verschworen, mit einem einzigen beschwingten Schritt zu meinem eigenen Schrecken weit ins Bleimeer hinaus, so daß ich unsere Gesellschaft fast aus den Augen verlor. Sofort natürlich schwang ich mich zurück, denn eine fürchterliche Angst, allein in dieser tödlichen Fremde zurückbleiben zu müssen, verließ mich nicht. Ich kann nicht behaupten, daß meine Leichtigkeit ein völlig eindeutig angenehmes Erlebnis war, stand sie doch im Widerspruch zum Wesen unseres Körpers, der für ganz andere Zwecke eingerichtet ist. Nur Io-Knirps, das kosmische Tänzergenie, genoß die geringe Schwerkraft und den Mangel an Atmosphärenreibung aus vollen Zügen. Er sauste heran wie ein Blitz, und er verschwand wie ein Punkt hinterm Meereshorizont; er beschrieb Schleifen, Kreise, Kurven, Achter, Spirallinien und komplizierte Figuren von einem Ausmaß und einer Eleganz, daß ihm selbst unser Lehrer sprachlos zusah. Schließlich aber befahl ihm der Lehrer, seine Vorstellung zu beenden, denn es sei hoch an der Zeit, die Planetenvisite abzubrechen; man habe sich der letzten und höchsten Betrachtung noch nicht genügend hingegeben. Bei dieser Mahnung ließ er einfließen, daß ein längerer Aufenthalt auf den Planeten eine Gefahr für den Charakter irdischer Menschen bedeute. – Um so mehr muß man den Mut und die gigantische Seelenstärke der großen Meister in den Erkenntniszellen der Sternwanderschaft, des Verwunderertums und der Fremdfühlerei bewundern, die in ihrem Leben viele Millionen von Lichtjahren zurückgelegt und den fernsten Sternnebeln standgehalten haben. – Die erwähnte Gefahr bestehe darin, daß zwei planetare Naturen während eines solchen Aufenthaltes im Menschen in Streit geraten. Und genau dasselbe fühlte jetzt ich, ohne daß es der Lehrer mir erst hätte genau darzulegen brauchen. Ich fühlte, daß ich von Minute zu Minute mehr merkurisiert wurde. Meine Sinne begannen sich den verwandelten Verhältnissen anzupassen. Meine Instinkte wußten nicht aus und ein. Mein Bewußtsein war verwirrt. Der Lehrer ordnete an, nachdem er mich mit einem Blick gestreift hatte:

»Wir nehmen uns an der Hand und bilden eine Reihe und bewegen uns nicht, sondern geben uns mit aller verfügbaren Feierlichkeit der hohen Betrachtung hin.«

Ich ergriff links die Hand von Knirps und rechts die Hand von B.H. Wir mußten den Kopf nicht erst heben zur Betrachtung des Größten im Kleinen Weltraum, des Höchsten im Niederen Intermundium, wir mußten ihn aber auch nicht wegwenden, denn die Metallwolken waren so dicht und unsere Kopfkugeln so dunkel beschlagen, daß wir sogar in diese Sonne schauen durften, ohne zu erblinden. Diese Sonne aber, die Sonne des Lieblingsjüngers und Apokalyptikers war, vorsichtig gerechnet, acht- oder neunmal so groß wie unsere Erdensonne. Aber nicht auf die Größe kommt es an, obschon auch diese kaum zu ertragen war.

Es war schwer, den Kopf aufrecht zu halten, ohne in ein Winseln fassungsloser Zerknirschung auszubrechen. Nein, diese Sonne hatte nichts mit der Erdensonne zu tun, die blendend freundlich am Himmel steht, harmonisch ausgeglichen, von spielenden Kindern und fröstelnden alten Leuten im Stadtpark begrüßt, ein Gestirn, das sein Wesen am ehesten noch während einer Verfinsterung entpuppt, wenn die guten Leute auf den Hausdächern es durch berußte Gläser angucken. Diese Sonne hier, die sich uns im Bleidampf offenbarte, war nicht mehr die alte liebe Gewohnheit, war nicht Helios und Apoll, der Stern göttlichen Ebenmaßes, sie war ein wallendes goldenes Vlies, sie bestand aus gesträubten Locken, aus lodernden Flocken, aus Wolle von Weißglut; sie zuckte auf in tollen Zeugungswonnen, sie wand sich in Mutterwehen, sie raste in jubelnden Ausbrüchen, sie riß ihr Herz in blutroten Protuberanzen auf, sie warf flammende Hüllen von sich, die ihre Selbstverschwendung zu ersticken drohten, sie brannte als ein Orkan unbegreiflicher Lebenstätigkeit, ihre Spannung kannte kein Nachlassen, sie spielte vor Gott und sich selbst von Anfang zum Ende das Drama des Seins.

Nur Ernst und Feierlichkeit? Keinem hätte es genügt. Ich fühlte, wie B.H. in seinem Raumtauchergewand erschauerte, doch auch der mentale Knirps war außer sich. Die Tränen liefen ihm übers fieberrote Gesicht. Wie um uns zurückzurufen aus der Hinfälligkeit des körperlichen zur Souveränität des geistigen Menschen, stellte der Lehrer schnell eine Prüfung an:

»Wer kann mir Urslers erstes grundlegendes Paradoxon nennen?«

Einer der Antworter riß sich zusammen. Er konnte es und ratschte nach guter Schülerart:

»Wenn die Energie eines Lichtgestirns größer ist als sie selbst, dann muß sich dieses Gestirn opfern, das heißt durch Glorifikation selbst zerstören.«

Wenn eine Energie größer ist als sie selbst ... Ich schloß die Augen, um nicht mehr die neunfache Sonne des Johannes Evangelist betrachten zu müssen. Ich stand in einer Glocke von flammendem Scharlach. Ich wußte nicht länger wo ich war. Diese Worte aber, deren Sinn mir nach meiner Rückkehr nicht mehr so klar ist, damals verstand ich sie bis auf den berauschenden Grund. Wenn eine Energie größer ist als sie selbst, dann ist die Stunde des Opfers, die Stunde des Phönix gekommen, der sich in sich selbst verbrennt. Das Sonnenleben in seiner tiefsten Bedeutung ist ein Opferakt, eine ewige weltenernährende Liebeshingabe. Wenn eine Schönheit schöner, eine Liebe liebender, eine Kunst künstlerischer, eine Heiligkeit heiliger ist als sie selbst, dann ist der Augenblick des Wunders da ... Inmitten des flammenden Scharlachs segnete ich Urslern, den gelehrten Mann, der lange nach mir dieses erste grundlegende Paradoxon formuliert hatte. Und noch mehr als den Mann segnete ich seine erhabene Erkenntnis, die ich als zukünftiger Mensch völlig begriff, jetzt als gegenwärtiger Mensch, da ich dies schreibe, nur zu begreifen ahne – jene grundlegende Erkenntnis, daß eine Größe größer sein kann als sie selbst. Damals jedoch in jener fernsten Zukunft, da ich auf dem Bleimeer des Johannes Evangelist stand, schwoll mir das Herz und mir war, als müßte ich zurückeilen zu meinen alten Zeitgenossen und ihnen diese Wahrheit mitbringen, die nicht nur für die Sonne gilt, sondern das heilige Gesetz des freiesten Sonnenkindes ist, der Menschheit.


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