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Einundzwanzigstes Kapitel

Worin im Innern des Planeten die Episode des Wintergartens beginnt, und ich jenes Institut betrete, in welches man sehr bequem hineingeht, aber aus welchem man äußerst unbequem herauskommt.

 

In »grauer Vorzeit«, zu welcher bekanntlich meine astromentalen Freunde das Jahrhundert rechnen, aus dem ich komme, hatte der Mensch bereits ein erstaunlich reiches Wissen über alles »Äußere« gesammelt, während er über alles »Innere« herzlich wenig wußte. Schon Sumerer und Chaldäer besaßen einige nicht nur geistige, sondern naturnahe Erkenntnisse über die Planeten im Kleinen Intermundium und über die Lichtgestirne im Intermundium ersten Grades. Mein Bericht über unsern Ausflug ins Graue Neutrum und meinen Aufenthalt auf Johannes Evangelist und Petrus Apostel würde sie in kein besonderes Erstaunen versetzt haben, und in die drei Lamaserien der Chronosophen hätten ganz bestimmt babylonische, ägyptische und indische Priesterschüler weit besser hineingepaßt als Studenten von Heidelberg, Oxford oder Harvard zwischen 1920 und 1940.

Was nun das Innere anbelangt, so liegt die Sache anders. Vorerst: Unter diesem Innern verstehe ich durchaus nichts Psychisches, Geistiges oder gar Mystisches. Ich will damit nur all das bezeichnen, was diesseits, das heißt innerhalb unserer Haut liegt. Da wird man mir aber ehrlich zugeben müssen, daß wir Kinder des zwanzigsten Jahrhunderts hinsichtlich dieses Innern wahrlich noch sehr unbelehrt umhergingen, war doch kaum erst ein historischer Augenblick verweht, seit der weise Engländer Harvey um 1650 den Kreislauf des Blutes entdeckt hatte. Man möge es nur ausdenken, in meiner eigenen Jugend wußte die medizinische Welt beinahe noch nichts von Drüsensekretion, vom Chemismus der Lebenstätigkeit und von den elektrischen Ladungen des Nervensystems. Was für das engere Innen des Körpers gilt, das gilt nicht minder für das weitere Innen, das unser Erdplanet vorstellt. Wir zuckten nicht davor zurück, verwegene Berechnungen über die fremden Universa der Sternnebel anzustellen, brachten es aber kaum zuwege, drei Kilometer tief ins Innere der Erde vorzudringen. All das beweist mit großer Schlagkraft, daß der Mensch viel weniger Scheu vor seiner Außenwelt als vor seiner Innenwelt empfindet, und daß er viel furchtloser dem Fernsten ins Auge blickt als dem Nächsten, das ist die Unendlichkeit, die er selbst umspannt.

Wer die Richtigkeit dieser Überlegung anerkennt, wird es begreifen, daß ich glücklich bin, nicht nur das Niedere Intermundium oberhalb unseres Planeten besucht zu haben, sondern auch das Innere dieses Planeten selbst. Die künstlerische Konvention empfiehlt zwar lieber von unten nach oben aufzusteigen als umgekehrt. Wie so oft aber steht meiner Freiheit als Epiker die Gebundenheit des Reisebeschreibers im Wege. Die Ereignisse führen mich, nicht ich sie. Der gerechte Leser wird am Ende entscheiden, ob die Antiklimax der Richtung auch eine der Spannung gewesen ist.

Was hier folgt, ist der Bericht eines Augenzeugen und keines Geologen. Ich werde meinem unwissenschaftlichen Prinzip, das sich im Kleinen Intermundium bewährt hat, hier in dieser gewaltigen Erdkammer, wo wir uns augenblicklich befinden, nicht untreu werden, obwohl es leichter ist, das Kometenturnen in freiesten und fernsten Räumen zu beschreiben als das Abenteuer im stygischen Lokal. In der Schule hatten wir gelernt, daß die Temperatur im Innern der Erde von Kilometer zu Kilometer je um 30 Grad Celsius zunimmt, wobei es sehr wenig Unterschied macht, ob man unterm Nordpol oder unterm Äquator in die Tiefe geht. Demgemäß würde der Siedepunkt des Wassers schon am Ende des dritten Tiefenkilometers erreicht sein und sechzig Kilometer darunter bei 1800 Grad Celsius der Schmelzpunkt der Basalte. Die Wirklichkeit schien dieser aus der Erfahrung geschöpften Ansicht recht zu geben. Unzählige Vulkane zeugten für sie, die den feurigen Schmelzfluß des Erdinnern als Lava in die Luft schleuderten, nicht anders als die Geyser, die ihre hastig-dichten Dampfwolken zum Himmel pafften. Die vulkanischen und tektonischen Beben mahnten uns daran, daß die feste Erdkruste, auf welcher wir unsere geschichtlichen Tragödien und Komödien spielen, nicht etwa mit der Schale eines Eies verglichen werden kann, sondern bestenfalls mit der eines Apfels.

Ich erhebe mich jetzt nicht mit der ganzen Vermessenheit des Laien, um zu behaupten, die obige Theorie sei unrichtig. Ganz im Gegenteil. Mein Erlebnis auf der ungefestigten Oberfläche von Apostel Petrus sagt mir, daß sie richtig ist. Das einzige, was ich erfahrungsgemäß zu berichtigen habe, sie ist nicht vollständig. So wie mich der Anblick der dichter gesäten Sterne und die Autorität des Hochschwebenden belehrte, daß unser Universum sich atmend ausdehnt und zusammenzieht, so belehrte mich der Anblick und meine körperliche Präsenz hier unten, daß es im Erdinnern zumindest einen Hohlraum von enormen Ausmaßen gibt (wahrscheinlich aber mehrere), und daß dieser Hohlraum mit atembarer Atmosphäre und mit einem milchigen Zwielicht gefüllt ist, hell genug, um Menschen und Dinge deutlich zu unterscheiden. Zwei Fragen könnte ich nur schwer beantworten. Die erste: hat es solche Hohlräume im Erdinnern schon vormals gegeben, oder wurden sie erst durch die wachsende Abkühlung des Planeten geschaffen? Ich habe niemals in Erfahrung gebracht, wie die sechsstellige Jahreszahl genau lautete, in der ich drei Tage durchleben durfte. Das »Elfte Weltengroßjahr der Jungfrau« war eine zyklische Bestimmung und umfaßte vermutlich einen ganzen Äon, unter welchem die antiken Völker ungefähr sechstausend Jahre verstanden. Wenn ich andererseits immer von hunderttausend oder von mehr als hunderttausend Jahren spreche, während welcher ich tot gewesen bin, so hat sich diese Bezeichnung in meiner Unterhaltung mit B.H. eingebürgert, ohne eine exakte Zahl vorzustellen. Doch wie immer jene sechsstellige Zahl der Erdumläufe um die Sonne lauten mochte, im Leben eines Himmelskörpers bedeutete sie einen schieren Nu, einen halben Atemzug, während dessen die Abkühlung keinen merklichen Fortschritt gemacht haben konnte, es sei denn, wir hätten es mit unbekannten Nachwirkungen der Sonnentransparenz zu tun. Ich selbst aber neige mehr dazu, jene Hohlräume im Erdinnern für uralte Tatsachen zu halten, deren Entstehung weit vor den wirklichen Anfängen der Menschheit liegt. Alle Mythologien, die wir kennen, berichten von Reichen unter der Erdoberfläche. Und Mythologien, das wissen auch die nüchternsten Geschichtsschreiber, sind keine leeren Phantasmen, sondern visionär geschaute und gedeutete Wirklichkeiten.

Die zweite Frage lautet: War der Tartarus, der den Wintergarten der astromentalen Menschheit umgab, natürlich oder künstlich erleuchtet und gelüftet? Es ist das unverzeihliche Versäumnis eines schlecht geschulten Reporters, wie ich es bin, daß ich über diesen wichtigen Umstand keine Erkundigungen eingezogen habe. Man bedenke aber die seelische Verfassung, in der ich mich befand, die dumpfe Erregung, die meinen dubiosen, einer neuen Auflösung entgegengehenden Körper durchzitterte, und meine Unterlassung wird begreiflicher erscheinen. Wenn ich auch keinen Beweis dafür besitze, so möchte ich dennoch frei heraus behaupten, daß ich Lüftung und Erleuchtung der gewaltigen Erdkammer für Menschenwerk halte. Die Zivilisation hatte schließlich Größeres geleistet, als Licht und Luft einem Orte zuzuführen, der zwei- oder dreihundert Kilometer unter der Oberfläche lag.

Auch dieser Begriff »zwei- oder dreihundert Kilometer« ist wissenschaftlich durch nichts gerechtfertigt, sondern eine instinktive Vermutung meines Zeit- und Raumgefühls. Leider hatten wir in der »camera caritatis«, die uns fast unmerklich hinabbrachte, keinen chronosophischen Elementarlehrer bei uns noch solche Antworter wie Io-Hol und Io-Rar, aus deren teils mechanischem, teils unsicherem Schülergestammel ich immerhin einige Aufklärung hatte saugen können. So reime ich mir denn auf eigene Faust, d. h. auf Grund eigener Gefühlserfahrung zusammen, daß unter der Apfel-, oder übertrieben gesagt, unter der Eierschale, die man Erdkruste nennt, nur eine ziemlich dünne und oft unterbrochene Schicht von schmelzflüssigem Magma liegen kann, schon deshalb, weil so wenig Hitze nach oben versendet wird. Anderenfalls müßte ja auf der Schale jenes Bratapfels, welcher die Erde wäre, jedes Lebewesen sofort zu Dampf verkochen, und nie und nimmer hätten sich auf diesem glühheißen Ei die bekannten Eiszeiten mit ihren wandernden Gletscherkontinenten etablieren können. Letzteres ist eine ebenso einfache wie schlüssige Überlegung, und auch sie führt zu der Annahme, daß jenes Höllenfeuer, welches die Vulkane versorgt, nur eine sehr schwache Lage bilden kann zwischen verfestigten Gesteinsschichten von wechselnder Elastizität.

Erst tief, tief unter diesen mag der liquide oder gasförmige Kern von Magneteisen liegen, der das innerste Herz der Erde ausmachen soll. Meinem »Gefühl« nach befand sich also die wundersame Welt des Hohlraums zwar unterhalb des Lavastockwerks, jedoch noch immer in den oberen Etagen des Erdhauses. Wie lange Zeit die Niederfahrt in Anspruch nahm, konnte ich nicht wissen, da ich viel zu spät bemerkte, daß wir uns überhaupt in Fahrt befanden. Auch hatten wir kein federleichtes Schutzkleid angelegt wie jenes Raumtauchergewand, mit welchem wir das Kleine Intermundium besucht hatten. Der Mangel aller Vorbereitungen täuschte mich darüber hinweg, daß wir schon lange zu dem Ausgangspunkt unseres Endes niederschwebten. Wahrscheinlich hatte mir B.H. mit weiser Absicht den Zweck der Räumlichkeit nicht verraten, die alle Welt »camera caritatis« nannte. Im übrigen bin ich nicht ganz sicher, ob der außerordentlich große Salon, zu dem wir über einen langen Korridor gelangten, wirklich camera caritatis hieß. Manchmal will es mich dünken, daß der kreisrunde Raum mit fächerartig abgeteilten Logen nicht als »Kammer des Erbarmens«, sondern als »Kammer der Gleichheit« bezeichnet wurde, d. i. camera paritatis. Mich erinnerte er teils an das Wartezimmer eines erfolgreichen Kurpfuschers, teils an ein Schönheitsinstitut. Die abgeteilten Logen waren für Ehepaare bestimmt, welche die letzten Stunden des Lebens einander nahe sein wollten. Die camera caritatis – bleiben wir bei diesem Ausdruck – war bei unsrer Fahrt so sehr überfüllt, daß niemand dran denken konnte, intime Gespräche zu führen. Daß Io-Fagòr nicht der einzige Hausvater war, der mit den Seinigen diesen schweren Entschluß gefaßt hatte, das ließ sich wohl denken. Die camera caritatis dient nämlich nicht nur einem Hause zum Transport, sondern einer gewissen Anzahl von Häusern, ich weiß nicht wie vielen, welche eine »Nachbarschaft« bildeten, worunter man die kleinste Einheit des städtischen Gemeinwesens verstand. In unserm runden Salon drängten und drückten sich siebzig bis achtzig Leute in Festgewändern, während Ruheplätze nur für etwa zwanzig vorhanden waren. Die Frauen, auch die ältesten, waren in die taubengrauen Schleier ihrer Brautzeit gehüllt, denn altertümlich sinniger Weise war die Hochzeitskleidung für den letzten freiwilligen Gang bei Mann und Frau vorgeschrieben.

Auch unsere Ahnfrau machte keine Ausnahme von dieser Regel. Das bläuliche Taubengrau stand ihr vortrefflich, und der ebenholzschwarze Helm an Stelle des silbernen Kopfaufsatzes ließ sie noch jünger erscheinen, wenn das überhaupt möglich gewesen wäre. Ich erlebte mit ihr eine kleine Szene, die mir vorerst nicht weiter bedeutsam vorkam, obwohl sie es wahrhaftig ist. Die Ahnfrau und ich waren die letzten, die in die camera caritatis eintraten. Hinter uns stand nur noch Io-Fagòr, das Haupt der Sippe, der die Seinen zählte, ob jemand etwa noch zurückgeblieben sei und man auf ihn zu warten habe. Während Io-Fagòr, also beschäftigt, aufmerksam durch den offenen Eingang blickte, forderte GR3 mich mit einem energisch-ärgerlichen Augenwink auf, ich möge doch endlich eintreten. Ich wehrte mich natürlich, vor einer Dame, und gar vor einer so erlauchten und würdigen Dame des ancien régime durch eine Tür zu gehen und unterstützte meine Weigerung mit einer überflüssig galanten Geste, mittels welcher ich die Ahnfrau in die camera caritatis hineinkomplimentierte. Niemals hat ein Blick von feindseligerer Verzweiflung mich getroffen als jener, der jetzt aus den tiefliegenden Augen der zierlichen Uralten stach. Ich war ganz bestürzt, wußte ich doch nicht im mindesten, was ich mir hatte zuschulden kommen lassen. Als die Tür des Salons nach Verabredung verschiedener Hausväter unter allerlei Zeremonien und Vorsichtsmaßnahmen mit mehreren großen Riegeln abgesperrt worden war, da glaubte ich, es handle sich hier um eine geheime Versammlung, in der man uns darüber aufklären würde, was wir zu erwarten hätten und wie wir uns verhalten sollten. Nichts aber dergleichen geschah. Kein Mensch hielt eine belehrende Rede. Io-Rasa, die jetzt so strahlend schön war wie ihre Tochter Lala, wenn auch schön in unsagbarer Traurigkeit, ergriff die Hand ihres Gatten und ließ sie nicht mehr los. Auch ihre blauen Augen waren groß und feucht und gaben die Augen Io-Fagòrs nicht frei. Bei so viel Jugend war der Gedanke des Endes völlig absurd. Auch die andern Paare taten wie Io-Fagòr und Io-Rasa. Die meisten schwiegen. Das genossene Leben schien an ihnen vorüberzuziehen. Man konnte es beinahe wie Wolkenschatten an den hellen glatten Stirnen dahingleiten sehen. Weniger ruhig zeigten sich sonderbarerweise die Junggesellen, von denen eine ganze große Menge vorhanden war. Düster und nervös schritten diese Hauschargen auf und ab, ohne miteinander zu sprechen. B.H. hatte die Augen geschlossen und schlief im Stehn oder gab vor zu schlafen, vielleicht um meinen Fragen auszuweichen.

Da die Menschen schwiegen, sprachen die Hunde. Es gab deren vielleicht sieben in der camera caritatis, darunter selbstverständlich auch unsern Sur. Und hier ist endlich der Augenblick gekommen, um die längst schon erbitterten Hundefreunde unter meinen Lesern mit einigen Zeilen zu versöhnen. Es soll wenigstens der Versuch dazu unternommen werden. Zuvörderst: ich selbst bin alles eher als ein Hundefeind. Wie oft habe ich in die trauergroßen Augen unserer Schäferhunde und irischen Setter geblickt und mich in die starre Tiefe der Tierseele versenkt, daß mir das Herz zu klopfen begann. Für mich war jeder schöne Hund, der unser Leben teilte, so etwas wie der verzauberte Prinz des Märchens. Das kam daher, weil die Tiergestalt guter Hunde im Widerspruch stand zum geistig-seelischen Ausdruck ihrer Augen. Es war ein Zuviel von Ausdruck da, ein liebezitternder Kampf um Aufmerksamkeit, Konzentration und Erinnerung, der die tierische Natur überstieg, sie zugleich verriet und verleugnete. Der Mensch hatte auf Erden ein Wesen gefunden, das Liebe zeigte, ohne unbequem zu sein. In seiner unerschöpflichen Sucht, als Herr geliebt, verehrt, vergottet und nachgeahmt zu werden, zog der Mensch dieses Wesen an sich, fütterte, pflegte, belehrte es und machte es so zum hoffnungslosen Renegaten des Tierreichs.

Meine lieben Hundefreunde, auf die Gefahr hin, daß mein Versöhnungsversuch scheitert, will ich es offen sagen: Der Hund ist eine der Sünden des Menschen. – Ist nicht das Maß der Liebe und Fürsorge, das in uns lebt, so lau und so gering, daß wir es nicht an bequeme Objekte wenden sollten, dieweil wir es den unbequemen Subjekten neben uns entziehen? Die Antwort auf diese Frage gibt die Weltgeschichte der Zukunft. Die übertriebene Kynophilie ging nicht nur schlecht an den Menschen aus, sondern mehr noch an den Hunden. Der Mensch hat im Laufe der Zeit den Hund korrumpiert, indem er ihn um sein wahres Wesen betrog und durch seine beständige Nähe zum Kopisten machte. Die vollkommen logische Frucht der Entwicklung war der plappernde, der naivtuende Hund, kurz Sur, dessen Charakter und Gehaben die Hundefreunde unter meinen Lesern abstößt. Ich gestehe aber zuletzt, daß ich das Pech hatte, in Sur ein besonders affektiertes Exemplar kennen zu lernen. Merkwürdig genug war's, daß die Menschen das Sprechen der Hunde überhaupt nicht beachteten. Auch jetzt in der camera caritatis schenkten sie ihnen keine Aufmerksamkeit, obwohl die Hunde die einzigen waren, die ein Gespräch führten.

»Sur ist sehr, sehr treu«, kläffte der unsere, am ganzen Leibe zitternd, »sehr, sehr treu ...«

»Halt die Schnauze«, murrte im Brummbaß ein großes Tier, in dem sich trotz der uniformierten Hundegestalt etwas Stämmig-Doggenhaftes erhalten hatte: »Uns geht's nicht anders ...«

»Was geht eigentlich vor, was geht vor«, quäkte ein dritter, dumm neugierig. Sein Schwanz war kurz gestutzt und wedelte prestissimo wie der eines Rattlers. Ein vierter schloß sich dieser albernen Fragerei an, so aber, als wisse er nicht, was er rede, sondern unterliege nur dem leeren Drang, Worte nachzuplappern wie ein Papagei:

»Was ist denn los für Schipps ... was ist denn los für Schipps ... was ist denn los ...«

»Kretins alle miteinander«, brummte der ehrliche Brummbaß, – »was ist denn los für Schipps ... Ans Leben geht's ...«

»Geht's wirklich ans Leben«, ließ Sur ein fröstelndes Winseln vernehmen. »Papachen, Mamachen, Sur glaubt's nit ...«

Die andern Hunde, bis auf den doggenhaften, stimmten jetzt im Chorus in Surs fröstelndes Winseln ein. Erst ein donnernder Scheltruf machte sie ruhiger, das heißt sie jammerten leiser und schlichen nervös und mit hängenden Ohren zwischen den Menschen umher.

Ich aber konnte nichts mehr beobachten, weil ich vollauf damit beschäftigt war, eine Art von Seekrankheit niederzukämpfen. Ich preßte das Taschentuch gegen meinen Mund, denn es war mir, als müßte ich mich erbrechen. Kein Wunder, wenn man bedenkt, daß wir feuerflüssige Schichten oder elastisches und plastilinhaltiges Gestein auf unserer Niederfahrt durchsausten.

»Wir bewegen uns ja«, stieß ich hervor und weckte damit B.H. aus seinem stehenden Schlaf.

»Merkst du das erst jetzt«, gähnte er, »du alter Kometenturner und Bewegungsspezialist? Wir fahren schon beinahe seit einer Stunde mit der beschleunigten Fallgeschwindigkeit eines Körpers im luftleeren Raum. Ja, ja, die prächtigen Schächte sind hermetisch luftleer, und es dürfte bereits Mittag sein ...«

Es gelang mir nicht, eine kleine Ohnmacht zu überwinden.

Glücklicherweise fiel ich nicht um, sondern lehnte mich gegen B.H.s Brust, der erschrak und mir fürsorglich den Schweiß von der Stirn wischte. (Bald wird sich unser Verhältnis umdrehen, und ich werde für ihn die Fürsorge übernehmen müssen.) Als die camera caritatis so unmerklich still stand, wie sie sich bewegt hatte, wurde mir sofort wieder gut. Man öffnete die abgeriegelte Tür. Luft strömte herein, die ich in den ersten Minuten als kühl und frisch empfand. Meine Natur erholte sich schnell und mit ihr auch die Neugier, die das siegreichste Zeichen voller Vitalität ist. Als wir aus der camera caritatis hervortraten, wich das helle Licht der Dämmerung eines späten Herbstnachmittags. Ich hatte einen bergwerkartigen Raum erwartet. Wir befanden uns aber in einer weiten Landschaft.

 

Es war ganz zweifellos eine traurige herbstdämmerige Landschaft in der Nähe, ja fast am Rande einer großen Stadt. Was wir von dieser Stadt vor uns sahen, und wohin der Weg führte, den wir freiwillig und zu Fuß zurückzulegen hatten, ähnelte am ehesten den riesengroßen Bahnhöfen, die man zwischen 1930 und 1940 in »moderner Architektur« errichtet hatte. Es war jedenfalls ein zwei- oder dreistöckiger Hochbau mit symmetrisch wiederholten viereckigen Türmchen, der sich unabsehbar weit ins graue Land erstreckte. Dies mußte der Wintergarten sein, der vielleicht noch zwei Kilometer, wenn nicht mehr von uns entfernt lag. Rechts und links zur Seite der Straße, auf der wir gingen, doch etwas ferner gerückt, sah man nacktes, hügeliges Gelände. Vielleicht aber waren es gar keine echten Hügel oder Bodenwellen, sondern nur Aufschüttungen aus Kohle, Schlacke, Gesteinsbrocken und Asche. Jedes Kind meiner eigenen Zeit hätte auf den ersten Blick gedacht, es sei da in eines der großen Industriezentren geraten, nach Pittsburg, nach Witkowitz oder ins Ruhrgebiet, wo man gerade feiertagswegen die Arbeit eingestellt hatte. Dies jedoch war nur die Illusion eines ersten Blicks. Es regnete leicht. Man konnte das warme, leise Nieseln eigentlich nicht Regen nennen. Den Astromentalen aber auf ihrem letzten Wege schien das schlechte Wetter einen gewissen Spaß zu machen, hatten sie es doch dort oben unter ihrem ewig blauen Himmel nur selten genossen. Da wir schon vom Himmel sprechen, will ich sogleich gestehen, daß auf mich der weite dicke Wolkenhimmel über dieser Landschaft den fremdartigsten Eindruck machte. Welch ein Wolkenhimmel, wird man fragen, im Innern der Erde? Ich gebe zu, daß der Ausdruck Himmel falsch ist, obwohl ich nie und nirgends einen höherschwebenden Wolkenhimmel oder, wenn man will, eine ferner gerückte Wolkendecke gesehn habe als hier unten. Das ist auch leicht zu erklären, da zwischen unsern Augen und dem Gewölk oder dem Dampf in der Höhe ein Abstand von mehr als hunderttausend Metern lag, während die Regen- und Gewitterwolken in der freien Natur sich meist schon tausend Meter hoch über der Erde zusammenballen. Kein Wunder also, daß wir einen besonders hohen Himmel über unsern Köpfen zu haben schienen, hier in der Tiefe. Der Hohlraum, in dem wir dahinschritten, schien in jeder seiner Richtungen unendlich zu sein, wie die Erde oben. Er wirkte als eine absonderliche, tragische Landschaft. Man hörte von allen Seiten ein leises dumpfes Rauschen, wie von fernen Wasserfällen oder Stromschnellen. Es müssen die Kräfte sein, dachte ich, die einander in Balance halten, damit diese Erdkammer nicht einstürze. Das Licht, das uns nicht nur erlaubte, einander zu erkennen, sondern auch in die Ferne zu sehen, glich ungefähr der Tagnacht oder dem Nachttag auf Apostel Petrus. Von dort, wo die Baulichkeiten sich erhoben, die ich mit einem Riesenbahnhof verglichen habe, stieg energischere Helligkeit auf, die ins Bläuliche spielte, während im Hügelland ringsum es manchmal rot aufschwoll.

An beiden Seiten der tadellos geglätteten Straße liefen niedrige Steingeländer entlang. Ich mußte erst dicht herantreten, um zu erkennen, daß die Straße, die zum Wintergarten führte, keine Straße war, sondern eine schier endlose Brücke. Man sah in schwindelnde Tiefen hinab, wo der schwarze Boden schwerflüssig zu wogen schien. War es Sumpf? Oder war es plastilinartig ungefestigte Erde? Wir kamen bald zu einer Stelle, wo in der Tiefe unter der Brücke ein ziemlich breiter Lavafluß langsam dahinrückte; von ihm stammten die rötlichen Wallungen des Lichts her, die manchmal über die Landschaft flammten.

»Aber das ist ja der Pyriphlegethon«, sagte ich und lachte mit kindischem Lachen B.H. an. Auch B.H. lachte mit kindischem Lachen mich an. Wie freuten wir uns beide, daß die griechische Mythologie unserer Schulzeit kein leerer Traum war. Wir sahen nun den Pyriphlegethon, den Feuerfluß des Hades mit unsern eigenen alten Augen. Und es war ein großer Beweis dafür, daß Homer und Vergil und kein andrer Dichter und Prophet etwas erfinden konnte, was nicht wirklich da war und da ist.

Diese kleine humanistische Herzerwärmung half mir über manches hinweg. Ich gestehe, daß eine kleine gelehrte Eitelkeit meine Seele erfüllte, die imstande war, das Älteste und Modernste in Einklang zu bringen und in der Umgebung des astromentalen Wintergartens, wo der Tod überwunden wird, den Pyriphlegethon, den Styx und den Cocytus wiederzuerkennen, lauter leere Worte für solche, die nicht mehr in die humanistische Schule gegangen sind. Im Wiedererkennen, das heißt in der Feststellung, daß das Urälteste das Erzmodernste ist, liegt eine tiefe Befriedigung unseres Geistes und eine der ewigen Wurzeln des Konservativismus. Es zeigte sich bald, daß der Aufenthalt hier in der Tiefe der menschlichen Natur so wenig angepaßt war, daß unsere Körper von Schritt zu Schritt matter wurden. Die Luft, die wir atmeten, schien unsern Lungen nicht zu genügen. Eine merkwürdige Sehnsucht wuchs in uns groß, so schnell wie möglich in den Wintergarten zu kommen und dort der Ruhe zugeführt zu werden, welche Form diese Ruhe auch immer haben mochte. Wenn unser Zeit- und Raumsinn auch nicht verwirrt war wie im Grauen Neutrum, so befanden wir uns doch außerhalb der gewohnten Dimensionen, im Innern des Planeten, in einem der Hohlräume, welche die ausgeschleuderte Mondmasse zurückgelassen haben sollte.

Die Brücke, auf der wir dahinschritten, war recht belebt, doch es herrschte kein besonderes Gedränge. Ich hatte vorhin gesehn, daß es viele solcher Straßen oder Brücken gab, die von allen Seiten ober- und untereinander zum gewaltigen Knotenpunkt führten.

Die einzelnen Gruppen oder Sippen trollten sich schweigend des Weges, auch die unsrige. Eine leichte Betäubtheit, eine Art von Somnolenz hüllte jede einzelne Person ein und machte sie einsam. Nicht einmal Sur plapperte, sondern schlich ganz niedrig dahin, den Bauch am Boden schleppend. Der freiwillige Weg, den man zu Fuß zurücklegte, war kürzer als ich zuerst gedacht hatte. Schon näherten wir uns dem, was ich ganz willkürlich als Stadt oder Bahnhof bezeichnet habe. Rechts und links von der Straße tauchten große Tafeln mit extensiven Leuchtschriften auf. Es waren auf diesen Tafeln aber keine Entfernungen, Richtungen oder Ortschaften verzeichnet, sondern in großartiger Monotonie immer wieder die folgenden zwei Fragen:

»Wovor fürchtest du dich? Hast du dich gefürchtet, geboren zu werden?«

Je mehr wir uns dem Gebäudekomplex näherten, um so dichter wurden diese Schrifttafeln, unter welche sich auch einige mit folgender Weisung mischten: »Vertraue dem Animator und seinen Badedienern!«

Zugleich tauchten auch weißgekleidete Männer und Frauen auf, die müßig am Brückengeländer lehnten und den Vorüberziehenden keinen Blick zu schenken schienen. In ihren weißen hochgeschlossenen Kitteln, die nicht aus Schleierstoff hergestellt waren, sahen sie den praktizierenden Ärzten und Krankenschwestern der Vorzeit ziemlich ähnlich. Was mir aber auffiel, zumal an den Männern, sie waren höher gewachsen als der astromentale Durchschnittstypus und boten einen dicken, schlaffen, geschlechtslosen Anblick. Die Folgen der sehr ungesunden Lebensverhältnisse hier unten im Tartarus, im Totenreiche, so dachte ich. Io-Fagòr, der an unserer Spitze ging, blieb stehn, wartete auf mich und belehrte mich mit unterdrückter Stimme:

»Es sind die Nummernzähler, Seigneur.«

Ich bemerkte, daß meine Zunge schwer war und daß es mir Mühe machte zu sprechen:

»Was bedeutet das ›Nummernzähler‹, Compère?«

»Jedes Io, das diesen Punkt erreicht hat, wird gezählt, numeriert und ins Buch eingetragen.«

»Das gefällt mir gar nicht«, grollte ich. »Ich hatte angenommen, die mentale Kultur habe die Statistik überwunden ...«

»Es ist die einzige Statistik, die es gibt, Seigneur.«

»Und zu welchem Zwecke werden wir schon auf offener Straße numeriert wie Gepäckstücke?«

»Wollen Sie gütigst bemerken, Seigneur, daß diese Straße nur in einer Richtung benützt wird«, sagte Io-Fagòr merkwürdig rauh.

Ich aber fragte, bittern Geschmack niederschluckend:

»Wo bleibt dann die ganze hehre Freiwilligkeit, Gevatter?«

»Auch unsere Denker, Erfinder und Gesetzgeber mußten mit Menschen rechnen, mein Freund«, sagte Io-Fagòr. »Und welcher Mensch würde im letzten Augenblick nicht zurückschrecken vor dem, was unsere höchste Errungenschaft ist? Sie selbst haben ja Sophistes Io-Sum preisgekrönt, der, in unserm Willen, lieber zu sein als nicht zu sein, Gottes Liebe feststellt. Der Mensch muß demnach in sich sogar Gottes Liebe überwinden, um reinlich und anständig aus der Welt zu scheiden. Ihnen, Seigneur, wird es gewiß leichter fallen als einigen von uns. Und damit die Schwachen nicht fahnenflüchtig werden und abscheulich zugrundegehen, darf diese Straße nur in einer Richtung benützt werden ...«

In Io-Fagòrs Worten klang beinahe eine drohende Schwingung mit. Ich erkannte sofort, daß die Idee des Wintergartens in Io-Fagòr und seinesgleichen den Platz des religiösen Fanatismus einnahm, des einzigen, den sie kannten. In diesem Punkte waren die Hochmentalen vermutlich nicht anders als Derwische und Feueranbeter. Was in den Gebäuden, die jetzt schon dicht vor uns lagen, sich ereignen sollte, wußte ich noch nicht. Ein Umweg um das Sterben war es jedenfalls. Diesen Umweg hielt Io-Fagòr für die höchste Errungenschaft der fortgeschrittenen Menschheit. Obwohl ich völlig bereit war, den Umweg als Ausweg zu benützen, fühlte ich mich doch in der Falle.

»Jeder Zwang ist terroristisch«, stieß ich hervor, »selbst der Zwang zum Glück.«

Niemand hatte mich gehört, nicht einmal B.H. Wir standen nämlich vor dem Portal, das uns zugewiesen war. Es gab wahrscheinlich mehr als hundert solcher Portale, denn unendlich zog sich die Front der Gebäude hin. Unser Torbogen trug folgende Inschrift: »Das, was du bist, ist schon Lohn und Strafe für das, was du bist.«

Im nächsten Augenblick befanden wir uns in einem Raum, der in nichts an den erwarteten Bahnhof gemahnte, sondern in hohem Grade der Halle eines kostspieligen Hotels oder eines Sanatoriums für verwöhnte Nervenkranke entsprach. Ich war sonderbar auf der Hut. Mich durchdrang ein ausgesprochener Kampfwille, als bereite ich mich nicht zu meinem Ende vor, sondern sei willens, was ich ganz und gar nicht war, mein dubioses Leben zu verteidigen. Weißbekittelte Gestalten begrüßten uns mit entwaffnender Freundlichkeit, ja mit heiterer Wärme wie alte Bekannte. Mir als »Seigneur« wurde sogar eine überschwängliche Aufmerksamkeit zuteil. Ich spürte aber sofort, daß der gute behagliche Empfang einen bestimmten Zweck hatte. Alles sollte hier schnell gehn, ehe man recht zur Besinnung kam. Während man einander anlachte und ankomplimentierte, wurden Herren und Damen und vorzüglich die Ehepaare unmerklich voneinander getrennt. So betrog man sie über den Schmerz des Abschieds hinweg. Obwohl mein Kopf schwer von der schon erwähnten Somnolenz war, hatte ich sofort den eisernen Beschluß gefaßt, mich von B.H. nicht trennen zu lassen. Alle schlauen Versuche der Weißbekittelten schlugen fehl. Ich forderte und erreichte, daß man meinem Freunde und mir ein gemeinsames Zimmer anwies. Dieses Zimmer mit seinen gefährlich weichen Ruhelagern war luxuriöser als alle Räume im Hause Io-Fagòrs.

»Wir werden wieder einmal versuchen, nicht zu schlafen, B.H.«, sagte ich hart.

Er sah mich an und nickte mit halbgeschlossenen schwimmenden Augen.

 

Ich hatte meinem Freunde verboten, sich hinzulegen. Er saß auf seinem Lager in überaus gebrochener Linie, den schweren Kopf in die Hände gestützt. Mein Kopf war zweifellos nicht minder schwer als der seine. Um gegen die Somnolenz anzukämpfen, ging ich aber mit starken Schritten auf und ab in unserm geräumigen Zimmer und redete mit lauter Stimme:

»Niemals im Leben hat es ein Hypnotiseur fertiggebracht«, so prahlte ich, »mich in Schlaf zu versetzen. Einmal, ich erinnere mich genau daran, wäre es mir beinahe gelungen, den Hypnotiseur zu hypnotisieren. Du weißt es ja genau, B.H., daß übertriebene Willenskraft nicht meine Spezialität ist und daß ich viel eher ein Lazzarone bin als ein Charakterprotz. Aber eines dulde ich nicht, daß man meiner Seele und meinem Bewußtsein nahetritt. Da stehe ich davor wie ein Erzengel oder ein Preisboxer. Ein paar Psychoanalytiker, die im Laufe meiner jüngeren Jahre zudringliche Unterhaltungen mit mir begannen, mußten eilig den Rückzug ergreifen, aber sehr eilig ...«

»Und die Beichte, F.W.?« murmelte mein Freund schläfrig.

»Das ist ein ebenso alter wie falscher Vergleich, B.H.«, entgegnete ich. »Die Beichte nimmt keine Persönlichkeit ab, die dir ihre Überlegenheit beweisen muß und dich mit tückischen Augen heimlich zum Kampf herausfordert, sondern der Priester, der nur ein Amt ist und kein Selbst und als Verwalter eines heiligen Sakraments sich nicht an willkürlich theoretische Ausgeburten, sondern an strenge Vorschriften zu halten hat ...«

Ich unterbrach mich, denn bei diesen Worten fielen meine Augen auf einen weißen Zettel, der an der Wand befestigt war, ähnlich wie in den Hotels der Urzeit die Preisliste. Auf diesem Zettel stand in säuberlich ausgeführter Handschrift zu lesen: »Die Brüder vom kindhaften Leben lesen die hlg. Messe und hören die hlg. Beicht.«

Ein Meisterstück, dachte ich bewundernd. Die Kirche verweigert zwar den Kandidaten des Wintergartens die Sterbesakramente, nicht aber Beichte und Kommunion. Plötzlich fiel es mir ein, daß mich der Großbischof aufgefordert hatte, seinen Schutz zu suchen, gerade dann, wenn das geschah was geschehn war, und man mir als letzten Ausweg den Wintergarten anbieten würde. Mit einem Mal wurden mir die letzten Worte klar, die er beim Abschied zu mir gesprochen hatte. Doch was half es? Bei der Erinnerung an den Großbischof schlug ich erregt mit der Faust gegen die Wand. Sie war weiß und ölig glatt wie in allen astromentalen Räumen, um den Einschlafenden die erwünschte leere Fläche für ihre visionären Tapeten zu bieten. Überraschenderweise aber war sie auch morsch. Meine nackte Faust hatte ein ganzes Loch in die Mauer geschlagen, die aus einem sehr morbiden Material bestehen mußte, denn kein kalkiges Gebröckel rieselte zu Boden, sondern Sand, dunkle Erde und Asche. Wären nun aus dem für die Kraft meines Faustschlags viel zu großen Loch irgendwelche Käfer, Küchenschaben oder anderes Ungeziefer hervorgekrochen, ich hätte mich nicht gewundert. Kein Ungeziefer aber und keinerlei Käfer krochen hervor aus dem Loch, sondern verdächtige Weichtiere, kleine, seltsame Schnecken, nackte und schalentragende, Ringelwürmchen und allerlei widerwärtige andere Mollusken, deren einige mir im Gedächtnis blieben, so daß ich sie nach meiner Rückkehr in »Dr. H.G. Bronns Klassen und Ordnungen der Weichtiere« (1862-66) nachschlagen und wiederfinden konnte. Es waren in der Hauptsache die zwerghaften Pulmonata oder Lungenschnecken, die schon Lamarck zu den Cephalopoden und Nudibranchien rechnet und als Pupa, Bulimus, Acharina und Planorbis beschreibt. Dieses also prächtig benannte Zeug zauderte und schleimte sich aus dem Loch hervor. Es bewies, daß fette, schwarze, nährende Erde sich in der Nähe befinden mußte, was niemand diesem leblosen Hohlraum tief unter der Lithosphäre zugetraut hätte, da ja fette, nährende Erde nichts anderes ist als das Produkt zerfallenden, organischen Lebens, das es nur auf der obersten Oberfläche des Planeten geben kann. Ich bin durchaus nicht zimperlich, aber vor diesen Schnecken und Weichtieren empfand ich einen Ekel, den ich kaum verbeißen konnte. Ähnlich erging es mir mit dem Wasser.

Neben unserm Schlafzimmer befand sich ein splendider Badesaal. Ich muß auf dem Wort »Saal« bestehen, denn er war mindestens zwanzig Schritte lang und mit allerlei mir unbekannten Dusch- und Sprühsystemen angefüllt. Er wirkte wie eine Kaltwasserheilanstalt früherer Tage. Hier unten im Tartarus schien man sich nicht mit trockener Phosphorreinigung zu begnügen. Alles hier unten war altmodisch und kaum mehr im Zusammenhang mit astromentalen Sitten. In der Nähe des Badesaals stand ein springbrunnenartiges Bassin mit einer Fischfigur als Wasserspeier. Ganz zufällig bewegte ich meine Hand über dem Fischmaul mehrmals hin und her. Durch den Elektromagnetismus meines Körpers versetzte ich unversehens den Springbrunnen in Tätigkeit. Doch schon während das Wasser hervorfächerte, konnte ich mit Widerwillen bemerken, daß es dick und braun war vor lauter Leben. Winzige Kaulquappen, Infusorien, Manteltierchen, Miniaturfischchen und Muscheln sammelten sich in der Schale. Ich rief B.H. und zeigte ihm sowohl das Loch mit den Weichtieren als auch das Springbrunnenbassin mit der verrückt umherschießenden Wasserfauna:

»Was sagt Io-Fagòr dazu und die andern edlen Herren und Damen, die nur von Sternenspeise leben?«

»Wir sind in der Unterwelt, F.W.«, zuckte B.H. geistesabwesend die Achseln und gähnte wieder.

»Und die Unterwelt?«

»Die Unterwelt war immer schmuddelig«, sagte er, ohne besonderes Interesse zu zeigen.

In unserem Zimmer waren zwei Fenster mit fest zugezogenen Vorhängen. Da die Astromentalen an wirkliche Fenster nicht gewohnt waren, so hatten unsere Vorgänger hier wahrscheinlich nicht einmal daran gedacht, diese Vorhänge zu öffnen. Ich tat es nun trotz meines Freundes Protest und stieß eines der Fenster auf. Die Scheiben waren übrigens zerbrochen und nur mit Papier verklebt (schmuddelig, schmuddelig!). Trotz des herbstlichen Dämmerlichtes konnten wir ziemlich weit sehen.

Niemals hat ein Name, eine Bezeichnung den äußern Schein der Sache so gut ausgedrückt wie hier. Was wir sahen, konnte nichts anderes sein als ein Wintergarten, ein Treibhaus, freilich von unabsehbaren Maßen. Die Einzahl Treibhaus ist natürlich unrichtig. Es waren schier unzählige Treibhäuser von verschiedenster Größe, die sich in jede Richtung erstreckten, soweit der Blick in die weite Herbstdämmerung hinausreichte. Die meisten hatten auch, wie sich's gehörte, Dächer von Glas oder von glasähnlichem Material, und die funkelnden Reflexe da und dort schienen von unsichtbaren Strahlen herzustammen, die sich auf diesen Glasdächern brachen, ehe sie ins Innere drangen, um ihren Zweck zu erfüllen. Ich schnupperte die Luft ein, der ein leises, aber scharfes Arom beigemischt war.

»Wonach riecht's hier?« fragte ich.

Mein Freund, der keinen dubiosen Körper besaß wie ich, sondern ehrlich in die astromentale Welt hineingeboren war und in ihr hundertundsieben Jahre gelebt hatte, zeigte wenig Mißtrauen, sondern schien mit allem einverstanden zu sein.

»Ich rieche gar nichts«, sagte er. »Daß die Luft im Wintergarten nicht besonders wohltut, ist eine alte Sache und kann gar nicht anders sein ... Wonach riecht es also, F.W.?«

»Es riecht, warte einmal, es riecht nach Windeln, es riecht nach Babies ...«

»Das könnte sein«, gähnte er tief und lange. »Wir werden bald selbst wie Babies riechen ...«

»Pfui Teufel«, entfuhr es mir.

Mein Ausruf weckte B.H. aus seiner Apathie:

»Wie kannst du nur Pfui Teufel sagen, F.W.«, schüttelte er immer wieder den Kopf. »Es ist das Größte, was der Mensch errungen hat, es ist der Tod des Todes, es ist die Geburt aus dem eigenen Körper. Nichts, nichts, aber auch gar nichts soll angenehmer und süßer sein ...«

An dieser Stelle wurde unser Gespräch durch zwei weißbekittelte Gestalten unterbrochen, die schon lange im Zimmer standen, für mich aber erst bemerkbar wurden, als ich das offene Fenster voll Windelgeruch wieder schloß und mich umdrehte. Im Gegensatz zu den astromentalen Wohnungen, die eine gewisse spartanische Nacktheit als edlen Stil hervorkehrten, waren die Fußböden hier mit dicken Teppichen belegt, und die Weißbekittelten schlichen überdies auf filzartigen Sohlen, so daß man sie niemals kommen oder gehen hörte. Auch die beiden sogenannten Badediener, die man uns zugeteilt hatte, waren große und schwere Gestalten. Wenn sie auch nicht den Riesenwuchs des Arbeiters und seines Clans erreichten, so forderte ihr Körpermaß doch diesen Vergleich heraus, der freilich schon in der ersten Sekunde zu ihren Ungunsten ausfiel. Man soll nicht ungerecht sein, und das wäre es, wenn man von den Angestellten des Wintergartens die Sonnverbranntheit, die gewaltige Wohllaune, die explosive Gesundheit und das goldene Löwengebrumm des Arbeiters forderte. Woher sollten auch die Bediensteten hier unten in diesem großen Hohlraum, fern dem Sonnenlichte, das sie vermutlich gar nicht ertragen konnten, woher sollten sie des Lebens Morgenjubel nehmen? In sauerstoffarmer Luft, vom Einbruch gefährlicher Kohlenoxyde stets bedroht, unter unnatürlichen Druckverhältnissen, dem warmen Sprühregen jenes Scheinhimmels oben ausgesetzt, entwickelte sich hier der Menschenkörper völlig anders als in der trocken klaren Atmosphäre des Arbeiterparks. Diese beiden Badediener, die in unserm Zimmer standen, waren grau im Gesicht, krankhaft aufgeschwemmt und sahen den Eunuchen eines Harems ähnlich. Sie bewegten sich langsam und schlapp, sprachen mit hoher, kernloser Stimme und zeigten Freundlichkeit und Geduld. Ihr hoher und breiter Wuchs schien ihnen selbst beschwerlich zu sein. Sie hatten an sich selbst gewissermaßen viel zu viel zu schleppen. Mein Eindruck von den Weißbekittelten war auf eine kurze Formel gebracht: Kolosse auf tönernen Beinen.

Wenn ich auch noch keine direkte Antipathie gegen sie empfand, so lag doch mein ganzes Wesen auf der Lauer, ohne daß ich es wußte und wollte. B.H. hingegen, der sein lebelang unter der Propaganda der »höchsten Errungenschaft« gestanden, zeigte keinen Schatten von Widerstand, sondern ganz im Gegenteil Einverständnis mit allem. Es war mir unangenehm, daß er den beiden Funktionären dankte, weil sie so schnell gekommen waren, sich unser anzunehmen.

»Wir bringen den Herren das Frühstück«, sagte Badediener Nummer Eins, mich schamhaft aus halbgesenkten Augen anlächelnd, woraus ich schloß, daß er mir zugeteilt war. Die beiden hatten ein Tischchen mit den sattsam bekannten Säften und Süppchen hereingeschoben.

»Es kann auch das Nachtmahl sein«, sagte Badediener Nummer Zwei.

»Es wird das sein, wofür die Herren sich entscheiden werden.«

Dann lächelte auch er seinen Pflegling B.H. an.

»Wie das?« fragte ich scharf. »Fürs Frühstück ist es viel zu spät, für den Nachttrunk ist es viel zu früh. Wieviel Uhr haben wir?«

»Wir haben überhaupt keine Uhr«, entgegneten die Badediener leicht erschrocken wie aus einem Munde. Und der wahrscheinlich Intelligentere fügte hinzu: »Wo es keine Sonne und keinen Mond gibt, da gibt's auch keine Uhr.«

»Das ist durchaus unrichtig«, tadelte ich ihn streng. »Die Uhr ist da, um Sonne und Mond zu ersetzen ... Was für Zeit haben Sie überhaupt hier unten? ...«

Mein energisches Wesen schien die Badediener nicht nur einzuschüchtern, sondern mit Sorge zu erfüllen. Sie sahen einander betroffen an. Ihre Gäste pflegten sonst nicht soviel Heftigkeit zu entwickeln.

»Was für Zeit wir haben, Seigneur?« wiederholte Nummer Eins meine Frage und lüftete dabei seine weiße Mütze, die an die eines Koches erinnerte. »Wenn es nötig wird, bekommt man hier unten eine private Zeit.«

»Private Zeit? Was ist das für ein Unsinn«, rief ich grimmig. »Zeit ist wohl dasjenige, was am wenigsten privat ist ...«

»Da hast du aber unrecht, Chronosoph F.W.«, rief der Wiedergeborene, den mein schlechtes Benehmen aus seiner Schlaftrunkenheit emporriß. »Weißt du nicht, daß jeder Mensch seine eigene Körperzeit hat, daß jeder Mensch seine eigene Körperuhr ist? ...«

»Und wann beginnt man hier auf diese Körperuhr zu schauen?« fragte ich etwas versöhnlicher, da B.H. schließlich recht hatte. Die Badediener sahen sich wieder besorgt und betroffen an. Dann schlug Nummer Zwei, der etwas kleiner war als Nummer Eins, die Augen nieder und sagte zögernd wie ein Ungebildeter, der eines Fremdwortes nicht ganz sicher ist: »Man beginnt hier die private Zeit mit der Anti... mit der Antiception ...«

Wie um meinem Zorne zuvorzukommen, begann Nummer Eins mit seiner hohen Stimme mich zu beruhigen:

»Keine Eile, meine Herren. Die Herren haben alle Zeit der Welt, ehe sie sich entschließen, ihre private Zeit zu beginnen. Die Herren müssen sich überhaupt nicht entschließen. Die Herren können ohne weiteres Badediener werden wie wir oder Unter- und Obergärtner oder Nummernzähler, und wenn sie die siebenundzwanzig Prüfungen machen auch Animator ...«

Bei dieser gutgemeinten Rede stieg in mir wieder die Gereiztheit hoch:

»Ich habe hier das Wort Antiception gehört, einen helldunklen Ausdruck der Wissenschaft. Ich liebe keine helldunklen Anspielungen. Ich will volle Klarheit und kein clair obscure. Ich akzeptiere den Galgen, wenn man ihn Galgen nennt und nicht Schlingenschaukel ...«

Plötzlich mußte ich mich unterbrechen. Was früher nur Somnolenz und ein schwerer Kopf gewesen, das hatte sich jetzt in wüsten Druck und Schmerz verwandelt. Das Blut hämmerte an meine Schläfen. Der Druck unter der Stirne wurde unerträglich.

»Man sagt«, stöhnte ich, »daß man hier unten die angenehmsten und süßesten Gefühle der Welt erlebt. Bisher habe ich nichts davon gemerkt. Oh, mein armer Kopf ...«

Die beiden Weißbekittelten sahen einander nicht mehr besorgt, sondern befriedigt an. Sie schienen sehr erfreut, einem Leidenden wie mir behilflich sein zu können. Diese Kopfschmerzen, an denen mein Freund und ich laborierten, sie seien das alltägliche Leiden aller Neuangekommenen. Sie bedeuteten gar nichts anderes als eine flüchtige Reaktion des Körpers auf die ungewohnten Lebensbedingungen und den hohen Luftdruck im Hohlraum. Es gäbe ein bewährtes Mittel, das mit dem Kopfschmerz rasch fertig werde. Nachher fühle man sich besonders komfortabel. Mehr als das, man fühle sich neugeboren. Das Mittel aber sei nichts Schlimmeres als ein kleines Moorbad in der Wasserheilanstatt daneben. Es stehe übrigens schon bereit. Ehe wir ja oder nein sagen konnten, hatten die Badediener uns schon entkleidet. Ich besaß Energie genug, um zu fordern, daß mir meine Kleider nicht aus den Augen kommen dürften. Die beiden Badediener waren sehr verständig. Sie schienen sich durch meinen Argwohn nicht verletzt zu fühlen, selbst dann nicht, als ich beiden einen Eid abverlangte, daß in ihrem Moorbad keine Schnecken, Würmer, Mollusken und Kaulquappen sich gütlich taten.

»Licht«, rief ich zum Schluß. »Ich will besseres Licht im Badesaal haben.«

»Welches Licht fordert Seigneur?« fragte Badehelfer Nummer Eins dienstwillig.

»Mittagssonne im Juni«, rief ich unbescheiden und aus voller Brust. Mein Wunsch wurde ohne weiteres erfüllt.

Es war nicht das erste Moor- oder Schlammbad, in dem ich hier lag. Von ähnlichen Bädern aber unterschied es sich aufs vorteilhafteste dadurch, daß die warme dicke Masse, in der ich meine erfreuten Glieder streckte, nicht an der Haut kleben blieb und sie auch nicht beschmutzte. Der Kopfdruck war nach einigen Sekunden verschwunden. Ein Gefühl der Freiheit und Leichtigkeit durchseelte den ganzen Leib, als wäre das stockende Blut frisch in Schwung gebracht. Es war ohne Zweifel ein angenehmes, ja ein süßes Gefühl der Verjüngung und Entschwerung, das ich plötzlich genießen durfte. Man hatte mich nicht belogen. Ich gab mich nach den zahlreichen Strapazen dieses meines dritten astromentalen Tages gerne der balsamischen Wonne des Augenblicks hin und begann zu vergessen, wo ich war und welchen Zweck mein Hiersein hatte. Ich weiß nicht, wie lange wir bereits in dem sogenannten Moorbad saßen, als mein Blick auf B.H. fiel.

Er hielt die Augen geschlossen und lächelte in vollkommener Seligkeit. Als astromentaler Mensch unterlag er, wie es schien, der Wirkung dieses Bades viel stärker als ich, der stumpfe Bürger des frühen Altertums. Als ich ihn aber schärfer ins Auge faßte, bemerkte ich, daß sein Gesicht sich beängstigend verändert hatte. Er schien noch jünger geworden zu sein, noch knabenhafter als er war. Alle Schatten und Schärfen seiner Züge waren wie ausgelöscht. Man hätte meinen können, daß einer der Badediener dieses Gesicht mit einer ganz dünnen Schminke bestrichen habe, die alle Charakteristika entfernte, um nur diese unpersönlich puppenhaft starre Seligkeit übrig zu lassen. Ich wundere mich noch jetzt über die Kraft und Entschiedenheit, mit welcher ich selbst aus dem dicken Moor sprang, meinen Freund unter die Achsel faßte, ihn aus der Holzwanne zog und auf die Beine stellte. Er leistete keinen Widerstand, schien aber sehr unwillig zu sein, obwohl er noch lange kein Wort sagen konnte. Die Verstörtheit seiner Augen aber zeigte mir, daß er nicht verstehen konnte, daß ich ihn aus seinem wonnigen Zustand brutal herausgerissen hatte. Ich verstand mich selbst nicht. Warum fürchtete ich dieses harmlose und doch tief erquickende Moorbad? Hatte ich überdies in Io-Fagòrs Hause nicht den Entschluß zum letzten Weg gefaßt, der ja der einzige Ausweg war? Was wollte ich? Ich wußte nicht, was ich wollte. Ich wollte, daß B.H. nicht so selig lächle. Die Badediener Eins und Zwei sahen mich groß an und staunten mit besorgten Stirnen über die unerwarteten Muskelkräfte, die mir zur Verfügung standen.

»Bestellen Sie unserm Animator«, herrschte ich sie an, »er möge sofort kommen.«

»Hier ist er, der lebhaft Gewünschte«, erwiderte eine etwas lispelnde, fröstelnde, gleichsam händereibende Stimme zwischen Schlafzimmer und Badesaal.


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