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Neuntes Kapitel

Worin ich trotz meiner Müdigkeit alles tue, um dem Schlafe zu entgehen und dabei von B.H., der freundschaftlich meine Einsamkeit teilt, dies und jenes in Erfahrung bringe, was in der Welt seit jener Nacht geschehen ist, in der ich so unvorsichtig war, das letztemal einzuschlafen.

 

B.H. hatte sich freiwillig angeboten, diese meine erste Nacht in der astromentalen Epoche mit mir zu verbringen.

»Das ist sehr anständig von dir«, sagte ich, »und ich danke dir für deine Güte. Denn es ist kein geringes Opfer, das du mir bringst. Aber weißt du, ich wäre unter keinen Umständen allein und einsam geblieben...«

»Ich glaube mich zu erinnern, F.W.«, lächelte der Freund, »daß du vordem geradezu ein Wüstling der Einsamkeit gewesen bist...«

»Ja, das war ich so ziemlich, B.H. Aber doch nur, um in verlorenen Gebirgsnestern und Fischerdörfern meinem Denken und meiner Arbeit ungestörter leben zu dürfen. Mein Gott, das war nicht einmal zwanzigprozentiger Alkohol der Einsamkeit. Wenn man den hundertprozentigen kennen gelernt hat, die echte unaussprechliche Einsamkeit, aus der ich komme, dann fürchtet man sich davor, eine Nacht allein zu verbringen.«

Als er diese Worte hörte, sah mich B.H. ein wenig betroffen und vielleicht sogar schuldbewußt an und sagte nichts. Wir befanden uns in einem geräumigen Fremdenzimmer, das durchaus nicht unbehaglich war, obwohl die ganze Einrichtung nur aus einigen Streckstühlen, einem mittelgroßen Ruhelager mit erhöhtem Kopfende und harter Schlummerrolle sowie aus einem kleinen Buffet bestand, das eher einem Medikamententische glich, in dessen kreisrunden Löchern die uns schon bekannten kristallenen Eierbecher mit verschiedenfarbigen Säftchen und Süppchen blinkten. Sie waren zahlreicher als die beim Festmahl servierten. Die Hausfrau hatte, als sie sich von mir verabschiedete, von einem kleinen »Nachttrunk« gesprochen. Es schien aber, mit mentalem Maßstab gemessen, ein üppiges Souper zu sein. Ich empfand ein bißchen Nahrungstrieb, eine ganz leise und schüchterne Art von Appetit, fürchtete aber zugleich die geistige Anstrengung, die mit der Einverleibung von solchen Substanzen wie »Meer« oder »Jagdgründe« oder »wogende Kornsaat« und so weiter verbunden war. Da öffnete B.H. ein Schränkchen im Buffet und zog einen regelrechten Steingutkrug hervor, aus welchem er mir und sich selbst zwei weiße, henkellose Täßchen mit einer dampfenden, dicken Creme vollschüttete:

»Versuch das einmal, es wird dir schmecken.«

Es schmeckte mir köstlich, es durchglühte die zerschlagenen Glieder, schmeichelte dem Magen und ölte die Nerven.

»Schweig, laß mich raten«, bat ich, während Lippen, Zunge und Gaumen den Geschmack emsig prüften, »ich glaube, ich kenne das. Wir haben's zu Hause Chaudeau genannt, aus Südwein oder Kognak gebraut mit Eidottern und Zucker.«

»Manchmal schwindelt der Arbeiter«, lachte B.H., »und melkt die Capricornetten, diese winzigen Tierchen, die auf den weiten Auen seines Parkes weiden. Und die Milch, denk dir, die echte Milch, schenkt er dann gewissen Kindern, Bräuten oder alten Leuten, die er bevorzugt. Er bevorzugt Lala. Sie hat von ihm die echte Milch geschenkt bekommen, und daraus wurde für uns der Nachttrunk bereitet. Es ist eine verbotene Näscherei und widerspricht eigentlich den verfassungsmäßig vorgeschriebenen Speisen.«

»Um so besser, B.H., um so besser.« Dann aber fragte ich ihn: »Warum eigentlich bevorzugt der Arbeiter Lala, wie ich mir wohl denken kann, unter tausend andern Bräuten?«

»Ist dir das so unverständlich, F.W.?«

»Oh, ganz im Gegenteil, es ist mir sehr verständlich, B.H. Lala ist ein bildschönes Mädchen, und das schönste an ihrer Schönheit, für mich wenigstens, sie ist gar nicht fremd-schön und unbegreiflich-schön; man hätte selten, aber doch dann und wann einer solchen Lala in der Rue St. Honoré zu Paris, auf der Kärntnerstraße von Wien oder auf der Fifth Avenue begegnen können, seinerzeit. In der ersten Sekunde, wenn man sie sieht, bleibt einem der Atem weg. Wenn sie aber den Mund auftut, na, dann erscheint sie etwas geistig unentwickelt, launisch und... und diese leeren Handflächen von Panoptikumsfiguren...«

B.H. sah mich merkwürdig an.

»Geistig unentwickelt«, fragte er, »meinst du das im Ernst?«

»Im Ernst meine ich gar nichts, mon vieux. Wie könnte ich in meiner Situation ein seriöses Urteil über irgendwen oder irgendwas fällen... Lala ist also weder launisch noch geistig unentwickelt, deiner Ansicht nach?«

B.H. wich mir in seiner Antwort aus: »Kultur«, sagte er, »ist eine verschlagene Kunst des Untertreibens und des Ablenkens von der Hauptsache. Bedenke das, F.W., im Umgang mit unsrer astromentalen Gesellschaft.«

»Darf ich dich bitten, mir noch eine halbe Tasse einzuschenken, B.H.«, forderte ich jetzt.

»Wie du willst, F.W.«, gehorchte er. »Es ist aber sehr sättigend.«

Ich schob die frische Tasse nach dem ersten Schluck zur Seite:

»Du hast recht, B.H.«, gestand ich, »als derjenige welcher ich bin, habe ich bei derlei Genüssen enthaltsam und vorsichtig zu sein. Es ist übrigens merkwürdig, daß ich in meiner Verfassung so genau den Geschmack einer Speise unterscheiden kann und nicht nur den Geschmack der Speise, sondern auch die Sättigung durch sie deutlich verspüre. Wenn ich zu meinen Lebzeiten nachts geträumt habe, daß ich mich hungrig zu Tische setze, da erwachte ich jedesmal, wenn ich den Bissen im Mund hatte. Jetzt erwache ich nicht, B.H., folglich bin ich wirklich so etwas wie ein überexponierter Geist. Ihr habt mich wie eine photographische Platte zu lange dem Licht ausgesetzt, so daß mein Bild ganz dicht und dunkel geworden ist. Wundre dich' also nicht, wenn ich dir eine intime Frage stelle: wohin soll ich mich wenden, wenn ich ein menschliches Bedürfnis verspüre?«

»Verspürst du ein menschliches Bedürfnis, F.W.?«

»Nein, mein Lieber, gottlob nicht. Gottlob noch nicht. Aber ich fürchte mich schon eine Weile vor dieser sehr antimentalen Möglichkeit.«

»Du wirst auch nichts verspüren«, lachte B.H. »Wir erledigen das alle fünf Tage nur einmal.«

»Wie! Was du nicht sagst«, atmete ich auf. »Das ist ja eine prächtige Abbreviatur. Zeitersparnis über Zeitersparnis, bei so wenig Arbeit.«

»Hör einmal, F.W.«, sagte mein Freund zartfühlend, »ich bemerke jedesmal, daß du zusammenzuckst, wenn ich von den ›Anfängen der Menschheit‹ rede, denen wir beide angehört haben, was sich nicht leugnen läßt. Es waren natürlich nicht die richtigen Anfänge der Menschheit, das weiß ich besser als sonst einer, sondern es waren bereits höchst differenzierte Zustände, nach mehreren Millionen von Entwicklungsjahren. Ich gebrauche also jene Phrase, die dich so schockiert, nur von der heutigen Perspektive her und um meinen Zeitgenossen das Vergnügen zu erhöhen, einen Primitiven materialisiert zu haben. Du kennst mich. Ich bin kein progressivistischer Esel. Auch weiß ich, daß hunderttausend Erdumläufe um die Sonne nur eine winzige Schattenrückung der Geschichte sind. Und doch, der Mensch hat trotz all seiner Grenzen sogar biologische Fortschritte gemacht.«

»Darüber kann kein Zweifel herrschen, B.H.«, lachte ich laut. »Nur einmal in fünf Tagen die Toilette benützen zu müssen, das nenn ich einen gewaltigen biologischen Fortschritt.«

»Bitte lach nicht darüber, F.W., wie über einen fäkalen Witz«, wies mich B.H. zurecht. »Unterleibswitze sind heute lange nicht mehr so komisch wie zu deiner Zeit.«

»Zu meiner Zeit gab es allerlei mittelgroße Schlangen, die nur einmal im Monat ein Mäuschen herunterwürgten und wieder von sich gaben. Schildkröten aber und andre Reptilien und Amphibien hielten mehrere Monate lang Winterschlaf, ohne ein einziges Mal währenddessen ihren Darm zu bemühen.«

»Deine Reptilien und Amphibien, mein lieber F.W.«, entgegnete mein Freund mit Überlegenheit, »waren eben physiologisch so und nicht anders konstruiert und veränderten sich nicht. Wir aber haben uns biologisch verändert, wir Menschen, nein mehr, wir haben uns verfeinert. Zu deinen Lebzeiten hattest du einen Darm, der aufgewickelt elf Meter lang war. Inzwischen hat er sich dank einer ätherischen Ernährung des ganzen Menschengeschlechts beträchtlich verkürzt. Zu deinen Lebzeiten nannte man das Organ der männlichen Liebeskraft mit dem erniedrigenden Namen ›Harnröhre‹. Graut dir nicht bei diesem Ausdruck für das organische Sinnbild der schöpferischen Potenz? Das ist jetzt anders geworden, nachdem die Abscheidung des Urins nicht mehr durch das Organ der Liebeskraft erfolgt, sondern durch den Darm...«

»Es war ein sehr großes Unrecht von mir, zu lachen, B.H.«, sagte ich kleinlaut, seine ernste Rede bedenkend. Dann aber streckte ich mich, da ich meine betäubten Glieder kaum mehr fühlte, aufs Ruhelager aus. »Ja, ja«, atmete ich tief auf, »dieser Fortschritt ist mehr als ein Fortschritt, er ist eine Heiligung des Menschen. Leider werde ich persönlich nichts mehr davon haben.«

»Er ist eine Heiligung, F.W.«, sagte der Wiedergeborene fast böse. »Gott nämlich korrigiert sich selbst...«

»Gott korrigiert sich selbst«, wiederholte ich und stützte mich auf, so müde ich war, »hast du das nicht schon einmal gesagt? Damals... damals...«

Und ich sah uns beide, den neunzehnjährigen B.H. und den neunzehnjährigen F.W., wie wir, in tiefen Gesprächen befangen, den Höhenweg des Belvederes entlangspazierten und hinabsahen auf das hunderttürmige und barockbrückige Prag, das sich im sonnendurchzückten Nebel bis hinter den Horizont der Königlichen Weinberge streckte. Und B.H., der Student, entwickelte mir, dem aufhorchenden F.W., seine metaphysische Philosophie, deren ich mich jetzt Wort für Wort erinnerte und die mir viel schlagkräftiger und goldkarätiger erschien als die von Sophistes Io-Sum und Sophistes Io-Clap zusammengenommen. Und da ich mich genau an diese Philosophie erinnerte, rief ich sie ihrem Begründer ins Gedächtnis, der mir kopfschüttelnd zuhörte und sich über mein Echauffement verwunderte.

»Also hast du gelehrt, B.H.: Gott ist das vollkommene Sein. Die Schöpfung ist nur Ausdruck dieses Seins. Der Ausdruck eines Seins kann niemals identisch sein mit diesem Sein, aus dem er hervortritt. Er ist nicht einmal ein Bruchteil dieses Seins, sondern nur dessen partielle Mitteilung, so wie das Wort, das Seufzen, das Lachen des Menschen kein Bruchteil seiner selbst ist, sondern ausgeatmeter Allgemeinbesitz, nämlich Luft. Wenn Gott auch das ewige und vollkommene Sein bedeutet, so ist sein Ausdruck, die Schöpfung, in hohem Grade unvollkommen, das heißt minderwertiger als er selbst, und zwar notwendigerweise. Die genaue Differenz zwischen dem vollkommenen unendlichen Sein und dem von diesem ausgedrückten endlichen unvollkommenen Sein ist das, was man das ›Übel‹ in der Welt oder auch das ›Böse‹ nennt... Erkennst du deine Philosophie wieder, alter Freund? Sie muß auf mich einen großen Eindruck gemacht haben, daß sie mir mehr als hunderttausend Jahre im Gedächtnis geblieben ist...«

»Wenn man sehr jung ist«, sagte B.H. verschämt und abwehrend, »so neigt man oft zu hohen Gedanken und generösen Verallgemeinerungen.«

»Tu dir nicht selbst Unrecht«, eiferte ich. »Das Übel in der Welt als Stromgefälle, als Potentialunterschied zwischen dem vollkommenen primären Sein und dem ausgedrückten sekundären Sein, das ist schon ein philosophischer Fund und eine patente Formel in der größten Streitfrage aller Zeiten, und dir gebührt mein Preisspruch, obwohl dich die Kirche für diese Lehre, die den Sündenfall teilweise Gott als notwendige Folge des Schöpfungsaktes zur Last legt, erbarmungslos zum Ketzer gestempelt hätte. Aber du bist noch weiter gegangen. Was du nämlich vor einigen Minuten gesagt hast, das hast du bereits damals gesagt, ja, damals: ›Gott korrigiert sich selbst.‹ Ich hab noch deine Stimme im Ohr, wie du das improvisiertest: ›Ein Teil der göttlichen Lebenstätigkeit ist Korrigieren, am Ausdruck feilen‹...«

»Da siehst du, wie jugendlich anthropomorph derlei Ideen sind«, warf B.H. dazwischen. »Gott, der seine Aufgaben korrigiert wie ein Schulknabe oder ein ehrgeiziger Literat?«

»Aber diesen Satz hast du doch selbst vorhin ausgesprochen, und zwar mit vollen hundertundsieben Jahren. Das ist wohl auch heute nicht mehr ganz so jugendlich. Und dieser Satz, lieber B.H., umschließt implicite die Aussage, daß du Natur- und Menschheitsgeschichte als eine Geschichte des göttlichen Korrigierens definierst... Wenn wir keine Atheisten sein wollen, so müssen wir doch zugeben, daß ein höherer, logischer und zielstrebiger Wille unsern allzu langen Darm verkürzt und unser plump vermischtes Geschlechtsorgan verfeinert und veredelt hat...«

Auch B.H. hatte sich nun in einen der niedrigen Bordstühle bequem ausgestreckt. Das Wort »Stühle« ist eine Irreführung, da man ja auf diesen Möbeln lag und nicht etwa »in gebrochener Linie« saß. Nur der Rücken war höher gestützt als auf den gewöhnlichen Ruhelagern mit ihren Schlummerrollen. Ich hatte ein wenig expansiv, ja erregt gesprochen, da mich die guten Dienste meines Gedächtnisses erfreuten. B.H. suchte mich zu beruhigen. Ich spürte ihm eine gewisse Besorgnis an.

»Es ist ja imposant, F.W.«, seufzte er, »wie du dich jener alten Philosopheme erinnerst, die wir während der endlosen Nachmittage unserer Jugend ausgesponnen haben. (Bei mir ist es freilich eine Jugend unter vielen andern Jugenden gewesen, das mußt du im Sinne behalten.) Trotzdem aber glaube ich, daß ich mich mit dem Hersagen eines deiner Poeme revanchieren könnte. Willst du es hören?«

»Um Gottes willen, nein, B.H.«, wehrte ich ab. »Es ist sehr lieb von dir, aber irgendein Vers könnte mir auf die Nerven gehn und meine unvergängliche Reue hervorrufen. Du weißt ja, daß die ästhetische Reue nicht viel weniger wehtut als die moralische. Dabei weiß ich genau, daß einige meiner Gedichte, der Ausdruck meines Seins, besser sind als dieses Sein, das heißt ich selbst, gerade umgekehrt wie bei Gott.«

B.H. räusperte sich, ehe er mich unvermittelt fragte: »Fühlst du dich wohl in deinem Sein, in deinem alten Körper, F.W.?«

»Vollkommen«, erwiderte ich, »das heißt, schon seit Stunden brennt mir jeder Muskel von unbeschreiblicher Abgespanntheit.«

»Da siehst du es, mein Lieber«, nickte er, »du darfst nicht vergessen, daß nur der geistige Willensakt eines bestimmten Kreises von Personen dich und deinen Körper aus den verborgenen Fonds der Materie, aus den geheimen Garderoben der Unsichtbarkeit wiederhergestellt und ins Leben gerufen hat. Du darfst mit deinem Körper nicht umgehen, wie wir's mit zwanzig Jahren gewöhnt waren. Du mußt ihn schonen, zärtlich schonen. Anstatt dessen aber bist du erregt und übernimmst dich. Ich schlage vor, daß du eine Weile den Mund hältst...«

»Gut, laß uns beide den Mund halten.«

Ich seufzte tief auf. Ich konnte bis auf den Grund atmen. Ein gutes Zeichen für meinen erneuerten Körper. Dann blickte ich im Zimmer umher. Io-Rasa, in der freundlichen Absicht, mir's altmodisch gemütlich zu machen, hatte keine der erhabenen Naturbeleuchtungen eingeschaltet, nicht Mondzauber noch golddurchtropftes Waldesdunkel, noch spielendes Meeressilber, noch Schneeschmelze im wolkigen Vorfrühling – all das, was es oberhalb der Erde nicht mehr zu geben schien –, sondern sie hatte zwei matte Milchglaslampen auf einen niedern Tisch gestellt, die am ehesten die Stimmung »Studierzimmerlicht« erzeugten. Ich richtete meine Augen auf die leeren Wände, neugierig, ob ich imstande sein würde, eine visionäre Tapete aus mir zu projizieren wie im Brautgemach. Nichts. Vermutlich war meine Erschöpfung zu groß. Jetzt erst bemerkte ich, daß ein Fenster in die Wand geschnitten war, dessen Flügel nach innen offenstanden. Ohne Zweifel hatte man um des falschen Fensters willen dieses Zimmer mir angewiesen, damit ich hier mich recht heimisch fühle. Und wirklich, es kam mir so vor, als luge die pechschwarze Grizzlybärin einer großen Sierra- oder Karpathennacht in dieses Fenster. Ein angenehmer Hauch von ozonreicher Bergluft strich mir übers Gesicht. Was will man mehr, dachte es wohlig in mir. Da hörte ich B.H. sagen:

»Wie wär's nun mit einer kleinem Barkarole?«

»Was für einer Barkarole?« fragte ich mißtrauisch.

»Was kann das für eine Barkarole sein? Ein bißchen Schlaf im Sechsachteltakt, meine ich, würde uns wohltun. Willst du's nicht versuchen?«

Schreckdurchdonnert fuhr ich hoch und sprang auf die Beine:

»Schlaf? Ausgeschlossen, B.H., ganz und gar ausgeschlossen. Nie mehr werde ich einen Schlaf riskieren, nie mehr darf ich es wagen, einzuschlafen.«

Erschrocken über meine wilde Reaktion, erhob sich auch B.H.:

»Was ist los mit dir, F.W.? ... Warum kannst du es niemals mehr wagen, einzuschlafen?«

Mein Herz schlug mir in den Hals. Ich schnappte nach Worten:

»Muß ich dir das erst erklären? Verstehst du es nicht aus dir selbst?«

»Nein, F.W., jetzt bist du mir vollkommen unverständlich.«

»Mein Herr und Gott«, stöhnte ich, »hättest du's nur vorher bedacht, ehe du mich in diese Lage brachtest, die nicht einmal dir verständlich sein kann.«

Er nahm mich bei der Hand und drückte mich sanft aufs Lager nieder:

»Beruhige dich doch, lieber Freund«, bat er inständig. »Ich will alles für dich tun, was möglich und auch was unmöglich ist. Warum fürchtest du dich aber, einzuschlafen? Jeder normale Mensch schläft und muß schlafen ...«

Es dauerte eine ganze Weile, ehe die Worte, die sich in meinem Munde überstürzten, für mich selbst hörbar wurden:

»Ja, der normale Mensch, ich weiß. Wenn der normale Mensch einschläft, versinkt er in seinem Körper, taucht er unter in seinem vegetativen Fundament. Sag jetzt nicht, daß der Seleniazuse, über seinem Fundament schwebend, schläft. Er ist ein Überwinder und Auserwählter. Der normale glückliche Schläfer wird zur Erde, wird zum Planeten. Der Planet aber kreist um eine höhere Ordnung, um den Sonnenstern. Und er kreist auch um sich selbst. So hat er eine Tagseite und eine Nachtseite, welche die Sonne nicht besitzt. Was die Nachtseite des Planeten, das ist der Schlaf des Menschen. Der Schläfer steht sich selbst im Lichte, um sich vom Geiste auszuruhn. Warum aber tut er das? Weil er sich auf sein vegetatives Fundament, seinen Körper, seine Planetartigkeit verlassen kann. Ich aber kann das nicht, B.H., nein, nein, so schrecklich das ist, ich kann es nicht. Mein Körper war noch vor wenigen Stunden wie Luft, nichtiger als Luft. Er war nicht einmal ein Schatten, nicht einmal ein ekdoplastisches Phänomen, er war wie ein ruchlos Ermordeter, den die Mörder in einem Keller vermauert haben, und nach einigen Jahren sucht ihn die Polizei nicht mehr, weil von ihm ja nichts Eigentümliches und Erkennbares mehr vorhanden sein kann, und der Mordfall F.W. wird aus den Gerichtsakten getilgt und vergessen bis zum Jüngsten Tage. Denk das einmal bis in den Grund aus, B.H., diese Verschwundenheit, diese Verlorenheit, diese Vergessenheit. Jetzt freilich scheint mein Körper normal zu sein. Wer aber beweist mir, daß dies keine Täuschung ist? Du selbst hast mich vor Anstrengungen gewarnt, sogar vor der mäßigen Anstrengung des Sprechens. Es sind deine Worte, daß man mich aus den ›verborgenen Fonds der Materie‹ und aus den ›geheimen Garderoben der Unsichtbarkeit‹ wiederhergestellt hat. Ich finde das ganz und gar schrecklich. Damit experimentiert man doch nicht. Nein, sage nichts. Es ist einmal geschehen, und ich will dir keinen Vorwurf machen. Warum auch Vorwürfe machen, da du mir ja zu einem Genuß verholfen hast? Ich genieße nämlich, meiner lumpigen Natur gemäß, auch diese absurde Form des Daseins aus vollen Zügen. Daß ich's tue, ist ein Beweis für Io-Sums Lehre, daß Gottes Liebe sich ausdrückt im Willen der Geschöpfe, lieber zu sein als nicht zu sein, trotz allem. Ich weiß nicht, ob ich mich heute für ein echtes Geschöpf halten darf – jener Wille aber, der die Liebe Gottes ist, lebt in mir. Daher mein Schreck, daher meine Furcht. Kann ich mich auf mein Fundament verlassen, das ich, entsetzlich zu denken, nur einem spiritistischen Zirkel verdanke? Wohin versinke ich, in was tauche ich unter, wenn ich einschlafe? Verstehst du mich endlich, B.H.? Wenn es mir nicht gelingt, wachzubleiben, werde ich mich verlieren. Das sagt zu wenig. Wenn ich einschlafe, werde ich mich verlieren in der Einöde eines Verlorenseins ohne Beispiel und ohne Namen. Das fühle ich. Das fürchte ich. Das hat mit echtem Tode nichts mehr zu tun. Das ist ein Tod, zu verbotener Potenz erhoben. Den echten Tod kenne ich. Der ist einfach und schlicht und handfest, und man sollte ihn nicht als Knochen- und Sensenmann darstellen, sondern als alten Bauern, der prüfend in den Sonnenuntergang schaut. Aber ein zweites Mal sein Ich aufgeben müssen, weil man dem Schlaf in die Falle geht, das ist zu viel, ah, viel zu viel ...«

»Ich habe mein Ich viele Male aufgegeben«, sagte der Wiedergeborene nach einer Pause, »aber ich verstehe dich, F.W.«

»Wachet und betet«, hauchte ich. »Laß uns wenigstens wachen. Kann ich noch einen Schluck von dem Chaudeau bekommen?«

»Würde ich nicht empfehlen«, erklärte B.H., »es ist ein ausgesprochener Schlaftrunk.«

Er hatte sich zu mir aufs Bett gesetzt. Wir schwiegen lange Zeit. Dann machte er einen Vorschlag:

»Die Menschen spielen auch heute noch Schach. Soll ich ein Brett und Figuren holen?«

»Schrecklich«, versetzte ich. »Ich habe schon in meiner echten Existenz eine Antipathie gegens Schachspiel gehabt.«

»Nun, vielleicht fällt dir etwas anderes ein«, sagte er bereitwillig.

»Hol über, Fährmann, hol über«, sang ich vor mich hin.

»Hol über, Fährmann, hol über«, wiederholte er dienstfertig meinen Singsang, als habe er die Pflicht, sich eines Liedchens zu erinnern, wisse aber nicht, welches.

»Ich meine, B.H., du sollst mir verschiedenes erzählen und vielleicht sogar einige Fragen beantworten. Hast du nicht während deiner verschiedenen Existenzen so manches erlebt, gesehen, gehört, erkannt, was wissenswert ist für mich? ... Hol über, Fährmann ...«

»Da haben wir's«, lachte er bitter, und zwei scharfe Falten bildeten sich um seinen Mund. »Dir, mein Kind, fällt das Erinnern leicht, denn du verwaltest nur ein einziges Inventar. Denk aber einmal drüber nach, wie anders das bei mir ist. Ich bin nicht immer so ein Snob der Aktualität, wie du glaubst, wenn ich nicht gleich weiß, worum es sich bei unsern gemeinsamen Erinnerungen handelt.«

»Hol über, Fährmann, hol über ...«

»Ich will's versuchen, F.W., so gut es geht ... Wohin soll ich dich rudern? ... Womit willst du dein Interview beginnen?«

»Wart einmal ... Wann war es, daß ich damals einschlief? Es muß im Frühling 1943 gewesen sein. Und du? Du hast vermutlich noch lange Zeit nach mir gelebt, nicht wahr?«

»Halt, lieber Freund, halt!« unterbrach er mich. »Du scheinst noch immer nicht die richtige Vorstellung davon zu haben, welche Mühe es mich kostet, meinen Kontinuitätssinn mit voller Schärfe auf eine meiner abgelebten Existenzen einzustellen. Es ist nur ein hinkender Vergleich, aber jede Reinkarnation, will sagen jede abgeschlossene Existenz von A bis Z ist wie ein verstaubter Lexikonband in einer finstern Bibliothek. Darüber hilft selbst eine beständige Erinnerungsgymnastik nicht hinweg. Aus vielen solchen verstaubten und vergilbten Bänden besteht der empirische Teil einer oft wiedergeborenen Seele. Wohlgemerkt, der empirische und nicht der essentielle Teil. Die Aufgabe meines lückenhaften Gesamtbewußtseins ist es, den richtigen Band in der Finsternis herauszugreifen, ihn abzustauben, ihn aufzuschlagen und ohne von dem geistigen Verwesungsgeruch unausdenklich alter Bücher betäubt zu werden, den richtigen Artikel zu finden. Dazu ist große Sammlung vonnöten. Bitte vergiß jetzt nicht, daß ich nun den ersten und vergilbtesten Band vom Regal herunterholen muß. Vergiß auch nicht, daß die ›Transparenz der Sonne‹ wie eine Grenzscheide durch das Gedächtnis der Menschheit läuft. Du und deine Zeit liegen noch weit jenseits der Transparenz. Ich bitte dich also, deine Fragen langsam zu stellen.«

»Ich habe dich gefragt«, wiederholte ich staccato, wie man zu einem Schwerhörigen spricht, »wieviele Jahre du nach 1943 post Christum natum noch gelebt hast.«

Er schloß die Augen und senkte den Kopf. Ich sah, wie er blaß wurde von der Mühe, ein ganz altes Leben wiederaufzuschlagen.

Meine Gegenwart freilich mochte ihm dabei ein wenig behilflich sein:

»Ich habe damals, wenn ich nicht irre, ein ziemlich hohes Alter erreicht«, begann er endlich, etwas zögernd. »In unserer Generation war's eine ganz hübsche Leistung, mein' ich, zumal wenn man bedenkt, daß ich in zwei Armeen gedient habe, in der alten kaiserlich und königlich habsburgischen und in der königlich großbritannischen ...«

»Wie das? Wie kannst du in der englischen Armee gedient haben?«

»Ich hab es halt«, sagte er und fügte aufatmend hinzu: »Das genaue Datum weiß ich natürlich nicht mehr, aber es ist nicht unmöglich, daß ich noch zu Beginn der siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts gelebt habe.«

»Fast dreißig Jahre länger als ich, B.H.«, nickte ich anerkennend, »und in einer historisch außerordentlich interessanten Zeit. Das legt dir mir gegenüber schon einige Verpflichtungen auf. Also nimm dich zusammen, bitte. – Frage zwei – Bist du bereit?«

»Frage zwei«, sprach er mir nach. Und dann: »Gut. Ich bin bereit. Nur bitte langsam und geduldig!«

»Hast du noch den Dritten Weltkrieg erlebt?« Ich zog die Worte lang.

»Ich glaube«, erwiderte er, immer blasser von Konzentration, »ich glaube, ich habe in jenen Tagen keinen Frieden mehr erlebt. Der menschliche Aberglaube damals machte das Glück der Völker, du erinnerst dich sicher besser als ich, von zwei ökonomischen Systemen abhängig, die beide falsch waren. Das eine führte zu höllischer Verstaatlichung und Sklaverei des Individuums. Das andre zu Anarchie und Auflösung der Gesellschaft. Es war das geistloseste Entweder-Oder der Weltgeschichte, die sich ja immer kraft solcher Entweder-Oder fortentwickelt, wie zum Beispiel das berühmte Iota zwischen Homousios und Homojousios zeigt, zwischen der Gottgleichheit und der Gottähnlichkeit Christi, um derentwillen einige Jahrhunderte vorher so viel Blut vergossen wurde ... Wie hätte es in meinen alten Tagen Frieden geben können, solange zwei Systeme nebeneinander bestanden, welche sich sowohl haßten als auch beneideten. Nein, nein, je mehr ich mich sammle, um so deutlicher heulen die Bomben in meinem Ohr.«

Nun erhob ich wieder meine Stimme:

»Und wie entwickelte sich die deutsche Nation nach ihrer Niederlage? Das ist Frage drei. Soll ich Frage drei wiederholen, oder ist es dir lieber, wenn ich sie niederschreibe?«

»Nicht nötig, F.W.«, winkte er ab. Und wie um Zeit zu gewinnen, sang er vor sich hin: »Die Deutschen, ja diese Deutschen ... Was geschah nur mit den verdammten Deutschen?«

Plötzlich glänzte aber sein blasses Gesicht pfiffig auf, und ich hörte ihn mit satirischer Übertreibung Schlagzeilen aus damaligen Zeitungen rezitieren:

»Nun aber hör gut zu«, begann er, »denn das hat's wirklich gegeben: ›Der Kasseler Weltfreundschaftstag‹ – ›Allherzenssympathiewoche zu Gera‹ – ›Allgemeines deutsches Judenabbittefest zu Halle an der Saale‹ – ›Bund deutscher Pantheistinnen zur Hingabe an das Leben in jeder Form‹ – Dies und noch viel, viel mehr sehe ich vor mir und lese es in dem frühesten Lexikonband meiner Vorerinnerungen. Zwischen Weltkrieg Zwei und Drei drängten sich die Deutschen an die Spitze der Humanität und Allgüte. Der Gebrauch des Wortes ›Humanitätsduselei‹ kostete achtundvierzig Stunden Arrest oder eine entsprechend hohe Geldsumme. Die meisten der Deutschen nahmen auch, was sie unter Humanität und Güte verstanden, äußerst ernst. Sie hatten doch seit Jahrhunderten danach gelechzt, beliebt zu sein. Humanität und Güte erschien ihnen jetzt der beste Weg zu diesem Ziel. Sie fanden ihn sogar weit bequemer als Heroismus und Rassenlehre.«

B.H. hielt die Augen geschlossen. Ich fühlte, wie der Strom seiner Rückbeschwörungen immer dichter und rascher wurde. Dann und wann unterbrach ich ihn durch eine kurze Bemerkung, um ihn anzueifern, wie man es bei einem Medium tut. Oft schien er mich ganz vergessen zu haben, so mächtig drängte jene verschollene, fernste Vergangenheit an die Oberfläche.

»Ich erinnere mich«, fuhr er fort, »an das berühmte Buch eines deutschenhassenden Deutschen, eines damals weitverbreiteten Alibi-Typs. Einen Augenblick, wart einmal, unterbrich mich nicht, der Autor hieß – halt, ich hab's – er hieß Carl Egon (von) Ausfaller. Den Titel des Buches könnte ich mit einiger Anstrengung auch entziffern, aber es ist besser, meine Kräfte für Wichtigeres aufzusparen. Das Buch erschien, dessen bin ich sicher, noch vor 1960. Ausfaller behauptete darin, es gebe zwei Arten von Deutschen: ›Die Heinzelmännchen‹ und ›die Wichtelmännchen‹. Die Heinzelmännchen waren gute, hilfreiche, unermüdlich fleißige Arbeiter, die überall, ob erwünscht oder unerwünscht, hartnäckig auftauchten, um ihre Schuld gutzumachen. Hatten zum Beispiel irgendwo in Europa abends die Arbeiter eine Fabrik verlassen, so stellten die Heinzelmännchen nachtlicherweile sich ein und schufteten unbemerkt bis ins Morgengrauen, wenn sie auch die Gewerkschaften des betreffenden Landes damit rasend machten. Sie gingen jedermann auf jede Weise zur Hand und verlangten keinen andern Lohn als ein bißchen Verzeihen für das, was man dem deutschen Volke zur dauernden Schande anrechnete. Mir selbst sind an manchem Orte eine Menge solcher Heinzelmännchen begegnet, und sie haben mich manchmal gerührt, obwohl ich nicht verzieh. Sie waren die Erfinder der undankbaren Ethik der ›selbstlosen Zudringlichkeit‹. Zur Erholung hielten die Gebildeten unter den Heinzelmännchen philosophische Vorträge an Volkshochschulen, in protestantischen Kirchen und sogar in Reformsynagogen, wobei ihr eintöniges Thema stets der brüderlichen Pflicht des Menschen gewidmet war. Ohne Pflicht ging's nicht, wie ja die deutsche Grundauffassung vom Leben in der ›Anbetung des Unangenehmen‹ bestand. Sie waren, mit einem Wort, echte Schafe im Schafspelz. Da sie aber selbst dies krampfhaft waren, glaubte es ihnen niemand, und man hielt sie für Wölfe. Aus diesen Heinzelmännchen bestand der größte Teil der deutschen Nation. Der andre, viel kleinere Teil, die Wichtelmännchen, spielte eine weit interessantere Rolle. Sie waren keine guten, sondern böse Geister, unbekehrbare Kobolde in hunderterlei Verkleidungen. Niemals erschienen sie in ihrer märchenhaften Urform, als bucklige Zwerge nämlich mit weißen Ziegenbärten. Dazu waren sie zu rassenstolz. Sie zogen, wenn's nur halbwegs ging, die Erscheinungsform von nordischen Recken vor, konnten aber trotzdem, selbst dann, wenn sie lang und hager waren, den Gesichtsausdruck hämisch kleingläubiger Zwerge, die sich stets provoziert fühlen, nicht ganz verwischen. Sie dienten allen Herren und allen Ideen der Welt, denn das echte Wichtelmännchentum hielt alle Ideen und alle Herren für auswechselbar, da es ja niemals eine eigene Idee gehabt hatte außer dem Protest. Selbst jener Geheimbund, den sie die ›Gräberboten‹ nannten oder die ›weißen Vampyre mit den roten Lippen‹, der Möchtegern-Schrecken Europas vor 1950, war ein blankes Plagiat an der italienischen Maffia von 1848 und an den amerikanischen Schauerfilmen des finstersten Altertums, obwohl die Wichtelmännchen auch hier wie überall die Originalität durch Übertriebenheit zu ersetzen suchten: denn ›Gräberbote‹ durfte nur werden, wer seinen linken Arm abhackte und durch eine Prothese ersetzte, in die eine elektrische Batterie eingebaut war, die tödliche Schläge auszuteilen vermochte. Die Wichtelmännchen, gleichgültig wo und wem sie dienten, waren die ersten, die das unterirdische Leben erfanden, dessen Vollendung du in der heutigen mentalen Kultur vor Augen hast. Sie unterwühlten kraft ihrer frenetischen Energie und inhaltslosen Opferbereitschaft die Haupt- und Großstädte aller Nationen mit ihren wissenschaftlich ausgeklügelten Labyrinthen. Und das taten sie, noch während die siegreichen Mächte ihr Land entwaffnet und besetzt hielten, und sie, die Wichtelmännchen, oberhalb der Erde von den Heinzelmännchen nicht zu unterscheiden waren. Im übrigen war der Charakter der Heinzelmännchen so schwach, daß sie der Neigung, Wichtelmännchen zu werden, oft nicht widerstehen konnten. Die Wichtelmännchen sind auch die Erfinder der unterirdischen Denkmäler gewesen, deren eines du noch heute sehen konntest. Hunderte dieser Denkmäler errichteten sie in ihren geheimnisvollen Labyrinthen einem Abgott mit Namen Heiltier, einem Scheuel, das nicht einmal ein echtes deutsches Wichtelmännchen, sondern ein schmutziges Grenz- und Mischwesen gewesen sein soll ...«

»Der Name ist nicht richtig, B.H.«, war ich gezwungen, einzuwerfen.

»Und wie ist der richtige Name, F.W.?«

»Schade, soeben hab ich ihn auf der Zunge gehabt ...«

»Mag sein«, überlegte B.H., »er hieß Hiltier. Sie sehnten sich nach der ›Volksgemeinschaft‹ zurück, einer automatischen Lebensform, die er bei ihnen eingeführt hatte, wo jedermann Denunziant und Denunzierter, Folterknecht und Gefolterter, Henker und Hingerichteter gleichzeitig sein durfte. Sie errichteten diesem Hiltier nicht nur Denkmäler, sondern schrieben noch Jahrzehnte nach seinem Verschwinden an die Wände ihrer Bedürfnisanstalten ›Heil Hiltier‹. Das war ein magischer Wiederholungsakt. Denn durch denselben Brauch, die ammoniakwürzigen Pissoirwände mit ›Heil Hiltier‹ zu beschmieren, hatten die Wichtelmännchen vorher die Macht über die Heinzelmännchen und beinahe die Weltherrschaft errungen ...«

»Und gelang's den Wichtelmännchen beim dritten Mal, B.H.? ... Das wäre Frage vier ...«

»Davon hab ich keine persönliche Erfahrung«, kam die rasche Antwort. »Ob sie's erreicht haben oder nicht, ist auch ganz und gar unwichtig, denn als ich das nächste Mal ins Planetenleben trat, da gab es keine Deutschen mehr, sondern nur noch die deutsche Sprache, die da und dort, besonders unter Farbigen, gesprochen wurde, aber Mödlinger Sprache hieß. Mödling soll ein Vorort von Wien gewesen sein.«

»Das sind allerdings Aspekte«, meinte ich, »von denen ich mir nichts hab träumen lassen. Und was geschah mit all den kleinen Völkern, B.H. ...? Das ist die fünfte Frage, wenn es dich nicht allzusehr hernimmt.«

»Die kleinen Völker«, entgegnete er, ohne nachzudenken, »störten noch einige Zeit, dann lösten sie sich in den sogenannten Grundnationen auf. Leider, denn manche unter den kleinen Völkern waren sympathischer und nützlicher als die Grundnationen.«

»Und das Schicksal der Grundnationen?« Ich schmuggelte das als Unterfrage ins Interview.

»Die europäischen Grundnationen«, erwiderte er, »verschmolzen miteinander und verschwanden. Nicht nur die Deutschen, sondern ebenso die Franzosen, die Slaven, und zuletzt sogar die Engländer. Seltsamerweise bestand das großbritannische Weltreich noch, als es keine wirklichen Engländer mehr gab. Am längsten erhielt sich eine Enklave des italienischen Volkes, und zwar dadurch, daß Rom als Thronsitz der katholischen Kirche sich bisher als unvergänglich erwies. Den Grundnationen Europas aber erging es so, wie es den alten Wanderstämmen ihrer Väter ergangen war, aus denen sie während des römischen Altertums entstanden sind. Sie vermischten sich zu einer größeren Einheit, der ältesten Kontinentalnation der Alten Welt. Die nationalistischen Weltkriege vorher waren nichts anderes als letzte Zuckungen eines überalterten provinziellen Tribalwesens. Die geeinigte Kontinentalnation Europas aber versank in ein langes Zeitalter der Sterilität, während die Kultursonne über ganz neuen Völkern des Ostens und Westens aufging, von denen wir damals noch kaum gehört hatten ... Welche Grundnation aber, glaubst du, ist es gewesen, die als erste beim psychochirurgischen Zentralamt den Antrag auf allgemeine Extraktion des Nationalgefühls gestellt hat?«

»Die Franzosen vielleicht«, zögerte ich, »nachdem sie mit Hilfe Jeanne d'Arcs und der Engländer dieses Nationalgefühl eingeführt haben.«

»Im Gegenteil«, lachte er, »die Deutschen. Die endgültige Vernichtung der Seuche des Nationalismus ist und bleibt ein Verdienst der Deutschen, nachdem es ihnen bis dahin sieben- bis vierzehnmal nicht gelungen war, durch Macht beliebt zu werden.«

»Das hätte ich erraten müssen, B.H.«, schämte ich mich. »Natürlich können es nur die Deutschen gewesen sein, die zuletzt gegen den Protest protestierten ...«

»Die einfachsten Antworten sind meist die schwierigsten, F.W.«, tröstete er mich.

»Und die Juden?« fragte ich. »Ich nehme an, daß dies die Frage Nummer sechs ist.«

»Die Juden«, gab er zur Antwort, »bemühten sich seinerzeit mit größter Gewalt, auch nur ein kleines Volk unter kleinen Völkern zu sein; doch durften sie sich gemäß dem göttlichen Heilsplan trotzdem nicht auflösen.«

»Die Juden bestehen also weiter«, sagte ich, »genau wie die katholische Kirche?«

Er sah mich aufmerksam an, ehe er knapp erwiderte:

»Lassen wir das. Du wirst vermutlich Gelegenheit haben, diese Phänomene selbst zu erforschen, und sie werden dir unglaubwürdig genug erscheinen.«

B.H. hatte sich wieder auf einen der Bordstühle ausgestreckt und die Hände unterm Kopf verschränkt. Ich wollte verhindern, daß er einschlafe. Nur wenn ich ihn wachhielt, konnte ich mich selbst wachhalten:

»Ich weiß, es ist äußerst egoistisch von mir, B.H., aber erlaubst du mir, das Interview fortzusetzen? Ich hätte noch zwei oder drei Fragen.«

»Jetzt kommt Frage sieben«, murmelte er und öffnete gutmütig seine dunklen Augen.

»Hol über, Fährmann, hol über... Hol über nach Rußland...«

Des Freundes Stirn legte sich in scharfe Falten der Sammlung:

»Als alter Mann«, begann er, »durchquerte ich Rußland mehrere Male von Osten nach Westen und von Westen nach Osten. Nirgends habe ich berauschenderen religiösen Pomp angetroffen als in Moskau gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Es war auf dem Roten Platz. Kein Irrtum, er hieß noch immer der Rote Platz, und die alte Partei, eisgrau und stockkonservativ wie nur die Tories in London, hatte die Staatsmacht inne. Die Glocken aber donnerten von den Kathedralen. Der orthodoxe Klerus erschien in seiner ganzen byzantinischen Pracht. Inmitten dieses Klerus folgte der uralte Metropolit dem heiligen Ikon der schwarzen Gottesmutter. (Man konnte freilich bei russischen Massenaufzügen dieser Zeit niemals wissen, ob es sich nicht um historische Filmaufnahmen handelte, denn für diese Form der nationalen Glorifikation liebte der Staat ungezählte Millionen zu spendieren.) Dem marxistischen Klerus war nichts andres übrig geblieben, als sich ebenfalls in rote Dalmatiken zu kleiden und die ballonmützenartigen Mitren aufzusetzen, auf welchen in altertümlichen Lettern die Worte prangten: ›Die klassenlose Wohlfahrt der meisten Mikroorganismen ist das Ziel des Kosmos.‹ Doch obwohl die Gegen-Prozession aus dem Kreml sehr glanzvoll war, und die jungen marxistischen Ministranten Inzensgefäße mit Desinfektionsrauch (Formalin) schwangen und Hymnen von gereimten Statistiken ertönten, konnte sie sich doch nicht an Pracht mit der andern Prozession vergleichen, die von der unscheinbaren Holzkirche in Sokolniki, welche den Stürmen der Gottlosenzeit standgehalten, ihren Ausgang genommen hatte. Man feierte damals die sogenannten ›oströmischen Kompakten‹, einen Ausgleich des Schismas, eine praktisch-dogmatische Annäherung der griechisch-orthodoxen und römisch-katholischen Kirche; ein schlauer Streich, den der damalige Metropolit dem Großbojaren in Moskau spielte, wie der offizielle Titel des sozialistischen Diktators während des romantischen Rückschlags lautete. Es war nun der Beginn der großen katholischen Unifikation, von der ich freilich auch keine persönliche Erfahrung mehr habe. Aber in den letzten Jahren meines Lebens wurde es immer klarer, daß die Folgen der Reformation und Renaissance verebbten. Heiltieren und seinen Wichtelmännchen hatte man diese Klärung zu verdanken. Ein Teil der christlichen Sekten ging im sogenannten Kommunismus auf, von dem freilich nichts übrig geblieben war als der Ruhm eines großen nationalen Sieges, ein engmaschiger Zentralbürokratismus, die abergläubische Wissenschaftsverehrung von jüngst zum Alphabet bekehrten Analphabeten und der normale Fortschritt der Planetbewohnerschaft. Der andre Teil der christlichen Sekten jedoch löste sich im Katholizismus auf...«

Ich konnte mich nicht zurückhalten, ihn zu unterbrechen:

»Deine interessanten Belehrungen erinnern mich daran, daß ich am letzten Abend, bevor ich einschlief, zu einem Freunde darüber sprach, daß der Zweite Weltkrieg nichts andres sei als die Wiederaufnahme der Gegenreformation, nach einer Pause von zweihundert Jahren, mit vielfach vertauschten Rollen und verwischten Argumenten.«

»Diese Bemerkung ist ganz richtig, F.W.«, bestätigte der Wiedergeborene. »In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts bereitete sich ein zeitweiliger Sieg des gottgebundenen über das gottentbundene Denken vor, was man sehr wohl einen Sieg der Gegenreformation nennen kann.«

»Ich habe diesen Sieg lange vorher in allen Gliedern gefühlt«, sagte ich.

»Das weiß ich«, lächelte er. »Schließlich haben wir alle unser Scherflein beigetragen. Die Weltdeutung für Möbelpacker hat ja unsern geistigen Hochmut immer beleidigt. Und bei dir kam noch der ästhetische Hochmut dazu ...«

Ich fühlte unter der Decke meines betäubenden Schlafbedürfnisses eine leuchtende Freude:

»Also ist es wahr«, schwärmte ich, »der große naturalistische Stumpfsinn und seine Konsequenzen wurden besiegt?«

»Was sagst du da, F.W.?« schüttelte der Wiedergeborene verächtlich den Kopf. »Solltest du nicht wissen, daß auf Erden nichts Geistiges besiegt werden kann, nicht einmal der Anti-Geist? Beide Prinzipien durchlaufen Zeitalter ihrer Ausdehnung und Zusammenziehung, das ist alles. Und nie ist eine geistige Institution machtvoller, als wenn sie machtlos, und nie machtloser, als wenn sie machtvoll ist. Im übrigen kann nur der kindlichste Schwachsinn annehmen, daß man erst im neunzehnten Jahrhundert naturwissenschaftlich skeptisch zu denken gelernt habe, und daß etwa die hohen Mysterien des Christentums hundert Jahre nach dem Kreuzestod weniger absurd gewesen sind als achtzigtausend Jahre später. Ich habe so vieles gesehn. Einst geriet ich in ein Zeitalter des hochmodernsten Polytheismus; da glaubte man an eine große Anzahl nebeneinander existierender, doch völlig anders gearteter Universa, von dem eines dem andern unbekannt und unbewußt war. Jedes Universum hatte seine Götter. Man glaubte zwar, daß diese Götter Geist seien, daß Geist aber nichts anderes bedeute als die einheitliche, allen Dingen zugrundeliegende Materie im nervösen Vorschöpfungszustand, im Augenblick nämlich, bevor sie in ihren kosmischen Raum einzustrahlen beginne. Die Götter, an welche die Menschen damals glaubten, waren somit körperlich und geistig zugleich, das heißt, die materiellen Stern- und Atomwelten stellten nur einen erhöhteren, das heißt herabgekommeneren Dichtigkeitsgrad der jeweiligen göttlichen Existenz vor. Es war die feinste Form des pantheistischen Materialismus, die ich während meiner Wiedergeburten kennengelernt habe. Als ich aber etwas später wieder auftauchte, fand ich mich einer restlos ordinär atheistischen Epoche gegenüber. In der unabsehbaren Kurve des menschlichen Erkenntnislebens hatten Wissenschaft und Technik damals ihren historischen Zenitpunkt erreicht. Sogar die seit Petrus nicht gerissene Reihe der Päpste war für mehrere Generationen unterbrochen. Das heißt der Papst war wieder zum einfachen römischen Bischof geworden, der einer bettelhaften Sekte von physisch und geistig Armen präsidierte. Die Kirche wurde nicht einmal verfolgt, sie war lächerlich. Doch dies genügte schon, um sie wieder groß zu machen und ein Zeitalter neuer Triumphe einzuleiten. Auch die betörten Juden, die damals endlich ihre mystische Vergangenheit loswerden wollten, verbrannten ihre Thorarollen (die alle historische Kritik spielend überdauert hatten), verboten die hebräische Sprache und beschworen den ganzen Erdball, das Angelsächsische als Monolingua anzunehmen. Vergeblich, denn die Bibel war ebensowenig durch Flammen zu vernichten wie die Werke des wissenschaftlichen Naturalismus. Dieser stand gerade zu jener Zeit auf seiner höchsten Höhe und daher vor seinem tiefsten Fall. Der größte Sternkundige der Weltgeschichte, der damals gerade blühte, führte nämlich den diamantenen Nachweis, daß sich das gesamte Universum trotz seiner unermeßlichen Bewegungspolyphonie einzig und allein um den Erdplaneten drehe, welcher einzig und allein unter allen planetartigen Himmelskörpern aller Sternsysteme die notwendigen Voraussetzungen für höheres organisches Leben und damit für eine geistige Menschheit besitze. (Davon aber glaube ich zu dir schon gesprochen zu haben.) Die Wirkung jener Theorie Urslers ›Vom unendlich verschiebbaren Mittelpunkt aller erdenklichen Umläufe‹ war ohne historisches Vorbild ...«

»Schreibt sich diese Theorie«, unterbrach ich ihn, »nicht von Pascal her, der das Weltall als eine Kugel definierte, deren Mittelpunkt überall und deren Mantel nirgends sei?«

»Ganz und gar nicht«, verwarf er unwillig meine Frage. »Der gute Mann, den du zitierst, stellt sich ein grenzenloses Weltall vor; Urslers Grundsatz vom ›verschiebbaren Mittelpunkt‹ bezieht sich aber auf ein notwendig begrenztes Weltall. Ich will jedoch nicht so sehr vom mathematischen Gesetz sprechen, das die Erde wieder zum Protagonisten des Universums machte, wie einst in der Anschauung des Ptolemäus, sondern vom gewaltigen Eindruck der neuen Erkenntnis auf den Geist der Menschheit.«

»Oh, ich kann mir vorstellen«, sagte ich, »wie nach endlosen Zeiten der allgemein naturalistischen Überzeugung, unsre Erde sei das gleichgültigste Staubkorn im Kosmos, die plötzliche Gewißheit, daß sie das Zentrum aller Zentren ist, den menschlichen Intellekt umwarf ...«

»Du kannst es dir nun und nimmer vorstellen«, versetzte er mit einiger Schärfe. »Gegen die Konterreformation, welche diese Gewißheit hervorrief, war die deinige ein Kinderspiel. Nach den ersten Jahrzehnten bitteren Kampfes, in denen sich die neue astronomische Theorie gegen die Empörung der Reaktionäre durchsetzen mußte, überflutete die sonderbarste Welle asketischen Mystizismus die Menschheit. Seit den Zeiten der frühchristlichen Thebais, des Einsiedlertums in der ägyptischen Wüste, hatte man dergleichen nicht mehr erlebt. Am Himmel schossen die unsichtbaren Gyroplane dahin, Transportraketen, die eine Geschwindigkeit von zwei Sekundenmeilen erreichen konnten. Wer aber saß unter diesem Himmel, auf den höchsten Kanten, Vorsprüngen und Firsten der Wolkenkratzer, jahrzehntelang schweigend, bewegungslos? Es waren die Neostyliten, die neuen Säulenheiligen, die durch Entsagung und Entselbstung für die ins Ungemessene gewachsene Hochmutsschuld der beseelten Materie büßten. Sie waren wohl im Expreß-Hochsauger in das dreihundertste Stockwerk gelangt. Zur Rückkehr aber benützten sie keinen Lift mehr. Wenn diese Neostyliten, die sich ausschließlich vom kunstvollen Einatmen der atmosphärischen Vitamine nährten, vom winterlichen Blizzard oder Hurrikan auf den Asphalt herabgeschüttelt wurden, waren sie trocken wie gedörrte Pflaumen und vergossen kaum eine Teetasse lächelnden Bluts ...«

»Halt, B.H.«, schnitt ich ihm in die Rede. »Ich sehe deine Neostyliten genau vor mir. Aber, ich weiß nicht warum, sie haben nicht die Gesichter von Büßern aus der ägyptischen Wüste, sondern eher kühne, ein wenig indianische Züge mit Runzelfächern um Augen und Mund ...«

»Du bist kein schlechter Rätselrater«, lachte er. »Das Geburtsland des neuen Mystizismus war auch wirklich und wahrhaftig Nordamerika. Diese Matter-of-Fact-Welt enthüllte plötzlich eine tiefere Schicht, unbegreiflich für alle Flachköpfe. Nicht grundlos war Columbus ein Christophoro gewesen, der starke Fährmann, der das Christkind übers Wasser trug. Von Amerika ging die christliche Erneuerung aus, welche in der Theorie vom unendlich verschiebbaren Mittelpunkt, das heißt im Siege über jene Wissenschaft wurzelte, die im Menschen nur das Tier und im Erdplaneten nur das Staubkorn sah. Doch lange vorher schon hatte Amerika eine große Rolle in Kunst und Wissenschaft gespielt.«

»Der Weltteil des puren Kommerzialismus?« staunte ich.

»Damals entstanden in Amerika einige nervöse Krankheiten«, fuhr er fort, »zum Beispiel die ›Tachyphobia‹ und die ›Plutophobia‹, wie die Medizin sie altmodisch titulierte. Die Amerikaner konnten mit einem Mal keine Geschwindigkeit mehr vertragen. Bei jeder Fortbewegung, die rascher war als fünfundzwanzig Meilen in der Stunde, trat epidemisch eine nicht ungefährliche Gehirnanämie auf. Der Personenflugverkehr mußte aufgegeben werden, und selbst das geliebte Auto verschwand nach und nach vom phantastischen Straßennetz des Kontinents. Die heutige mentale Aversion gegen die Räder-Fahrzeuge stammt möglicherweise von jener Tachyphobie ab ... Man darf, um die Tachyphobie recht zu verstehen, nicht vergessen, daß all jene rasenden Fortbewegungsmittel nicht erfunden worden sind, damit der Mensch geschwind, sondern damit er langsam sein dürfe.«

»Und die ›Plutophobie‹?« fragte ich.

»Die ›Plutophobie‹ war eine Hautkrankheit, eine Art allergischer Psoriasis, die der Anblick von Wechseln, Aktien, Hypotheken, besonders aber von langen und verzwickten Geschäftskontrakten hervorrief. Es war eine absonderliche Mischung von Ekel, Überdruß und Langweile, welche zu dieser Plutophobie und damit zur Abschaffung aller kommerziellen Tätigkeit führte. Die Menschen schämten sich so sehr der Hochwertung der Dinge nach der Größe ihres Absatzes, daß alljährlich eine ›Konkurrenz der Ladenhüter (worstseller)‹ gefeiert wurde: Der Kongreß in Washington sah sich gezwungen, einen neuen Zusatz zur Verfassung zu beschließen, kraft dessen das ökonomische Naturgesetz von Angebot und Nachfrage für null und nichtig erklärt wurde ... In Amerika freilich, wo jeder Quadratmeter der Prärien und Wüsten von Reichtum überströmte, hatte inzwischen der neokommunistische Grundsatz gesiegt, der in offizieller Formulierung lautete: Jedermann sein eigener stinkiger Millionär ...«

»Und was taten die frischen, naiven, erfolgsfrohen, tatenlustigen, statistikgierigen, wetteifernden Amerikaner mit all ihrer Zeit?«

»Der große wissenschaftliche Einfall des Djebel«, erwiderte B.H. dunkel, »ein echt amerikanischer Einfall, begann seine Schatten vorauszuwerfen. Die ersten primitiven Grundsätze der Chronosophie, des kosmischen Turnens und des Sternwanderns reichen bis tief hinab in die plutophobische Epoche. Auch jene ersten Versuche, die schließlich nach ungezählten Jahrtausenden zum Siege über das Alter und den frühen Tod geführt haben, regten sich sehr früh. Es soll, so heißt es, schon in den Anfängen der Menschheit rüstige Gruppen von achtzigjährigen Amerikanerinnen gegeben haben, die gleichaltrigen Amerikanern fröhlich zuriefen: ›Wollt ihr Burschen euch nicht zu uns Mädels setzen?‹«

In diesem Grundgefühl der angloamerikanischen Rasse, niemals erwachsen zu sein, lag schon die Vorahnung einer späteren Erfüllung. Und nicht weniger wichtig als all dies: auch die Idee des reinen inhaltslosen Spiels am Lebenszweck regte sich zum erstenmal, nachdem die Hochflut des neuen Mystizismus zurückgetreten war. Über dieses inhaltslose Spiel hast du ja heute bereits einiges von unserm Hausherrn und von unserm Wortführer gehört. Ein Exempel dafür aus ältester Zeit: Die plutophoben Amerikaner, die nicht mehr kauften und verkauften, hielten an einem einzigen kommerziellen Zweig zähe fest: es war das Reklame- und Inseratengeschäft. Der Witz aber lag darin, daß sie mit den gewohnten marktschreierischen Superlativen nur solche Menschen und Dinge anpreisen durften, die in Wirklichkeit nicht vorhanden waren ...«

Ich lag still und hörte dem Wiedergeborenen aufmerksam zu, um ja kein einziges Detail zu verlieren, denn einen ähnlichen Kurs in der Weltgeschichte, wie ich ihn hier nehmen durfte, hatte noch niemand durchzumachen das Glück gehabt. Ich, der ich mich mit Leib und Seele im Elften Weltengroßjahr der Jungfrau befand, durfte dazu noch mit meinen Ohren hören, was sich in den Jahrzehnten, Jahrhunderten und Jahrtausenden nach meinem Tode begeben hatte. Ein neuer Anhauch ozonreicher Bergluft kühlte mir die Stirn. Vielleicht war der Tag nicht mehr fern. Meine Müdigkeit hatte nicht an Dichte, aber an Schwere abgenommen. Jetzt bewegt sich die Grizzlybärin der Nacht im falschen Fenster, sie hebt die Tatze, so war es mir. Zugleich aber hatte ich den Faden verloren und vieles, vieles nicht mehr gehört, was B.H. von den Jahrhunderten und Jahrtausenden berichtete, deren Zeuge er gewesen. Ich nahm das Wort, hatte aber das Gefühl, meine Ohren seien voll Erde:

»Ist es nicht erfreulich, B.H.«, sagte ich, »daß all das, was ich jetzt von dir erfahren habe, keine leeren Prophezeiungen und Wahrsagungen der Zukunft sind, sondern solide Tatsachen der Vergangenheit?«

»Ich wünschte sie mir solider«, entgegnete er, »doch nicht nur der Prophet ist gezwungen, seine Visionen im Bericht zu verzerren, sondern selbst der reinkarnierte Historiker. Er ist bekanntlich auch nur ein rückwärtsgewandter Prophet, denn die Vergangenheit, die sich entfernt, wird ebenso unwirklich wie es die Zukunft ist, die sich nähert. Die Ereignisse werden im Stromwasser der Zeit unnachsichtlich gebrochen.«

»Schon im Raum werden sie gebrochen, lieber Freund, schon im Welten-Raum, durch den wir irren ... Was ist das, B.H.? Wer ist es, der mir jetzt im schönsten Latein in die Ohren flüstert, ›Animula, vagula, blandula, pallidula ...‹ Du mußt mir helfen, B.H. ... Du bist noch heute, nach so vielen Wiedergeburten, der weit bessere Lateiner als ich, und von uns beiden warst ja immer du der Wissende und ich der Unwissende ... Sag also, wer flüstert mir das zu: Animula, vagula, blandula, pallidula ...«

»... Rigida, nudula«, setzte B.H. fort, und sein großer Kopf zitterte, und das verzückte Lächeln poetischer Kennerschaft lag auf seinen Zügen: »Ja, wer nennt dich ›Schmeichelseelchen, rastlos wanderndes, totblasses, kältestarrendes, nacktes ...?‹ Es ist der Kaiser Hadrian, der dir sein Sterbeliedlein zuflüstert ...«

»Ja, und ich versteh ihn genau, deinen Kaiser Hadrian«, seufzte ich. »Er will mich warnen mit seinem Sterbeliedlein, das er sich weinend auf dem Totenbette vorsang, der sentimentale Gauner. Er warnt mich davor, meinen alten Frack abzulegen und dieses steife, aufgerauhte, zerknitterte Hemd. Denn unterm Hemd ist vielleicht nichts andres vorhanden als ein sinnliches Schmeichelseelchen, rastlos wanderbereit, totblaß und kältestarr ...«

B.H. lag still und antwortete nicht mehr. Ich aber redete weiter und erzählte ihm gar mancherlei, so schien es mir wenigstens, obwohl mich meine eigene Stimme, wie aus dem Innern eines Bergwerks erreichte, eines Bergwerks, das ich selbst war. Just relax, hörst du, B.H., just relax, sagte der große amerikanische Dentist zur Frau Welt, der er links oben den Weisheitszahn extrahieren mußte. Und er hatte recht mit seiner Aufforderung. Dann aber, ich weiß nicht wie, saß ich als nächster im Stuhl, und ich hatte gar keine Angst mehr, denn alles war schon vorüber. Lassen Sie die Schultern fallen, riet er mir, und ich hielt das für goldene Worte, obwohl ich, mißtrauisch wie ich bin, längst schon ahnte, daß ich gar keine Schultern hatte. Aber ich saß fest und behaglich im Marterstuhl, das kann man nicht leugnen, obwohl ich gar nicht mehr vorhanden war. Doch siehe da, welch tief tiefe Erfahrung: obwohl ich gar nicht mehr vorhanden war, wurde ich bewegt. Der Marterstuhl war nämlich ein Rollstuhl. Bewegt werden, das ist das letzte, was man weiß. Da aber das Bewegtwerden nie aufhört, so hört auch das Wissen um das Bewegtwerden, das letzte Bewußtsein nicht auf. Sollte mich Io-Fagòr jemals wieder über die Zeitlosigkeit interpellieren, so würde ich antworten: Stellen Sie sich vor, Compère, Sie seien nichts anderes als der Hohlraum eines Vehikels, das aus Zeit fabriziert worden ist, aus Zeitmetall. Rücksichtslos schlägt hinter Ihnen die Tür zu, und dann geht's los. Ohne Zeit fahren Sie in der Zeit, um die Zeit zu erfahren. Fahren heißt, etwas erfahren. Und das ist ein echtes Reisemotto. Wer aber meint, daß der zeitlose Hohlraum, der bewegt wird, vollkommen leer ist, der weiß nichts von der Wahrheit. Es gibt keine absolute Leere, wie es keinen absoluten Tod gibt. Immer ist etwas da in mir, selbst im neunten Grade meiner Nichtvorhandenheit. Oh, wie stark ist es jetzt in mir. Oh, wie stark ist sie jetzt in mir: sie, die immerfort redet und stammelt und plappert und blabbert und lallt und lullt. Die altkluge Schwätzerin ist in mir, die syllabische Sybaritin, die den Mund nicht halten kann, von Ewigkeit und Ewigkeit. Und das wäre also die Animula vagula blandula, die unsterblich Frierende? Und es ist geradezu absurd, daß cäsarische Massenmörder im Tode zu lyrischen Eseln werden, die sich selbst schrecklich leid tun und ihr ewig miauendes Schmeichelkätzchen bedauern. Warum bedauern? Man muß die Schultern fallen lassen, doch nicht sich selbst. Solange das unaufhörlich Redende vom unaufhörlich Bewegten durch den Raum gefahren wird, ist nichts verloren. Und das ist die vererbte Situation unserer Familie, der Familie Sonne. Wohin fahren wir bitte? Wir fahren zu Großmama, mein liebes Kind. Ist Großmama die Ahnfrau? Pfui, dummer Bub, Großmama ist keine jugendschöne Perverse, sie ist eine runzlichte Alte voll Schnurren und Geschichten. Hat Großmama noch immer einen Kropf? Pfui! Wer redet so offenherzig? Nein, es ist die ältere Großmama, die älteste Großmama. Ach, ich sehe sie dort, mit ihrem glatten Mittelscheitel, den lustigen Märtyreraugen und dem schmalen Mund. Großmama, warum hast du so lustige Märtyreraugen? Damit ich besser um dich weinen kann. Großmama, warum hast du so einen schmalen Mund? Damit du die letzte Sprache des Menschen leichter verstehen lernst. Was geschieht mit mir? Das ist ja ungeheuerlich. Schon habe ich die letzte Sprache des Menschen erlernt, die seine erste ist. Es ist wahrlich nicht die Monolingua, dieser Mischmasch, dieses Esperanto aus dem mentalen Oberstübchen. Nein, nein, hebt die Schalltrichter der Trompeten hoch, ich spreche die Protoglossa, die Sprache des ersten Schöpfungstages, die den Wasserstoffatomen noch in den Ohren gellt. Ich habe sie verstanden, die Protoglossa, in meinem Köpfchen, als mir die Hebamme auf den Rücken schlug. Und ich habe sie wieder verstanden, die Protoglossa, als man mich zurechtmachte zum letzten unfreiwilligen Gang, der ein Gefahrenwerden war. Wie herrlich ist sie doch, unsere Protoglossa. Sie liegt jenseits der Zullersprache und der Schnullersprache und des Windelnässeridioms. Sie liegt jenseits alles Ohnmachtlallens und Narkosehallens und des schnell geschmolzenen Todesschreis. Sie ist der rote Faden, den Altgroßmama auf ihr Canevas von Organtin stickt, ja, von Organtin. Jetzt aber muß ich mich hüten, zu tief in die Protoglossa zu geraten, wie alte Emigranten, die immer rückfällig werden, weil sie die Sprache ihrer neuen Umgebung nicht mehr erlernen können. Gescheit sein und bei der Monolingua bleiben, das ist meine Pflicht. Ich gehe euch nicht auf den Leim und trete auf keine Falltür. Weiterfahren, bitte. Das heißt: bitte, weitergefahrenwerden. Wie arm sind sie mit ihrem mentalen Reiseverkehr. Einen Stations-Chef brauchen wir mit roter Kappe, mit einer Signalscheibe dazu oder einem kleinen Horn, das zur Abfahrt mahnt. Ja, wir sind Kinder der Eisenbahn per saecula saeculorum, und weiter werden wir's nicht bringen. Dort, der Dreijährige, der ich bin, starrt noch immer zum Viadukt empor und ruft in der Zullersprache der dampfenden Lokomotive begeistert zu: »Machina!« Die Kinder der Eisenbahn wissen, daß alle Finsternis vom Tunnel kommt und daher vorübergeht. Und wer ein Fürchtegott ist, wie ich, ein Christian Fürchtegott Liebfreud, dem dämmert's schon inmitten des Tunnels. Hinterm Tunnel aber liegt der Park des Arbeiters. Und dahin geht mein erster Weg heute. Und wenn ich auch unter der Erde liege und ins Dunkel starre, so weiß ich doch, daß die Sonne aufgegangen ist. Denn wo anders konnte die Sonne auf gehn als in mir ...?

»Der Wecktrunk erwartet uns«, erklang B.H.s frische Stimme.

»Es ist nur ein Morgentrunk«, antwortete ich, »denn du siehst, ich habe standgehalten und brauche nicht geweckt zu werden.«

Ende des Ersten Teils


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