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20. Allein mit dem Tiervolk

Ich trat diesen Leuten – und zugleich mit ihnen meinem Schicksal – entgegen, einarmig, denn mein anderer Arm war ja gebrochen. In der Tasche hatte ich einen Revolver, den ich bereits zweimal abgefeuert hatte. Zwischen den Holzsplittern, die auf dem Strand verstreut waren, lagen die beiden Äxte, die man benutzt hatte, um die Boote zu zerschlagen. Hinter mir strömte langsam die Flut herein.

Nichts als Mut konnte mir helfen. Ich blickte den herankommenden Ungeheuern offen ins Gesicht. Sie mieden meine Augen, und ihre zitternden Nüstern witterten die Leichen, die hinter mir auf dem Strand lagen. Ich machte ein halbes Dutzend Schritte, hob die blutbefleckte Peitsche auf, die unter der Leiche des Wolfmenschen lag, und knallte damit.

Sie standen still und starrten mich an. »Grüßt«, sagte ich. »Beugt euch!«

Sie zögerten. Einer fiel in die Knie. Ich wiederholte meinen Befehl, das Herz schlug mir im Hals, und ging auf sie zu. Noch einer kniete nieder, und dann auch die beiden anderen.

Ich ging zu den Leichen, hielt aber das Gesicht den drei knienden Tiermenschen zugewandt, wie ein Schauspieler, der die Bühne hinaufgeht und dabei das Publikum ansieht.

»Sie haben das Gesetz gebrochen«, sagte ich und setzte den Fuß auf den Sprecher des Gesetzes. »Sie sind erschlagen worden. Selbst der Sprecher des Gesetzes. Selbst der andere mit der Peitsche. Groß ist das Gesetz! Kommt und seht.«

»Keiner entkommt!« sagte einer der Tiermenschen, trat vor und glotzte.

»Keiner entkommt«, wiederholte ich. »Also hört und tut, wie ich befehle.« Sie standen auf und blickten sich gegenseitig fragend an.

»Kommt her«, befahl ich.

Ich hob die Beile auf, drehte Montgomery um, nahm seinen Revolver, der noch mit zwei Patronen geladen war, beugte mich nieder, um die Taschen zu durchsuchen und fand noch ein halbes Dutzend Patronen.

»Nehmt ihn«, sagte ich, stand auf und deutete mit der Peitsche; »nehmt ihn, tragt ihn hinaus, und werft ihn ins Meer.«

Sie kamen heran, offenbar noch immer in Angst vor Montgomery, aber noch mehr in Angst vor meiner knallenden roten Peitsche, und nach einigem Zögern und Warten, einigem Peitschenknallen und Rufen hoben sie den Leichnam vorsichtig auf, trugen ihn zum Wasser hinunter und gingen platschend ins gleißende, wogende Meer. »Weiter«, sagte ich, »weiter – tragt ihn weit!«

Sie gingen bis zu ihren Achselhöhlen ins Wasser, standen dann still und sahen mich an. »Laßt ihn los«, sagte ich, und Montgomerys Leiche verschwand spritzend. Etwas in meiner Brust zog sich zusammen. »Gut!« sagte ich mit brüchiger Stimme, und sie kamen eilig und ängstlich zum Rand des Wassers zurück, lange schwarze Spuren im Silber zurücklassend. Am Strand blieben sie stehen, wandten sich um und starrten ins Meer, als erwarteten sie, daß Montgomery sich alsbald daraus erhebe und Rache fordere.

»Jetzt diese«, sagte ich und zeigte auf die anderen Leichen.

Sie hüteten sich, der Stelle nahe zu kommen, wo sie Montgomery ins Wasser geworfen hatten: statt dessen trugen sie die toten Tiermenschen vielleicht hundert Meter weit schräg über den Strand, ehe sie hinauswateten und sie versenkten.

Als ich zusah, wie sie M'lings zerfleischte Reste aufluden, hörte ich hinter mir einen leichten Schritt, wandte mich schnell um und sah das große Hyänenschwein vielleicht ein Dutzend Meter von mir entfernt. Es hielt den Kopf gesenkt, die funkelnden Augen auf mich gerichtet, die steifen Hände geballt und eng an seine Seiten gepreßt. Es blieb in seiner geduckten Haltung stehen, als ich mich umdrehte, und wandte die Augen ein wenig ab.

Einen Moment standen wir Aug' in Auge. Ich ließ die Peitsche fallen und griff nach der Pistole in meiner Tasche. Denn ich gedachte diese Bestie – die furchtbarste von allen, die jetzt noch auf der Insel waren – beim ersten Anlaß, der sich mir bot, zu töten. Es mag hinterhältig erscheinen, aber ich war dazu entschlossen. Ich hatte vor ihr viel mehr Angst als vor irgend welchen anderen vom Tiervolk. Ihr Leben, das wußte ich, war eine dauernde Bedrohung des meinen.

Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich mich gesammelt hatte. Dann rief ich: »Grüße! Beuge dich!«

Seine Zähne blitzten, und es knurrte mich an. »Wer bist du, daß ich ...«

Vielleicht ein wenig zu krampfhaft zog ich meinen Revolver, zielte und feuerte rasch. Ich hörte das Tier aufschreien, sah es zur Seite laufen und sich wenden; da wußte ich, daß ich gefehlt hatte, und zog den Hahn zum zweiten Schuß mit dem Daumen zurück. Aber das Ungeheuer lief schon Hals über Kopf hakenschlagend davon, und ich wollte keinen zweiten Fehlschuß riskieren. Hin und wieder blickte es sich über die Schulter nach mir um. Es lief den Strand entlang und verschwand unter den treibenden Massen dichten Rauchs, die noch aus der brennenden Ummauerung strömten. Eine Zeitlang stand ich da und starrte ihm nach. Ich wandte mich wieder meinen drei gehorsamen Tiermenschen zu und gab ihnen ein Zeichen, die Leiche fallen zu lassen, die sie noch trugen. Dann ging ich zu der Stelle neben dem Feuer zurück, wo die Leichen gelegen waren, und bewarf sie so lange mit Sand, bis die braunen Blutflecken aufgesogen und verborgen waren.

Ich entließ meine drei Diener mit einer Handbewegung und ging den Strand hinauf ins Dickicht. Den Revolver trug ich in der Hand, die Peitsche mit den Beilen in meine Armbinde gehängt. Ich wollte allein sein, um die Lage zu überdenken, in der ich mich jetzt befand.

Etwas Furchtbares, das mir erst klarzuwerden begann, war, daß es jetzt auf der ganzen Insel keinen sicheren Ort mehr gab, wo ich allein sein und mich ausruhen und schlafen konnte. Ich hatte mich seit meiner Landung wieder erstaunlich gut erholt, aber ich neigte noch zu Nervosität und dazu, unter jeder großen Anstrengung zusammenzubrechen. Ich fühlte, ich hätte über die Insel gehen und mich beim Tiervolk niederlassen sollen, um mir so dessen Vertrauen zu sichern. Aber mir versagte das Herz. Ich ging an den Strand zurück, wandte mich nach Osten und wanderte zu einer Landzunge, von der aus eine schmale Düne aus Korallensand zum Riff hinaus verlief. Dort konnte ich mich hinsetzen und nachdenken, den Rücken zum Meer. Hier konnte ich nicht überrascht werden, und hier saß ich, das Kinn auf den Knien, die Sonne brannte mir auf den Kopf, die Angst in meinem Geist wuchs, und ich überlegte, wie ich bis zur Stunde meiner Befreiung (wenn sie je anbrechen sollte) weiterleben könnte. Ich versuchte, die ganze Situation ruhig zu überblicken, aber es war unmöglich, die Sache ohne Aufregung zu betrachten.

Ich begann im Geist die Gründe von Montgomerys Verzweiflung Revue passieren zu lassen. »Sie werden sich ändern«, hatte er erklärt. »Sie werden sich sicher ändern.« Und Moreau – was hatte Moreau gesagt? »Das zähe Tierfleisch ist stärker, wächst allmählich wieder nach ...« Dann dachte ich wieder an das Hyänenschwein. Ich war überzeugt, daß die Bestie mich töten würde, wenn nicht ich sie tötete ... Der Sprecher des Gesetzes war tot – um so schlimmer! ... Sie wußten jetzt, daß wir mit den Peitschen erschlagen werden konnten, wie sie erschlagen wurden ...

Spähten sie schon aus den grünen Massen der Farne und Palmen da drüben zu mir her? Lauerten sie, bis ich ihnen über den Weg lief? Verschworen sie sich gegen mich? Was hatte ihnen das Hyänenschwein gesagt? Meine Phantasie vergaloppierte sich in einem Morast grundloser Befürchtungen.

Meine Gedankengänge wurden durch den Schrei von Meeresvögeln gestört, die auf einen schwarzen Gegenstand zuflogen, der in der Nähe der Ummauerung auf dem Sand gestrandet war. Ich wußte, was für ein Gegenstand es war, aber mir fehlte der Mut, zurückzugehen und die Vögel zu vertreiben. Ich begann in der entgegengesetzten Richtung den Strand entlangzugehen, um so zu der östlichen Ecke der Insel zu gelangen und mich der Schlucht mit den Hütten zu nähern, ohne mich den Gefahren des Dickichts auszusetzen.

Nachdem ich etwa eine halbe Meile am Strand zurückgelegt hatte, sah ich, daß einer meiner drei Tiermenschen aus den Büschen auf mich zukam. Ich war von meinen Einbildungen so nervös, daß ich sofort meinen Revolver zog. Selbst die versöhnlichsten Gesten des Geschöpfes konnten mich nicht beruhigen.

Es zögerte, als es sich näherte. »Geh weg«, rief ich. Die kriechende Haltung des Geschöpfes erinnerte sehr an einen Hund. Es zog sich ein wenig zurück, ganz wie ein Hund, den man nach Hause schickt, stand still und sah mich mit braunen Hundeaugen flehend an. »Geh weg«, wiederholte ich. »Komm mir nicht nahe.«

»Darf ich dir nicht nahe kommen?« fragte er.

»Nein. Geh weg«, beharrte ich und griff nach der Peitsche. Dann nahm ich die Peitsche zwischen die Zähne und bückte mich nach einem Stein, und damit vertrieb ich das Geschöpf.

So kam ich unbehelligt zur Schlucht des Tiervolks, versteckte mich zwischen dem Unkraut und dem Schilf, die diesen Spalt vom Meere trennten, und beobachtete die, welche erschienen. Ich versuchte, aus ihren Gesten und ihrer Erscheinung zu erkennen, wie Moreaus und Montgomerys Tod und die Zerstörung des Hauses des Schmerzes auf sie gewirkt hatte. Ich weiß jetzt, wie töricht meine Feigheit war. Wäre ich ebenso mutig gewesen wie am frühen Morgen, hätte ich Moreaus Zepter fassen und über das Tiervolk herrschen können. Aber ich versäumte die Gelegenheit und sank herab zur Stellung eines bloßen Führers unter meinesgleichen.

Gegen Mittag kamen einige Tiermenschen und hockten sich im Sand in die Sonne. Die gebieterischen Stimmen von Hunger und Durst siegten über meine Furcht. Ich kam aus den Büschen hervor und ging, den Revolver in der Hand, zu diesen sitzenden Gestalten hinunter. Eine, eine Wolfsfrau, wandte den Kopf und sah mich an; die anderen taten es ihr nach. Niemand versuchte aufzustehen und mich zu grüßen. Ich fühlte mich zu schwach und zu müde, um darauf zu bestehen, und ließ den Moment vorübergehen.

»Ich will etwas zu essen«, sagte ich beinahe entschuldigend, als ich näher kam.

»In den Hütten gibt es zu essen«, sagte ein Ochsenebermensch schläfrig und wandte seinen Blick von mir.

Ich ging an ihnen vorbei und in den Schatten der fast verlassenen Schlucht hinunter. Der widerliche Geruch schlug mir entgegen. In einer leeren Hütte aß ich einige Früchte, nachdem ich ein paar halbvermoderte Zweige und Ruten vor den Eingang gelehnt und mich mit dem Gesicht diesem zugewendet hatte; ich behielt den Revolver in der Hand, und da die Erschöpfung der letzten dreißig Stunden mich übermannte, überließ ich mich einem leichten Schlummer, denn ich vertraute darauf, daß die lockere Barrikade, die ich errichtet hatte, sofort zusammenbrechen und genug Geräusch verursachen würde, um mich vor einer Überrumpelung zu schützen.


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