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15. Über das Tiervolk

Ich wachte früh auf. Moreaus Erklärung stand vom Moment meines Erwachens an klar und deutlich vor meinem Geist. Ich stieg aus der Hängematte und ging zur Tür, um mich zu vergewissern, daß der Schlüssel umgedreht war. Dann untersuchte ich das Fenstergitter und fand es fest eingefügt. Daß diese menschenartigen Geschöpfe in Wirklichkeit nur tierische Ungeheuer, bloße groteske Parodien auf Menschen waren, erfüllte mich mit einer vagen Ungewißheit über ihre Möglichkeiten, die viel schlimmer war als eindeutige Furcht. Es klopfte an der Tür, und ich hörte M'lings gedehnte, fast klebrige Art zu sprechen. Ich steckte einen der Revolver in die Tasche, hielt die Hand darauf und öffnete ihm.

»Guten Morgen, Häer«, sagte er, während er außer dem gewohnten Gemüsefrühstück noch ein schlecht gekochtes Kaninchen hereinbrachte. Montgomery folgte ihm. Als er sich umsah und die Haltung meines Arms erblickte, verzog er den Mund zu einem schiefen Lächeln.

Der Puma wurde an diesem Tag nicht »behandelt«, er sollte heilen; aber Moreau, der sehr eigenbrötlerische Gewohnheiten hatte, kam nicht zu uns. Ich sprach mit Montgomery, um klarere Vorstellungen über die Art zu bekommen, wie das Tiervolk lebte. Besonders war ich begierig, zu erfahren, wie Moreau und Montgomery die unmenschlichen Ungeheuer davon abhielten, über sie herzufallen, und auch davon, sich gegenseitig zu zerreißen.

Er erklärte mir, seine und Moreaus relative Sicherheit beruhte auf der Begrenztheit des geistigen Gesichtskreises dieser Ungeheuer. Trotz ihrer verstärkten Intelligenz und trotz des allmählichen Wiedererwachens ihrer tierischen Instinkte, hatten sie gewisse fixe Ideen, die Moreau ihrem Geist eingepflanzt hatte, und die ihre Vorstellungen absolut einschränkten. Sie wurden regelrecht hypnotisiert, und ihnen wurde gesagt, gewisse Dinge seien unmöglich, und gewisse Dinge dürften nicht getan werden, und diese Verbote waren so in ihre geistige Struktur verwoben, daß sie praktisch jenseits von jeder Möglichkeit des Ungehorsams oder Streites standen. In gewissen Dingen jedoch, in denen der alte Instinkt mit Moreaus Befehlen kämpfte, waren sie weniger stabil. Eine Reihe von Vorschriften, die »das Gesetz« hieß – ich hatte sie ja bereits gehört – rang in ihren Geistern mit den tiefeingewurzelten, stets rebellischen Forderungen ihrer tierischen Natur. Dieses Gesetz, erfuhr ich, wiederholten und – brachen sie immer. Montgomery und Moreau waren besonders darauf bedacht, sie davon abzuhalten, Blut zu kosten und auf den Geschmack zu kommen. Dies, so fürchteten sie, würde verheerende Folgen haben.

Montgomery sagte mir, das Gesetz erfahre, besonders unter den katzenartigen Tiermenschen, mit Einbruch der Nacht eine merkwürdige Schwächung; dann sei das Tier am stärksten; mit der Dämmerung entstünde ein Abenteuergeist in ihnen; sie wagten Dinge, von denen sie am Tage nie zu träumen schienen. Dies erklärte auch, wieso der Leopardenmensch mir am Abend meiner Ankunft nachgeschlichen war. Aber während dieser ersten Tage meines Aufenthalts brachen die Tiermenschen das Gesetz nur verstohlen; am Tage achteten sie durchaus die mannigfaltigen Verbote.

Und hier sollte ich vielleicht ein paar allgemeine Tatsachen über die Insel und das Tiervolk einfügen. Die Insel hatte unregelmäßige Umrisse, lag niedrig über dem weiten Meer und war insgesamt etwa sieben oder acht Quadratmeilen groß. Diese Schilderung trifft in jeder Hinsicht auf Noble's Isle zu. – C. E. P. Sie war vulkanischen Ursprungs und auf drei Seiten von Korallenriffen umsäumt. Einige Fumarolen im Norden und eine heiße Quelle waren die einzigen Spuren der Kräfte, die sie vor langer Zeit geschaffen hatten. Hin und wieder war das leichte Zittern eines Erdbebens zu merken, und zuweilen wurde die Rauchsäule durch Dampfstrahlen in drehende Bewegung versetzt. Aber das war alles. Die Bevölkerung der Insel, sagte mir Montgomery, zählte jetzt mehr als sechzig dieser seltsamen Geschöpfe von Moreaus Kunst, die kleineren Monstrositäten, die im Unterholz lebten und nicht von menschlicher Gestalt waren, nicht mitgerechnet. Im ganzen hatte er etwa hundertundzwanzig gemacht, aber viele waren gestorben; und andere waren wie das sich windende, fußlose Wesen, von dem Moreau mir erzählt hatte, gewaltsam umgekommen. Als Antwort auf meine Frage sagte Montgomery, die Tiermenschen hätten tatsächlich Nachkommenschaft, doch sterbe sie meist. Es gab kein Beispiel für die Vererbung der erworbenen menschlichen Charakteristika. Wenn sie am Leben blieben, holte Moreau sie und prägte ihnen menschliche Form auf. Die weiblichen Wesen waren weniger zahlreich als die männlichen und hatten, trotz der vom Gesetz eingeschärften Monogamie, viel unter heimlicher Verfolgung zu leiden.

Es wäre mir unmöglich, diese Tiermenschen im einzelnen zu beschreiben – mein Auge ist auf Einzelheiten nicht trainiert – und unglücklicherweise kann ich nicht zeichnen. Am auffallendsten war vielleicht das Mißverhältnis zwischen den Beinen dieser Geschöpfe und der Länge ihres Rumpfes; und doch – so relativ sind unsere Begriffe von Schönheit – gewöhnte mein Auge sich an ihre Formen, und schließlich stimmte ich ihrer Überzeugung bei, daß meine eigenen langen Schenkel plump seien. Ein weiterer Punkt war die Neigung des Kopfes und die plumpe und unmenschliche Krümmung der Wirbelsäule. Selbst dem Affenmenschen fehlte jene Innenkurve des Rückens, die die menschliche Gestalt so anmutig macht. Die meisten hatten krumme Schultern, und ihre kurzen, schwächlichen Vorderarme hingen an der Seite herab. Nur wenige waren auffallend behaart – wenigstens bis zum Schluß meines Aufenthalts auf der Insel.

Bemerkenswert unförmig waren ihre Gesichter, die fast alle vorstehende Backenknochen hatten, um die Ohren herum mißgestaltet waren und große und vorragende Nasen zeigten; das Haar war sehr pelzig oder sehr borstig, und die Augen waren oft seltsam gefärbt oder seltsam stechend. Keiner konnte lachen, obgleich der Affenmensch ein schnatterndes Kichern hören ließ. Außer diesen allgemeinen Zeichen hatten ihre Köpfe wenig gemeinsam; jeder bewahrte die Art seiner besonderen Spezies; das Menschliche verzerrte, aber verbarg nicht den Leoparden, Ochsen, die Sau oder das andere Tier oder die Tiere, aus denen das Geschöpf gebildet worden war. Auch die Stimmen waren sehr verschieden. Die Hände waren stets schlecht geformt; und obgleich mich einige durch ihre unerwartete Ähnlichkeit mit Menschenhänden überraschten, hatten fast alle zu wenige oder zu viele Finger, waren an den Nägeln plump und ohne Tastempfindlichkeit.

Die beiden furchtbarsten Tiermenschen waren mein Leopardenmensch und ein Geschöpf, das aus einer Hyäne und einem Schwein gemacht war. Größer als diese waren die drei Stiermenschen, die das Boot ruderten. Dann kamen der Silberhaarmensch, der zugleich Sprecher des Gesetzes war, M'ling und ein satyrartiges Geschöpf aus Affe und Ziege. Ferner gab es noch drei Schweinemänner und eine Schweinefrau, ein Rhinozerosstutengeschöpf und mehrere andere Weibchen, deren Herkunft ich nicht feststellen konnte. Mehrere waren Wolfwesen, eines ein Bär-Bulle, einer ein Bernhardinerhundmensch. Den Affenmenschen habe ich schon geschildert, und dann war da eine besonders abscheuliche (und übelriechende) Frau, die aus Füchsin und Bärin gemacht war, und die ich von Anfang an haßte. Sie war angeblich eine leidenschaftliche Priesterin des Gesetzes. Zu den kleineren Geschöpfen zählten gewisse fleckige Junge und mein kleines Faultierwesen. Aber genug davon!

Erst empfand ich entsetzliches Grauen vor diesen Tieren; ich fühlte allzu deutlich, daß sie noch Tiere waren; aber unmerklich gewöhnte ich mich an sie, und obendrein rührte mich Montgomerys Haltung ihnen gegenüber. Er war so lange mit ihnen zusammengewesen, daß er sie nun fast als normale menschliche Wesen ansah – seine Londoner Tage erschienen ihm nur noch als glorreiche, aber unwiederbringliche Vergangenheit. Nur einmal im Jahre oder so fuhr er nach Arica, um mit Moreaus Agenten, einem Tierhändler, zu verhandeln. Er traf in dieser Ansiedlung spanischer Mischlinge wohl kaum auf den schönsten Typus von Menschen. Die Leute auf dem Schiff, sagte er mir, wären ihm zuerst genauso fremdartig erschienen wie mir die Tiermenschen – unnatürlich langbeinig, flachgesichtig, mit fliehenden Stirnen, argwöhnisch, gefährlich und kaltherzig. Kurz, er mochte keine Menschen. Mir gegenüber, meinte er, sei ihm das Herz warm geworden, weil er mir das Leben gerettet hatte.

Es kam mir vor, als hege er eine heimliche Zärtlichkeit für einige dieser verwandelten Tiere, eine perverse Sympathie, die er aber zunächst vor mir zu verschleiern versuchte.

Der Mann mit dem schwarzen Gesicht, sein Diener M'ling, der erste vom Tiervolk, der mir begegnet war, lebte nicht bei den anderen, sondern in einer kleinen Hundehütte an der Hinterseite der Ummauerung. Das Geschöpf war kaum so intelligent wie der Affenmensch, aber viel folgsamer, und es sah vom ganzen Tiervolk am menschlichsten aus. Montgomery hatte ihn abgerichtet, Nahrung zuzubereiten, und überhaupt alle kleinen häuslichen Dienste zu verrichten, die nötig waren. Er war ein kompliziertes Ergebnis von Moreaus furchtbarer Geschicklichkeit – ein Bär, der mit Hund und Ochs vermischt war, und eines seiner am sorgfältigsten hergestellten Geschöpfe. Er behandelte Montgomery mit seltsamer Zärtlichkeit und Hingabe; bisweilen beachtete Montgomery das, klopfte ihm auf die Schulter, rief ihn mit halb spöttischen, halb scherzhaften Namen, so daß er vor Vergnügen sprang; bisweilen mißhandelte er ihn, besonders, wenn er sich an den Whisky herangemacht hatte, stieß ihn, schlug ihn, bewarf ihn mit Steinen oder brennendem Zunder. Aber, ob er ihn gut oder schlecht behandelte, M'ling liebte nichts so sehr, wie seinem Herrn nahe zu sein.

Ich sage, ich gewöhnte mich an das Tiervolk, und tausend Dinge, die mir unnatürlich und abstoßend erschienen waren, wurden mir natürlich und alltäglich. Ich glaube, alles im Leben erhält seine Farbe von der Durchschnittsfärbung unserer Umgebung: Montgomery und Moreau waren zu eigenartig und individuell, als daß ich meine allgemeinen Eindrücke von der Menschheit scharf umrissen bewahren hätte können. Ich sah wohl eines der plumpen Stiergeschöpfe, die im Boot gearbeitet hatten, schwerfällig durch das Gebüsch gehen, und ertappte mich, daß ich mich fragte und mich zu entsinnen bemühte, worin es sich von einem wirklich menschlichen Bauerntölpel unterschied, der von seiner stumpfsinnigen Arbeit nach Hause trabte; oder ich sah das verschlagene wölfische Gesicht der Füchsin-Bärin-Frau, das in seiner Listigkeit seltsam menschlich war, und meinte gar, ich hätte es schon in irgendeiner Stadtgasse gesehen.

Und doch erkannte ich hin und wieder unzweifelhaft und unbestreitbar das Tier in diesen Geschöpfen. Ein häßlicher Mann, ein buckliger, menschlicher Wilder, der im Eingang einer der Höhlen hockte, streckte die Arme aus und gähnte und zeigte mit erschreckender Plötzlichkeit scherenrandige Schneidezähne und säbelartige Eckzähne, scharf und glänzend wie Messer. Oder wenn ich auf einem schmalen Weg mit vorübergehender Verwegenheit einer geschmeidigen, weißumwickelten Frauengestalt ins Auge blickte, sah ich plötzlich (mit einem Anfall von Widerwillen), daß sie eine schlitzartige Pupille hatte, oder mir fiel, wenn ich niederblickte, der krumme Fingernagel auf, mit dem sie ihre Hülle zusammenhielt. Es ist übrigens merkwürdig, und ich kann es absolut nicht erklären, daß diese unheimlichen Geschöpfe, die Weibchen, meine ich, in den ersten Tagen meines Aufenthalts ihre abstoßende Plumpheit instinktiv fühlten und infolgedessen eine mehr als menschliche Rücksicht auf den Anstand und das Dekorum entfalteten.


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