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5. Der Mann, der nicht wußte, wohin gehen

Am frühen Morgen – es war der zweite Morgen, nachdem ich mich erholt hatte, und, so glaube ich, der vierte, seit ich aufgefischt war – erwachte ich aus einem Wirbel aufregender Träume, Träume von Kanonen und heulendem Pöbel, und ich hörte heiseres Rufen über mir. Ich rieb mir die Augen und lauschte auf den Lärm, ohne zunächst zu wissen, wo ich war. Dann vernahm ich das Trappeln nackter Füße, den Lärm schwerer Gegenstände, die umhergeworfen wurden, und ein heftiges Kreischen und Rasseln von Ketten; hierauf das Geräusch des Wassers, als das Schiff plötzlich gewendet wurde. Eine schäumende gelbgrüne Welle schlug an dem kleinen runden Fenster vorbei. Ich schlüpfte eilig in meine Kleider und ging an Deck.

Als ich die Leiter heraufkam, sah ich gegen den rötlichen Himmel – denn die Sonne ging gerade auf – den breiten Rücken und das rote Haar des Kapitäns, und über seiner Schulter den Puma, der an einem Flaschenzug baumelte, welcher am Giekbaum des Besanmastes hing. Das arme Tier schien furchtbare Ängste auszustehen und kauerte am Boden seines kleinen Käfigs. »Über Bord damit!« schrie der Kapitän. »Über Bord damit! Wir wollen das Schiff bald von dem ganzen Unrat sauber haben.«

Er stand mir im Weg, so daß ich ihn notwendigerweise berühren mußte, um an Deck zu kommen. Er drehte sich erschrocken um und stolperte ein paar Schritte zurück, um mich anzustarren. »Hallo!« sagte er stumpfsinnig, und dann begannen seine Augen zu funkeln: »Ah, das ist Mister – Mister–?«

»Prendick«, sagte ich.

»Prendick, zum Henker!« sagte er. »Hören-Sie-auf – heißen Sie, Mister Hören-Sie-auf!«

Es lohnte nicht, dem Grobian zu antworten. Aber was er dann tat, hatte ich sicherlich nicht erwartet. Er streckte die Hand zum Fallreep, wo Montgomery mit einem untersetzten, weißhaarigen Mann in schmutzigem blauem Flanell stand, der offenbar gerade an Bord gekommen war. »Da hinaus, Mister verdammter Hören-Sie-auf. Da hinaus«, brüllte der Kapitän.

Montgomery und sein Gefährte drehten sich um, während er schrie.

»Was meinen Sie?« fragte ich.

»Da hinaus, Mister verdammter Hören-Sie-auf – das meine ich. Über Bord, Mister Hören-Sie-auf – und flott. Wir machen das Schiff klar, machen das ganze Satansschiff sauber. Und über Bord gehen Sie.«

Ich starrte ihn verblüfft an. Dann fiel mir ein, daß es genau das war, was ich wollte. Die Aussicht auf eine Reise als einziger Passagier mit diesem zanksüchtigen Trinker war alles andere als verlockend. Ich wandte mich zu Montgomery.

»Kann Sie nicht aufnehmen!« sagte Montgomerys Gefährte kurzangebunden.

»Sie können mich nicht aufnehmen!« stammelte ich erschrocken. Er hatte das vierschrötigste und entschlossenste Gesicht, das ich je erblickt hatte.

»Sehen Sie«, begann ich, indem ich mich zum Kapitän wandte.

»Über Bord«, sagte der Kapitän. »Dieses Schiff ist nicht länger für Tiere und Kannibalen und Schlimmeres als Tiere. Über Bord gehen Sie, Mr. Hören-Sie-auf. Wenn die Sie nicht haben wollen, dann saufen Sie eben ab. Aber gehen tun Sie! Mit Ihren Freunden. Ich bin mit dieser Satansinsel für alle Ewigkeit fertig, Amen! Ich hab' genug davon.«

»Aber Montgomery«, wandte ich mich um.

Er biß sich auf die Unterlippe und wies hoffnungslos mit dem Kopf auf den grauhaarigen Mann neben sich, um seine Ohnmacht anzudeuten.

»Für Sie werde ich gleich sorgen«, sagte der Kapitän.

Dann begann ein merkwürdiger Streit im Dreieck. Abwechselnd wandte ich mich vom einen zum andern der drei Leute, erst an den Grauhaarigen, er solle mich an Land lassen, und dann an den Kapitän, er solle mich an Bord behalten. Ich schrie selbst den Matrosen Bitten zu. Montgomery sagte kein Wort; er schüttelte nur den Kopf. »Sie gehen über Bord, sage ich Ihnen«, war der Refrain des Kapitäns ... »Zum Henker mit dem Gesetz! Hier bin ich König.«

Schließlich, muß ich gestehen, brach mir die Stimme mitten in einem furchtbaren Fluch. Ein Anfall hysterischen Eigensinns schüttelte mich und ich ging nach hinten, wo ich finster ins Nichts starrte.

Inzwischen kamen die Matrosen mit der Arbeit des Ausschiffens von Gepäck und Käfigen schnell vorwärts. Ein großes Langboot lag an der Leeseite des Schoners, und dahinein wurde die merkwürdige Sammlung von Gütern geschwungen. Noch sah ich die Hilfskräfte von der Insel, die das Gepäck in Empfang nahmen, nicht, denn der Rumpf des Bootes war mir durch den Schiffsbauch verborgen.

Weder Montgomery noch sein Gefährte nahmen die geringste Notiz von mir, sondern sie halfen den vier oder fünf Matrosen, die Güter zu löschen und gaben Anweisungen. Der Kapitän ging nach vorn und störte mehr, als daß er half. Ich war abwechselnd verzweifelt und zu allem entschlossen. Ein- oder zweimal konnte ich, als ich so dastand und wartete, dem Impuls nicht widerstehen, über meine elende Schwierigkeit zu lachen. Ich fühlte mich um so elender, als ich kein Frühstück gegessen hatte. Hunger und Mangel an Blutkörperchen nehmen einem Mann alle Mannheit. Ich merkte ziemlich klar, daß ich nicht Kraft genug hatte, weder um mich zu widersetzen, wenn der Kapitän mich wirklich vertreiben wollte, noch um mich Montgomery und seinem Gefährten aufzudrängen. So wartete ich passiv auf das Schicksal, und die Arbeit des Ausladens von Montgomerys Besitz in das Boot ging weiter, wie wenn ich nicht vorhanden gewesen wäre.

Dann war man damit fertig, und ich wurde gegen meinen – allerdings nur schwachen – Widerstand zum Fallreep geschleppt. Selbst da noch bemerkte ich die Seltsamkeit der braunen Gesichter der Leute, die bei Montgomery im Boot waren. Aber das Boot war jetzt vollgeladen und wurde eilig abgestoßen. Ein breiter werdender Spalt grünen Wassers erschien unter mir, und ich drängte mit aller Kraft rückwärts, um nicht kopfüber hinunterzustürzen.

Die Leute im Boot stießen spöttische Rufe aus, und ich hörte Montgomery auf sie fluchen. Und dann schob der Kapitän mich mit Hilfe des Maats und eines der Matrosen nach hinten zum Heck. Dort war das Rettungsboot der Lady Vain angebunden; es war voll Wasser, hatte keine Ruder und war ganz ohne Vorräte. Ich weigerte mich, hinunterzusteigen, und warf mich in meiner ganzen Länge aufs Deck. Schließlich schwangen sie mich an einem Strick hinunter – denn sie hatten keine Leiter – und schnitten mich los.

Ich trieb langsam vom Schoner weg. Wie gelähmt beobachtete ich, wie sich alle Hände an die Takelage legten, und langsam aber sicher drehte sich das Schiff in den Wind. Die Segel flatterten und bauchten sich dann auf, als der Wind hineinfaßte. Ich starrte die verwitterten Planken an, die sich steil über mich neigten. Und dann zog der Schoner aus meinem Gesichtskreis fort.

Ich wandte nicht einmal den Kopf, um ihm zu folgen. Erst konnte ich kaum glauben, was geschehen war. Ich kauerte mich am Boden des Bootes hin und starrte betäubt und leer auf das öde und ölige Meer. Dann wurde mir klar, daß ich wieder in dieser meiner jetzt halb unter Wasser stehenden kleinen Hölle war. Als ich über Bord zurückblickte, sah ich, wie der rothaarige Kapitän mich von Backbord aus verhöhnte; und als ich mich zur Insel wandte, sah ich, daß sich das Langboot bereits dem Ufer näherte.

Plötzlich wurde mir die Grausamkeit dieser Aussetzung klar. Ich hatte keine Möglichkeit, das Land zu erreichen, wenn ich nicht etwa antrieb. Man muß bedenken, daß ich noch schwach war von der Zeit im Boot; ich war leer und matt, sonst hätte ich mehr Mut gehabt. Nun aber begann ich plötzlich zu schluchzen und zu weinen, wie ich es nicht mehr getan hatte, seit ich ein kleines Kind war. Mir liefen die Tränen das Gesicht herunter. In leidenschaftlicher Verzweiflung schlug ich mit den Fäusten auf das Wasser im Boot und stieß wild gegen den Bordrand. Ich betete laut zu Gott, er möge mich sterben lassen.


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