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7. Die verschlossene Tür

Der Leser wird vielleicht verstehen, daß ich zunächst nicht erkannte, wie seltsam dies und jenes in meiner Umgebung war, da ich selbst so viel Merkwürdiges erlebt hatte und meine Lage das Ergebnis so unerwarteter Abenteuer war. Ich folgte dem Lama den Strand hinauf, und Montgomery kam mir nach und bat mich, nicht die Steinumfriedung zu betreten. Ich bemerkte nun, daß der Puma in seinem Käfig und die Pakete außerhalb des Eingangs zu diesem Viereck abgesetzt worden waren.

Ich wandte mich und sah, daß das Langboot jetzt leer war, und wieder hinausgestoßen und dann auf den Strand gezogen wurde; der weißhaarige Mann kam auf uns zu. Er redete Montgomery an.

»Und jetzt kommt das Problem: der ungeladene Gast. Was wollen wir mit ihm anfangen?«

»Er versteht etwas von der Naturwissenschaft«, sagte Montgomery.

»Mich juckt's, wieder an die Arbeit zu gehen – mit diesem neuen Zeug«, sagte der grauhaarige Mann und nickte zur Steinmauer hin. Seine Augen leuchteten auf.

»Das kann ich mir denken«, erklärte Montgomery in einem Tone, der alles eher war als herzlich.

»Wir können ihn nicht da hinüberschicken, und wir haben nicht die Zeit, eine neue Hütte zu bauen. Und auf keinen Fall können wir ihn jetzt schon ins Vertrauen ziehen.«

»Ich bin in Ihrer Hand«, sagte ich. Ich hatte keine Ahnung, was er mit »da hinüber« meinte.

»Ich habe an das gleiche gedacht«, antwortete Montgomery. »Wir hätten mein Zimmer mit der Tür nach außen ...«

»Natürlich«, sagte der ältere Mann sofort, sah Montgomery an, und wir alle gingen auf die Ummauerung zu. »Es tut mir leid, daß ich Geheimnisse machen muß, Mr. Prendick – aber Sie müssen bedenken, daß Sie ungeladen kamen. Unsere kleine Niederlassung enthält ein Geheimnis, eine Art Blaubarts-Zimmer. Eigentlich nichts sehr Furchtbares – für einen vernünftigen Mann. Aber momentan – wir kennen Sie nicht ...«

»Selbstverständlich«, sagte ich; »ich wäre ein Narr, wollte ich an einem Mangel an Vertrauen Anstoß nehmen.«

Er verzog seinen schweren Mund zu einem schwachen Lächeln – er gehörte zu jenen trägen Menschen, die mit niedergezogenen Mundwinkeln lächeln – und verbeugte sich. Am Haupteingang zur Ummauerung gingen wir vorüber; ein schweres Holztor in eisernem Rahmen, das verschlossen war; die Ladung des Langboots lag davor aufgehäuft; und an der Ecke befand sich eine kleine Tür, die ich vorher nicht bemerkt hatte. Der grauhaarige Mann zog einen Schlüsselbund aus der Tasche seines schmierigen blauen Jacketts, öffnete diese Tür und trat ein. Die vielen Schlüssel und die Tatsache, daß er alles sorgfältig abschloß, obwohl er es ständig überwachen konnte, wirkten eigentümlich.

Ich folgte ihm und betrat ein kleines, einfach, aber nicht unbehaglich eingerichtetes Zimmer, dessen innere Tür, die leicht angelehnt war, auf einen gepflasterten Hof führte. Diese innere Tür schloß Montgomery sofort. Eine Hängematte hing quer über dem dunkleren Winkel des Zimmers, und ein kleines vergittertes Fenster ohne Glas öffnete sich zum Meer hinunter.

Dies, sagte mir der Grauhaarige, sollte mein Zimmer sein, und die innere Tür, die er, wie er sagte, »aus Furcht vor Unfällen« von der anderen Seite verschließen werde, sei meine Grenze nach innen. Er machte mich auf einen bequemen Schiffsstuhl vor dem Fenster aufmerksam, und auf eine Reihe von Büchern – hauptsächlich, wie ich fand, chirurgischen Werken und Ausgaben der griechischen und lateinischen Klassiker, die ich nicht ohne Schwierigkeiten lesen kann – auf einem Bücherbrett bei der Hängematte. Er verließ das Zimmer durch die äußere Tür, als wolle er vermeiden, die innere noch einmal zu öffnen.

»Wir nehmen hier in der Regel unsere Mahlzeiten ein«, sagte Montgomery, und dann ging er dem anderen nach. »Moreau«, hörte ich ihn rufen, und für den Moment, glaube ich, achtete ich nicht darauf. Als ich dann die Bücher von dem Brett in die Hand nahm, kam es mir plötzlich zu Bewußtsein: wo hatte ich den Namen Moreau schon gehört?

Ich setzte mich vor das Fenster, nahm die Zwiebackschnitten heraus, die mir noch blieben, und aß sie mit ausgezeichnetem Appetit. »Moreau?«

Durchs Fenster sah ich einen dieser merkwürdigen Leute in Weiß eine Kiste den Strand entlang ziehen. Dann verbarg ihn der Fensterrahmen. Hinter mir hörte ich bald darauf, wie jemand einen Schlüssel ins Schloß steckte und drehte. Nach einer weiteren kleinen Weile hörte ich durch die verschlossene Tür den Lärm der Hetzhunde, die vom Strand heraufgebracht worden waren. Sie bellten nicht, aber sie schnüffelten und knurrten sonderbar. Ich konnte das rasche Trippeln ihrer Füße hören und Montgomery, der sie beruhigte.

Die strikte Geheimhaltung, mit der diese beiden Männer das Gebäude umgaben, machte mir tiefen Eindruck, und eine Zeitlang dachte ich darüber und über die mir unerklärliche Vertrautheit des Namens Moreau nach. Aber so merkwürdig ist das menschliche Gedächtnis, daß ich diesen wohlbekannten Namen nicht in seinen rechten Zusammenhang einfügen konnte. Meine Gedanken wanderten zu der undefinierbaren Wunderlichkeit des ungestalten und weißbandagierten Mannes am Strande. Ich hatte noch nie einen solchen Gang, so sonderbare Bewegungen gesehen. Ich entsann mich, daß keiner von diesen Leuten mit mir gesprochen hatte, obgleich ich die meisten dabei ertappt hatte, wie sie mich von Zeit zu Zeit merkwürdig verstohlen anblickten, ganz anders als die unverdorbenen Wilden, die einen offenen Blick haben. Ich fragte mich, welche Sprache sie redeten. Sie hatten alle einen außerordentlich schweigsamen Eindruck gemacht, und wenn sie sprachen, klangen ihre Stimmen unsicher. Was war mit ihnen nicht in Ordnung? Dann fielen mir wieder die Augen von Montgomerys häßlichem Diener ein.

Gerade als ich an ihn dachte, kam er herein. Er war jetzt in Weiß gekleidet und trug ein kleines Teebrett mit etwas Kaffee und gekochtem Gemüse darauf. Ich konnte kaum einen Schauder des Widerwillens unterdrücken, als er sich liebenswürdig verbeugte und das Teebrett vor mir auf den Tisch stellte.

Dann war ich plötzlich starr vor Staunen. Unter dem strähnigen schwarzen Haar lugten spitze Ohren hervor, die mit feinem braunem Pelz bedeckt waren!

»Ihr Frühstück, Häer«, sagte er. Ich starrte ihm ins Gesicht, ohne eine Antwort zu versuchen. Er drehte sich um und ging zur Tür, während er mich sonderbar über die Schulter hinweg ansah.

Ich folgte ihm mit den Augen, und dabei stieg mir durch einen Trick unbewußter Gehirntätigkeit die Wortfolge in den Kopf: »Die Moreau – Gräber ...« Wie? »Die Moreau –?« Ah, mein Gedächtnis schweifte um zehn Jahre zurück. Die »Moreau-Greuel«. Die Worte trieben einen Moment zusammenhanglos in meinem Geist, und dann sah ich sie in roten Lettern auf einer lederfarbenen Broschüre, deren Lektüre einst so manchem Schauder über den Rücken gejagt hatte. Und dann fiel mir alles deutlich ein. Die längst vergessene Broschüre trat mir mit erschreckender Lebhaftigkeit wieder vor den Geist. Ich war noch ein Junge gewesen damals, und Moreau, glaube ich, etwa fünfzig; ein bedeutender und eigenwilliger Physiologe, in wissenschaftlichen Kreisen bekannt wegen seiner außerordentlichen Phantasie und brutalen Direktheit in der Diskussion. War dies derselbe Moreau? Er hatte einige sehr erstaunliche Tatsachen über Blutaustausch veröffentlicht, und er war bekannt durch wertvolle Arbeiten über krankhaftes Wachstum. Dann brach seine Karriere plötzlich ab. Er mußte England verlassen. Ein Journalist mit der vorsätzlichen Absicht, sensationelle Enthüllungen zu machen, verschaffte sich Zutritt zu seinem Laboratorium; durch einen scheußlichen Zufall – wenn es ein Zufall war – wurde seine gruslige Broschüre bekannt. Am Tage ihrer Veröffentlichung entkam ein elender Hund, dem die Haut abgezogen, und der auch sonst verstümmelt war, aus Dr. Moreaus Haus.

Es war in der Sauregurkenzeit, und ein prominenter Redakteur, ein Vetter des erwähnten Journalisten, appellierte an das Gewissen der Nation. Nicht zum erstenmal wandte sich das Gewissen gegen die Methoden der Forschung. Der Doktor wurde einfach aus dem Lande gebrüllt. Vielleicht hatte er's verdient, aber ich meine noch immer, die nur laue Unterstützung seiner Mitforscher und der Verrat der großen Masse der Wissenschaftler waren eine schmähliche Sache. Doch waren einige seiner Experimente nach dem Bericht des Journalisten leichtfertig und grausam gewesen. Er hätte vielleicht seinen sozialen Frieden erkaufen können, wenn er seine Untersuchungen aufgegeben hätte, aber offenbar waren sie ihm lieber, wie sie es wohl den meisten Menschen wären, die einmal dem überwältigenden Zauber der Forschung erlegen sind. Und er war unverheiratet und hatte daher nichts als seine eigenen Interessen zu berücksichtigen.

Ich war überzeugt, daß dies derselbe Mann war. Alles wies darauf hin. Mir dämmerte auf, zu welchem Zweck der Puma und die anderen Tiere, die sich jetzt mit dem Gepäck in der Ummauerung hinter dem Hause befanden, bestimmt waren; und ein seltsamer, schwacher Geruch, der Duft von etwas Vertrautem, ein Geruch, der mir bisher nur undeutlich bewußt gewesen war, trat plötzlich in die vorderste Reihe meiner Gedanken. Es war der antiseptische Geruch des Operationszimmers. Ich hörte den Puma durch die Mauer hindurch knurren, und einer der Hunde schrie auf, als würde er geschlagen.

Und doch wieder lag – und besonders für einen Wissenschaftler – in der Vivisektion nichts so Furchtbares, das diese Heimlichkeit erklärt hätte. Und plötzlich fielen mir die spitzen Ohren und leuchtenden Augen bei Montgomerys Begleiter wieder ein. Ich starrte hinaus aufs grüne Meer, das unter einer auffrischenden Brise schäumte, und ließ diese und andere seltsame Erinnerungen der letzten paar Tage an mir vorbeiziehen.

Was sollte das alles bedeuten? Eine verschlossene Ummauerung auf einer einsamen Insel, ein bekannter Wissenschaftler, der Vivisektionen durchführte, und diese verkrüppelten und verrenkten Menschen?


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