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10. Der Schrei des Menschen

Als ich mich dem Hause näherte, sah ich, daß das Licht aus der offenen Tür meines Zimmers drang; und dann hörte ich aus dem Dunkel neben dem gelben Viereck Montgomery rufen: »Prendick.«

Ich lief weiter. Gleich darauf hörte ich ihn wieder. Ich antwortete mit einem schwachen »Hallo!« und im nächsten Moment war ich bis zu ihm hingestolpert.

»Wo sind Sie gewesen?« fragte er und hielt mich in Armeslänge von sich weg, so daß mir das Licht aufs Gesicht fiel. »Wir haben beide so viel zu tun gehabt, daß wir Sie bis vor einer halben Stunde vergessen hatten.«

Er führte mich ins Zimmer und setzte mich in den Schiffsstuhl. Eine Zeitlang war ich vom Licht geblendet. »Wir dachten nicht, daß Sie sich aufmachen würden, um unsere Insel zu erforschen, ohne daß Sie es uns sagen«, meinte er. Und dann: »Ich hatte Angst! Aber ... was ... Hallo!«

Denn meine letzte Kraft wich von mir, und mir fiel der Kopf vorn auf die Brust. Ich glaube, er empfand eine gewisse Befriedigung, als er mir Brandy gab: »Um Gottes willen«, sagte ich, »machen Sie die Tür zu.«

»Sie sind ein paar von unseren Kuriositäten begegnet, eh?« fragte er. Er verschloß die Tür und wandte sich mir wieder zu. Er stellte mir keine Fragen, aber er gab mir noch etwas Brandy mit Wasser und drängte mich, zu essen. Ich war am Rande des Zusammenbruchs. Montgomery erklärte vage, er habe vergessen, mich zu warnen, und fragte mich kurz, wann ich das Haus verlassen und was ich gesehen hätte. Ich antwortete ihm ebenso kurz in fragmentarischen Sätzen. »Sagen Sie mir, was das alles bedeutet«, bat ich, dem Weinen nahe.

»Es ist nichts wirklich Furchtbares«, sagte er. »Aber mir scheint, Sie haben für einen Tag genug gehabt.« Der Puma stieß plötzlich einen scharfen Schmerzensschrei aus. Da fluchte er leise. »Ich laß mich hängen«, sagte er, »wenn's hier nicht ebenso schlimm ist wie in der Gower Street – mit den Katzen.«

»Montgomery«, fragte ich, »was war das für ein Wesen, das mir nachkam? War es ein Tier oder war es ein Mensch?«

»Wenn Sie heut' nacht nicht schlafen«, antwortete er, »haben Sie morgen früh den Verstand verloren.«

Ich stand auf. »Was war das für ein Wesen, das mir nachkam?« fragte ich.

Er blickte mir gerade in die Augen und verzog den Mund. Seine Augen, die eine Minute zuvor lebhaft ausgesehen hatten, wurden stumpf. »Nach Ihrer Beschreibung«, sagte er, »scheint mir, war es ein Popanz.«

Ich fühlte eine stürmische Gereiztheit, die so rasch verging, wie sie gekommen war. Ich warf mich wieder in den Stuhl und preßte die Hände gegen die Stirn. Der Puma heulte von neuem.

Montgomery trat von hinten auf mich zu und legte mir die Hand auf die Schulter. »Hören Sie, Prendick«, sagte er. »Ich hatte nicht vor, Sie allein auf diese unsere alberne Insel hinauswandern zu lassen. Aber es ist nicht so schlimm, wie's Ihnen scheint, Mann. Ihre Nerven sind in Fetzen. Ich will Ihnen etwas geben, damit Sie schlafen. Das ... das wird noch stundenlang so weitergehen. Sie müssen einfach schlafen, sonst garantiere ich für nichts.«

Ich antwortete nicht. Ich beugte mich nach vorn und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Gleich darauf kam er mit einer dunklen Flüssigkeit zurück. Die gab er mir. Ich nahm sie ohne Widerstand, und er half mir in die Hängematte.

Als ich aufwachte, war es heller Tag. Eine Zeitlang blieb ich liegen und starrte auf das Dach über mir. Die Sparren, bemerkte ich, waren aus Schiffsrippen gemacht. Dann drehte ich den Kopf und sah ein Mahl für mich auf dem Tisch bereit. Ich merkte, daß ich hungrig war, und wollte aus der Hängematte herausklettern; sie kam meiner Absicht zuvor, drehte sich um, und ich landete auf allen vieren auf dem Boden.

Ich stand auf und setzte mich an den Tisch. Ich hatte ein Gefühl der Schwere im Kopf und zunächst nur die unbestimmteste Erinnerung an die Dinge, die am Abend vorher geschehen waren. Die Morgenbrise blies erfrischend durch das Fenster, und das Frühstück vermehrte die Empfindung physischen Behagens. Plötzlich öffnete sich die Tür hinter mir, die innere Tür, die in den ummauerten Hof führte. Ich wandte mich und sah Montgomerys Gesicht. »In Ordnung?« fragte er. »Ich hab' furchtbar viel zu tun.« Und er schloß die Tür wieder. Nachher entdeckte ich, daß er sie zu versperren vergessen hatte.

Dann besann ich mich auf seinen Gesichtsausdruck am Abend vorher, und damit wurde die Erinnerung an alles, was ich erlebt hatte, wieder ganz klar. Gerade, als ich wieder Furcht empfand, hörte ich einen Schrei von drinnen. Aber diesmal war es nicht der Schrei eines Pumas.

Ich legte den Bissen nieder, den ich eben an die Lippen führte, und horchte. Stille – nur die Morgenbrise flüsterte. Ich dachte also, meine Ohren hätten mich getäuscht.

Nach einer langen Pause begann ich wieder zu essen, war aber immer noch gespannt. Dann hörte ich etwas anderes, sehr schwach und leise; dennoch wühlte es mich tiefer auf als alles, was ich bisher von den Greueln hinter der Mauer gehört hatte. Diesmal war ein Irrtum über die dumpfen, gebrochenen Töne nicht möglich, ebensowenig ein Zweifel über ihren Ursprung; denn es war ein Stöhnen, das von Schluchzen und qualvollem Keuchen unterbrochen wurde. Diesmal war es kein Tier. Es war ein menschliches Wesen auf der Folter.

Und als mir das klar war, stand ich auf, war in drei Schritten durchs Zimmer, faßte den Griff der Tür zum Hof und stieß sie auf.

»Prendick, Mann! Halt!« rief Montgomery dazwischenspringend. Ein erschreckter Hund bellte auf und knurrte. Ich sah Blut in der Abflußrinne, teils braun, teils scharlachrot, und ich roch den eigentümlichen Geruch der Karbolsäure. Dann sah ich durch eine offene Tür im gedämpften Licht eine unförmige Masse, die mühsam auf ein Rahmenwerk gebunden war: vernarbt, rot und bandagiert. Und dann erschien, diesen Anblick verdeckend, das Gesicht des alten Moreau, weiß und furchtbar.

Im Nu hatte er mich mit einer Hand, die rot besudelt war, an der Schulter gefaßt, herumgedreht und kopfüber in mein Zimmer zurückgeschleudert. Er hob mich hoch, als wäre ich ein kleines Kind. Ich fiel zu Boden, und die Tür schlug zu und verbarg mir sein erregtes und verzerrtes Gesicht. Dann hörte ich, wie der Schlüssel im Schloß gedreht wurde und Montgomery schimpfte.

»Die Arbeit eines Lebens ruinieren!« hörte ich Moreau sagen.

»Er versteht nichts«, sagte Montgomery, und noch anderes, was nicht zu hören war.

»Ich habe jetzt keine Zeit«, sagte Moreau.

Den Rest hörte ich nicht. Ich stand auf und zitterte; mein Geist wurde von den furchtbarsten Ahnungen durchzuckt. War es möglich, dachte ich, daß Moreau Menschen vivisezierte? Die Frage traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Und plötzlich verdichtete sich das Grauen in meiner Seele zu einer lebhaften Empfindung der Gefahr, in der ich mich befand.


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