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Erster Teil

I

Am Abend des 3. November 1838 bekam der Dichter Balzac durch die Hand seines alten Dieners François in seinem Landhaus von Les Jardies einen Brief von seinem Jugendfreund, dem Notar Sebastian Peytel in Belley.

Balzac hielt eben nach zwölf Stunden ununterbrochener Arbeit inne; er zog seinen Atem tief, fast rasselnd ein, sein feistes, olivenfarbenes, rot getigertes Antlitz unter dem strotzenden, schwarzen, leicht angegrauten Haupthaar war von Schweiß bedeckt. Sein abwesender, großer Blick streifte über die noch kahlen, am Fußende grauen und feuchten Wände des Zimmers, den halb erloschenen, in die neue Mauer schlecht eingefügten, prächtigen alten Marmorkamin aus cipoliotischem, perlenfarben und blutfarben geädertem Gestein. Das Landhaus von Les Jardies war neu erbaut, nicht bezahlt und noch nicht ausgetrocknet, dennoch mußte es der Dichter bewohnen und konnte es kaum auf eine Stunde im Tage verlassen.

Schon hatte Balzac seine volle Kraft wieder und wollte sich, mit einem wollüstigen Gefühl von Müdigkeit und sinnlichstem Verlangen zugleich, dem Schreiben wieder zuwenden, als er den Diener mit dem Briefe vor sich sah. Er mußte das wiederholte Klopfen und Rufen, womit dieser seinen Eintritt in das verbotene Zimmer entschuldigte, überhört haben. Nun hielt der Alte den bläulichen Umschlag mit den milchweißen Siegeln wie eine Hostie zwischen seinen Greisenhänden. Der Dichter überflog bloß die Aufschrift, der die Worte »Besonders eilig!« »Sehr dringend!« »Persönlich!« beigefügt waren. Da er aber, ohne seine Hände von den Manuskripten fortzunehmen, durch stummes Wegwenden seines mächtigen, löwenartigen Hauptes anzeigte, daß er durch nichts und durch niemand gestört sein wollte, legte der Diener, der sonst im Hause Gärtnerdienst versah, den Brief auf das Fensterbrett. Denn der Arbeitstisch war mit Papieren und Druckfahnen in einer dem Diener nicht verständlichen, aber deshalb nur um so heiligeren Ordnung bis an den Rand überladen.

Die Abendsonne begann mit einem hingehauchten Bronzeton durch das dünne Papier hindurchzuschimmern. Der Dichter, nun doch aus der Ruhe und Sammlung gerissen, langte nach dem Briefe, wollte sich aber durch nichts in der begonnenen Arbeit, die ihn bis Mitternacht festhalten mußte, unterbrechen lassen. Um aber das Schreiben nicht aus den Augen zu verlieren (er war Peytel vor Jahren herzlich zugetan gewesen), lehnte er es an ein kleines, in goldenem Rahmen befindliches Porträt seiner schönen Geliebten, der Gräfin Hanska, und bedachte, daß er unter allen Umständen Zeit finden müsse, binnen jetzt und Mitternacht Peytels Brief zu lesen, zu beantworten und dann, sich selbst zur Freude, der geliebten Frau einen Brief zu schreiben. Denn in ihr lebte sein ganzes Leben.

In diesem Augenblick bemerkte er, immer noch aufrecht stehend und seine großen, schwellend weißen Hände in die goldene Kette verstrickt, welche den Gürtel seiner Arbeitskutte bildete, daß der Brief des Notars, der sich dem geschliffenen Glas des Porträts angeschmiegt hatte und der bis zu dem kleinen, lindenblattförmigen Munde der polnischen Gräfin reichte, nun ebenso goldig durchwölkt schimmerte wie vorhin, als ihn der Diener an die Fensterscheibe bei Sonnenuntergang gelehnt hatte. Aber das Zimmer, der ihm immer noch fremde Raum, war jetzt sonderbar verändert. Nicht mehr Herbstnachmittag, sondern vor den Fenstern und auf dem wie eine Handfläche glatten Gartengelände dunkelste Nacht. Der tiefe Absturz, der bis zu den Schluchten von Sèvres steil abfiel, in völlige Schwärze getaucht. Der einzige Baum des Gartens nicht mehr zu erkennen. Nur ein rötliches Licht am Eisenbahnübergang nach Versailles, sehr fern – und hier: eine Kerze auf silbernem Leuchter auf dem Tisch, die handschriftlichen Blätter auf der einen Seite, die Druckfahnen auf der andern Seite des Leuchterfußes vorsichtig aufgeschichtet und nicht in ihrer Ordnung verrückt. Links von ihm der alte Diener, in seinen abgenutzten, gelbgrünen, nur bis zu den vorstehenden dürren Knien reichenden Gärtnerkittel gehüllt, wie er den zweiten Silberleuchter in der hoch erhobenen, festen, derbknochigen Hand hält und dem Herrn in solcher Ruhe leuchtet, daß die Kerze nicht flackert.

Um vier Uhr nachmittags ging die Sonne unter. Um vier Uhr hatte er den Brief erhalten. Nun mußte es sechs Uhr geworden sein; zwei Stunden war er, ohne sich von der Stelle zu rühren, abwesend gewesen. Er mußte im Stehen geschlafen haben, den Blick geöffnet und nicht im mindesten von dem fremden Briefe, der jetzt im Kerzenschimmer wie vorhin im Herbstsonnenschein mattgolden glänzte, abgewandt.


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