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II

Die Mutter begann, als sich der Dichter auf einem schmalen, harten, mit dünnem Samt bedeckten Kanapee niedergelassen hatte: »Nun gut, in Paris lebte in meiner Jugend ein Künstler, Herr de Blince.«

»Guter Adel?« fragte Balzac.

»Ach, mein Sohn, genauso alt und ehrwürdig wie der unsere, oder besser gesagt, der deine. Ein Aristokrat aus eigner Macht wie Napoleon. Jeder sein eigener Fürst, sein eigener Ahne.«

»Gibt es nicht Dokumente, die beweisen, daß unser Geschlecht im fünften Jahrhundert ein Kloster gegründet hat in der Nähe der kleinen Stadt Balzac?«

»Du sagst es, und es soll Leute geben, die es glauben. Nun stelle dir vor, eben aus diesem Kloster stammt ein Abbé, ein kleiner, dicker, fettiger, schwarzlockiger, rotbackiger, etwas angegrauter Mönch, lustig, ein wenig schwerhörig und niemals dem Bereich des Klosters in die große Welt entflohen. Verstehst du das? Nun, zu diesem Mönch kommt eines Morgens ein abgemagerter, blonder, langgestreckter Herr, blaß und traurig, gebeugt unter der Last seines Ruhmes, de Blince.« »Das bin ich?« fragte Balzac zerstreut.

»Nein, du bist der Mönch«, antwortete die Mutter. »Du lachst, ich fahre fort. An allen Straßenecken muß man den Namen des weltberühmten Künstlers finden, Egmont Percy de Blince, kein Mensch der guten und der fast ebenso guten Gesellschaft, der seinen Namen nicht kannte.«

»Ich habe Romane von ihm nie gelesen«, sagte Balzac in Gedanken.

»Wer spricht von Romanen? Er war Kunstpfeifer, der genialste Kunstpfeifer der bewohnten Kontinente, mit dem schönsten, leisesten, beseeltesten Pfiff, den je eine menschliche Kehle oder die äußerste Spitze der Lippen hervorgebracht hat. Sehen Sie nur, mein liebster Junge, den Mann in der Tracht des Ancien Régime auf der Bühne, im überreich gestickten, prachtvoll pfauenblauen Frack, mit weißseidener Weste. Sie war wie aus Blättern der Kamelie zusammengefügt. Es funkelt eine unnachahmliche Perücke im Puderglanze auf seinem Köpfchen und hebt so seine blauen, etwas kleinen Augen. Auf seinen schönen, wenn auch plumpen Händen glitzern Brillantringe, die Taschen hat er voller Tabatieren, die Knopflöcher voller Ehrenzeichen und Orden. Denke, lieber Honore, jetzt nicht daran, daß du noch nicht Ritter der Ehrenlegion bist ...«

Wie wenig kennt mich die Mutter, die mich geboren hat, dachte der Sohn. Meine Gedanken sind heute nicht bei Ehren und Würden.

»Einerlei«, fährt die Mutter mit ihrer hohen, kristallklaren, etwas schneidenden Stimme fort, »hier oben steht er auf dem Podest. Das Orchester, ehrfürchtig durchschauert, blickt zu dem großen Manne empor, diesem Geiger ohne Violine, Flötisten ohne Flöte, denn sein ganzes Instrument sind seine zwei schmalen, feinen Lippen. Aber sein Organ ist, so weich, so süß, so schmelzend! Die aus Palmenholz geschnitzte Panflöte (nein, Lorbeerholz wird es sein) hat keinen holderen Ton. Freilich ist für das gemeine Ohr diese überirdische Flötenstimme nicht gleich aus den Oboen und andern Holzinstrumenten herauszuhören, aber dann kommt ja der große Augenblick, wofür die Creme von Paris ihr Honorar in Gold bezahlt hat. Das Solo des Kunstpfeifers beginnt. Er pfeift, gewiß. Man hört zwar kaum etwas, höchstens das Rauschen von Engelsfittichen, aber wer kann einem unhörbaren Gesänge widerstehen, wenn man den Sänger die Lippen nach vorn zusammenpressen sieht, als forme er ein Cœur-As aus ihnen, wobei die sehr schönen, perlenweißen Zähne hervorschimmern. Seine bläßlichen Wangen füllen sich, sie erröten sanft wie die Blätter einer aufblühenden Zentifolie im Zephirhauch, seine Brust hebt sich und senkt sich unter dem aus echten Spitzen bauschig gearbeiteten Jabot, seine schönen, schräg geschnittenen blauen Augen leuchten Zärtlichkeit, Sehnsucht, Frömmigkeit, Wollust, Ahnung, Trauer, Wehmut und Heiterkeit, wie ist das alles auf dem Gesicht des Pfeifers abgemalt! Nur Barbaren wären nicht durch diesen Orpheus und durch seine unhörbar feinen Triller und Koloraturen bezwungen. Ganz Paris ist zu Tränen gerührt. Kannst du das hören? Siehst du das vor dir, mein liebster, großer, alter Junge?«

»Ja, ich sehe«, antwortete der Sohn sehr leise. Er sah seinen Freund wieder. Es liegt in der Zelle ein Mann auf dem Boden hingestreckt, völlig gebrochen. Blaß, ohne Ausdruck in dem Gesicht, in den Augen. Balzac beugt sich hinab zu ihm, ruft ihn beim Namen, aber der Notar antwortet nicht. Ist er auf immer verstummt? Aber Balzac faßt den Freund mit der rechten Hand unter den Nacken, mit der linken unter die zitternden Kniekehlen und hebt ihn, nicht anders, als wäre der bleiche, bärtige Notar sein Kind, auf seine kurzen, aber kraftvollen Arme, bettet ihn auf die Pritsche, rollt seinen Überrock zusammen und gibt ihn dem Notar unter den Kopf und die Schultern.

»Siehst du das vor dir?« wiederholt die Mutter mit lauter Stimme.

»Ich sehe«, sagt der Sohn und denkt: Ich habe keine Mutter.

»Gut. Du seufzest, ich fahre fort. Schon hat de Blince geendet, was man vor allem an dem matten und doch glücklichen Aufflammen seiner blauen Augen und an dem Fallenlassen der Hände erkennt, da überschüttet alles den großen Mann mit Blumen, mit gestickten Taschentüchern, mit Billetts, mit in Seide eingewickelten goldenen Tabatieren, er verdient Geld in Tonnen, jeder Pfiff von seinen Lippen ist ein Louis in Gold. (Wärest du doch ein de Blince! Aber du bist zu echt!) Alles, was ein Mensch sich wünscht, das hat und besitzt de Blince, und doch, wer hätte das gedacht, er wird seines Lebens nicht froh, er ist traurig, er schließt sich ab, seine Schläfen werden grau wie Eis und fallen ein, man fragt ihn, er schweigt, wendet sich zur Gesellschaft, wo er verschwindet in der Menge. Er hat nur einen Wunsch, er möchte beichten. Hier beginnt deine Geschichte, lieber Sohn. Er will Ruhe, er will Absolution, und dies ist nicht der letzte Wunsch eines Verworfenen, sondern der erste eines Verwöhnten. Darin besteht die Ähnlichkeit und der Gegensatz. Verstehst du das?«

Balzac schweigt. Balzac sieht seinen lieben Freund bei der Verurteilung. Peytel ist beherrscht. Er lächelt. Er entblößt seine elfenbeinfarbigen Zähne, öffnet die Lippen. Rings der Gerichtssaal, ohne die Ruhe des Gerichts, ohne den Frieden der endgültigen Entscheidung. Es ist im Grunde kein Lächeln, eher die Anstrengung, die zu einem solchen führen müßte. Deshalb hat dieser Augenblick etwas Schauriges, halb Süßes, halb grauenhaft Erschreckendes. Denn die Augen des Verurteilten, ohne ein Zucken der dichten, hellbraunen Wimpern, wandeln sich plötzlich von einem bläulichen Grün in ein stechendes, geschliffenes Silbergrau. In seiner schönen, sehnigen Hand preßt der Notar ein goldfarbenes Seidentuch zusammen und läßt es fallen. Alles schweigt. Balzac nimmt das Seidentuch, reinigt es vom Staube und reicht es dem Freunde hinauf. Der Mörder sieht Balzac schweigend mit seinem kalten, funkelnden Blick an. Das ist alles.

»Ist das alles?« setzt die Mutter den stummen Gedankengang fort, ohne auch nur eine Pause von einer Sekunde eingeschoben zu haben. »Ist das alles? fragen de Blince' Freunde. Sie wissen Rat, kennen einen vortrefflichen, prächtigen, echt christlichen Priester. De Blince sucht ihn auf, ich habe ihn vorhin schon beschrieben. De Blince verspricht ihm eine namhafte Summe für die Armen des Ortes, eine größere für die Kirche, man ist entzückt, man gefällt einander. Er riecht gut, der dicke Mönch, nach gebratenen Kastanien und würzigem, heißem Wein, zwar ist er schwerhörig, aber eben deshalb liebt ihn die gute Gesellschaft nur um so mehr. Schon kniet de Blince aufgeregt im Beichtstuhl. Der dicke Mönch sieht ihn ernsthaft an. Beide seufzen. Endlich entschließt sich der Sünder und flötet zart mit seiner schönen Stimme:

›Ich bin de Blince. Ich habe nie gepfiffen.‹

›Nie gepfiffen?‹ wiederholt der Geistliche (das bist du) erstarrt. Er ist wie aus den Wolken gefallen: Bin ich's, bin ich's nicht? wie das so zu gehen pflegt.

Fliegen summen im Kirchenschiff, die Kinder kreischen draußen auf dem Gottesacker, dann schweigt alles, und de Blince bekennt:

›Nein, hochwürdiger Herr, überhaupt nie!‹

›Ha!‹ sagt der Geistliche und schweigt.

›Ich habe nie gepfiffen‹, wiederholt der Künstler (ein Künstler war und blieb er) in großer Bedrängnis. ›Dies bedrückt mich. Mein Erfolg vermag mir keine innere Befriedigung zu verschaffen, ich fühle, daß mein Tun mit den Lehren Christi im Widerspruch steht. Ich bedauere dies in Demut, und meine Reue ist aufrichtig.‹

›Ja, nun‹, fragt der Geistliche mit neuem Mut, ›was soll das sein?‹

›Ich sag's, Hochwürden, nie ist ein Pfiff, so groß auch nur wie ein Sperling, nein, was ein Sperling auf seinem Fluge verliert, aus meinem Munde gekommen.‹

›Hu‹, sagt der Mönch, schwerhörig wie er ist, ›ein Sperling, und aus dem Munde?‹

›Nein‹, antwortet geduldig der Künstler und gute Mensch, denn auch das war er, de Blince, ›ein Sperling nicht. Kein Pfiff. Hier‹ – er zeigt auf die Lippen und flüstert: ›nichts!‹

›Ich hab's‹, sagt der Mönch und lacht, daß das Fett mit dem Schweiß aus seinen dicken Backen bricht, denn nun freut er sich. ›Nun gut. Mein bester Herr, auch ich, wie Sie mich da sehen, mit meinen zweiundsiebzig Jahren, ha, ich habe noch nie gepfiffen! Einer kann's, einer nicht. Ich weiß nicht, ob's eine Sünde ist. Wir wollen ...‹

›Aber ich bin doch de Blince ...‹

›Lassen Sie mich ausreden. Wir wollen's auf jeden Fall zu den läßlichen Sünden zählen. Und was noch, mein lieber Sohn?‹

›Aber ich bin doch de Blince, de Blince, von dem alle Welt spricht!‹

›De Blince, ich verstehe. Doch was tut der Name des Sünders zur Sache?‹

›De Blince hat nie gepfiffen‹, sagt der Mann im Erlöschen. Dabei spitzt er die Lippen, pfeift aber so wenig wie je zuvor.

›Sagt' ich's nicht?‹ frohlockt der Mönch. ›Nie gepfiffen. Hier laßt uns Hütten bauen. Da bleiben wir. Das ist die Lösung des Rätsels, das Geheimnis der Scharade. Nun, ich bin glücklich, Ihnen sagen zu können, wenn Sie weiter keine Sünden drücken ...‹«

Im Verlöschen sah der müde Balzac die Frau des toten Freundes vor sich: am schönsten Tag, am müdesten, mildesten Abend. Wie sie neben ihm, dem lieben Gatten, im Walde spazierengeht, wie sie über die knisternden Tannennadeln leise läuft, wie sie ein kleines, im Sommer halb versiegtes Bächlein überschreitet, über dem, im Waldesdunste unbeweglich stehend, die Mücken schwärmen. Sie kann es nicht lassen, ihr Köpfchen über das Wasser zu halten. Denn sie lebt so gern, sie fühlt sich so gern leben. Sie saugt in ihre feinen Nüstern die Gerüche ein, die über dem Waldwasser wogen. Die Mücken stechen sie nicht, ihr Gesicht ist grünlich angehaucht, ihr schwarzblaues, schweres Haar ist voll von Tannennadeln und von hellstem Licht. Sie schließt die Augen. Damit man ihr Schielen nicht sehe, tut sie, als blende sie die Sonne. Ihr Körper, der voll und üppig aus der knisternden Seide des Kleides sich erhebt, duftet nach Wald, nach frischem, eben dem Baumstamme entfließendem Harz, nach ihren einundzwanzig Jahren, nach ihrer unberührten, schönen Jugend. Sie stirbt jung, deshalb ist ihr letzter Tag so voller Fülle und hoher sommerlicher Pracht und so rein mit dem schüchternen Lächeln über ihren allzu vollen, quer gerunzelten Lippen, mit dem feinen Beben über ihrem weißen, mädchenhaften Halse. So verlöscht sie leise, ohne schmerzlichen Laut. Dem Müden tut es gut, in der Stunde des Eindämmerns ihrer zu gedenken. Dem Erschütterten tut es wohl, sich an ihrem Andenken zu laben, bevor er ganz vergeht.

Die Mutter des Dichters, die nun ganz wach und frisch geworden ist, zwitschert weiter und bringt, selbst oft von Lachen und Gurren unterbrochen, ihre Trostgeschichte zu Ende: ›Charmant‹, sagt der dicke Mönch (vergiß nicht, du bist der Beichtvater, ich sehe dich in deiner Kutte, wie du leibst und lebst, du bist ein einsiedlerischer Mensch, und man wird nie einen guten Gatten und Vater aus dir machen, das ganz unter uns), da glänzt nun der gottselige Mönch über sein ganzes Gesicht, da er selten noch einen so freigebigen und so sündenlosen Sünder vor sich gesehen hat wie diesen de Blince. ›Ich bin entzückt‹, sagt er, ›Ihnen die Absolution geben zu können. Erheben Sie sich im Gebet zu Gott. Wenn Sie nichts anderes verschuldet haben, werden Sie dereinst freudig vor Gottes Thron treten können. In Hinkunft pfeifen Sie oder pfeifen Sie nicht, ganz, wie es Ihnen behagt. Beten Sie, der Sicherheit halber, dreizehn Vaterunser und sieben Stella Maris , und Sie werden in Ruhe leben und in Frieden sterben können.‹ De Blince steht auf. Er benimmt sich manierlicher als dein ungezogener Notar, denn er zieht den Hut, klopft schweigend den Staub von den Knien und nimmt seinen Weg zurück nach Paris. Jeden Abend können Sie ihn an der Porte Saint-Martin (das Theater ist natürlich erfunden, du weißt es), Sie können ihn also in irgendeinem Vorstadttheater pfeifen hören oder, besser gesagt, pfeifen sehen. Nun, können Sie mir folgen, mein lieber Junge, haben Sie mich verstanden?«

Aber der Sohn hörte nicht. Er lag in tiefem Schlaf.


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