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III

Daß ein großes Unglück dem Notar begegnet, wird schon vor seiner Erzählung allen klar. Die Frauen, von denen einige ältere sich mit den Männern in die Amtsstube geschlichen haben, beginnen zu weinen, ohne zu wissen, warum.

So berichtet Lablanche in seinem langen, mit äußerst feiner Schrift geschriebenen Briefe. Nicht ohne Grund hat Lablanche in den ersten Worten schon den großen Dichter Balzac so ehrfurchtsvoll begrüßt. Auch er, Lablanche, schreibt gern, und wie der Brief mit seiner genauen Schilderung bezeugt, nicht ohne Können und vor allem nicht ohne Schule, die er dem Meister Balzac verdankt.

Nun der Bericht: Die Gattin, die Peytel abwechselnd »meine Frau«, dann »Felice« oder »die Alcazar« nennt, liegt hingestreckt im Reisewagen. Ernsthaft, schwer verwundet. Der Reisewagen hält an der letzten Kehre der Straße, beim Meilenstein vor Belley. Kurz nach dem Passieren der kleinen Brücke hat der schändliche Diener, Louis Rey, nach der Alcazar geschossen. Er, der Notar, hat in der ersten Wut, seiner Sinne nicht mächtig, den Mord durch gerechte Strafe gerächt. Auch den Louis Rey werde man ohne Leben am Wege finden.

Kaum waren diese Worte, mit größerer Deutlichkeit und klarerer Bestimmtheit, als man sie dem tobenden Eber anfangs zugetraut hätte, heraus, als alle Anwesenden, die Frauen voran, durch die schmale, einflügelige Tür des Amtslokals sich drängen, um draußen laufend, an jeder Ecke um andere Neugierige vermehrt, die engen, krummen Straßen zu erfüllen. Sie werden geführt vom eilig dahinschießenden Notar, den von der einen Seite der Anwalt Lablanche, von der andern Seite der Bürgermeister stützt, indem sie seine scheinbar ganz erstarrten Hände durch die Falten des dicken Radmantels hindurch beim Laufen festhalten. So stürmt in immer beschleunigter Eile der Zug durch die Straßen. Der Morgenfrühschein erhellt die Häuser. Es geht bergauf, die Menschen rennen und keuchen. Auch Kinder haben sich eingeschlichen. Pferde hört man wiehern, und wirklich, keine tausend Schritt vor dem Orte steht der Wagen auf der Straße. Die Pferde halten ruhig, es sind derbe, erbsenbraune, gut genährte, stramme Tiere. Das eine scheint, den Kopf tief gesenkt, zu schlafen. Das andere reibt, vielleicht aus Hunger, sein halbgeöffnetes blaßrotes Maul an dem Geschirr, das man schon von weitem mit hellrotem Blute beschmutzt erkennt. Der Gaul versucht, sich von Kinnkette und Nasenriemen freizumachen, schlägt dazu mit dem buschigen Schweif, schon hebt und weitet das Pferd die Brust, um aufzuwiehern wie vorhin, aber angesichts der zahllosen Menschen scheint ihm der Mut dazu zu fehlen. So zittert es bloß mit der feinen, nassen Haut des Rückens und der Flanken. Kann denn die blöde Kreatur Gottes das Menschenblut wittern und davor zurückschaudern? Das übersteigt doch, was man an Vernunft diesen seelenlosen Geschöpfen zutrauen kann.

Die junge Frau, ein zwanzigjähriges, blühendes Wesen, liegt, auf ihrer veilchenfarbenen, verknüllten und feuchtigkeitsgetränkten Seidenmantille gebettet, tief in dem Fuhrwerk. Ohne Zeichen des Lebens. Ihr ganzer Körper trieft vor Nässe, als schwämme er in Wasser. Und Wasser ist es auch. Nicht Blut oder doch nicht Blut allein. Das furchtbarste ist ihr ganz zerbrochenes Gesicht. Das Verdeck der Kutsche ist herabgelassen, man sieht das volle, regungslose Gesicht, das trotz der offenen Knochenhöhlen einen menschlichen Ausdruck bewahrt hat. Um den üppigen und dabei doch zarten Hals ist ein kleines goldenes Kettchen geschlungen. Die Gesichtsfarbe ist wie von der Sonne verbrannt, das kommt von dem Kreolenblut, das die Tote in ihren Adern führte. Ihre schönen Augen waren Kreolenaugen von einem besonders warmen, zärtlichen Braun, doch sind sie jetzt geschlossen. Weit waren die Augenbrauen geschwungen und sehr reich gewachsen. Nun scheinen sie verbrannt, in Zunder aufgelöst. Man könnte die einst so schöne Frau nicht erkennen, wüßte man nicht, wer sie ist. Ihre Beine, schlank und doch voll, sind fast nackt. Es stürmt in den Bäumen. Man müßte kein Mensch sein, wenn nicht dieser Anblick unter dem kalten, stürmischen Himmel jedem ans Herz griffe. Zwischen ihren Strümpfen und den zusammengerafften, dreifach übereinandergeschlagenen Röcken gleißt die feine Haut. Die schreckliche Wunde im Gesicht blutet leise. Dazu beginnt milder Regen, in dem totenähnlichen Schweigen der ungeheuren Menschenmassen ringsum deutlich hörbar, vom grauen Himmel herabzutröpfeln.

Kein Wunder, wenn die Frauen, die sich halb aus Mitleid, halb aus Neugier um den Wagen geschart haben und von denen einige besonders fürwitzige das Verdeck des Wagens herabließen, im Anblick dieser stillen Blutströme nun kreischend den Schauplatz verlassen. Haben denn diese Blutströme nie zu rinnen aufgehört seit der Stunde des Verbrechens? Oder haben sie jetzt im letzten Augenblick zu rinnen erst begonnen, als der Mörder, Peytel, in ihre Nähe trat? Der Postwagen kommt rasselnd die Höhe herab. Die Peitschen knallen, die Bremsen kreischen. Doch man winkt ihm rechtzeitig, und er hält. Der Postillion untersagt den Fahrgästen, den Wagen zu verlassen. Auch schlafen noch die meisten. Inzwischen sind die Weiber bereits in der Nähe der Stadt. Noch haben sie, aneinander dicht gedrängt wie Hühner im Platzregen, zu kreischen nicht aufgehört. Sie haben im schnellen Laufe ihre Röcke hochgehoben und zeigen zwischen den hellen Strümpfen und dem dunklen, nassen Rockrande schmale Streifen silbernen Fleisches.

Bloß Männer umstehen jetzt den Wagen. Der Maire zur Rechten, der Anwalt, ich, zur Linken des im Morgenfrost zitternden Gatten. Und ich flüstere, was alle fühlen: »Arme kleine Frau!« Vor uns dreien, sehr groß, der Polizeikommissar. Er rührt sich nicht von der Stelle. Aber der Gatte will, während er weit ausatmend seufzt und die weißen, schönen, starken, vorstehenden Zähne entblößt, die Hände durch die Falten des Radmantels hindurch von der Stütze oder der Fesselung durch uns freimachen, um nur schnell zu dem Arzte hinzueilen, der im Hintergrunde dieser Gruppe steht, er, eine fast ebenso hohe Gestalt wie der Polizeikommissar. Der Arzt sagt mit kalter Stimme, ohne mehr als einen einzigen flüchtigen Blick auf die Frau zu werfen: »Alle Hilfe kommt zu spät« – wobei er zögernd und in Gedanken hinzufügt: »hier.«

Auf dem Erdboden, unter einer schweren, regengetränkten Decke, liegt noch ein totes Geschöpf, der Diener, und unweit von ihm seine Peitsche. Zwischen ihm und dem Wagen stehen zwei einfach gekleidete Männer: der Schmied und sein Sohn; sie blicken still, aber mit vielsagender Miene umher, als wüßten sie noch viel.

Der Notar regt sich, er bäumt sich hoch auf.

Will der Gatte dem Arzte zu Füßen fallen, ihn anflehen, sein kaltes Wort selbst Lügen zu strafen und doch noch einen Versuch zur Rettung und Belebung der vielleicht nur scheintoten Frau zu unternehmen? Oder will der Notar, von dessen fleischigen, tief roten, wie Korallen purpurn gefärbten Lippen sich nun ein langgezogenes Zischen loslöst, den Namen der oft und oft liebkosten Frau noch einmal formen und kann es nicht?


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