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IV

Balzac hat den übrigen Teil des Huhns sowie ein halbes Dutzend ausgezeichneter Winteräpfel verzehrt und beginnt nun den Plan der Verteidigung mit dem Anwalt zu besprechen, während Peytel wieder in seinen Zustand von Apathie versinkt. Lablanche meint, die Sache stünde schlecht, aber nicht schlechter, als man es hätte erwarten müssen. Auf die Frage Balzacs sagt er: Der Sachverhalt sei nur zu klar. Zwei Menschen seien ums Leben gekommen. Das Motiv der Tat sei zwar nicht aufgeklärt, aber als Täter komme einzig Peytel in Betracht, und er, Lablanche, habe dies dem jetzt so ruhig schlafenden Manne nie verhehlt, und dieser hätte sich mit dieser Auffassung auch zufriedengegeben. Sein Plan sei, am nächsten Tage mildernde Umstände zu beantragen. Diese könne er durchsetzen.

Darauf starrt ihn Balzac zehn Minuten lang an, ohne den doch so einfachen Sinn dieser Worte begreifen zu können. Dem Anwalt, einem zarten, hellblonden, feinknochigen Mann ohne viel Haare auf dem Scheitel, wird der Aufenthalt in der kalten, übelriechenden Zelle in Gegenwart des sonderbaren Dichters und des schlafenden Peytel immer unbehaglicher. Er ist von der Arbeit des letzten Tages bis zum äußersten erschöpft, will sich zurückziehen und streckt Balzac eben seine Hand zum Abschied entgegen, als dieser unvermittelt aufsteht und, während sich das olivenfarbene Gesicht vom inneren Blutandrang erhitzt und aufschwillt, mit seinen großen Füßen aufstampft, die Hand des Anwaltes zurückstößt, den schlafenden Notar weckt und ihm, mehr als Befehl denn als Rat, folgendes vorschlägt:

Erstens muß Lablanche zum Gefängnisdirektor gehen und zu erreichen suchen, daß Balzac die Nacht über im Zellengefängnis verweilt. Das wird man ihm nicht verweigern können. Tut man es dennoch, so soll man ihn, Balzac, als Rechtsbeistand namhaft machen. Sollte man die Anwesenheit noch einer andern Gerichtsperson für notwendig haken, so ist dagegen nichts zu tun, also auch nichts einzuwenden.

Zweitens wird Balzac in dieser Nacht die Verteidigungsrede selbst entwerfen, entweder schreiben oder diktieren.

Drittens wird er am nächsten Tage diese Rede selbst vortragen, wenn Lablanche sich weigern sollte, sie zu verlesen.

Viertens wird Balzac auf Freispruch plädieren, auf die Auferlegung der Kosten an den Staat und auf eine Ehrenerklärung.

Fünftens wird er den Notar sofort nach dem Freispruch mit sich nach Paris nehmen und für alles Weitere Sorge tragen.

Lablanche sowie Peytel erklären sich mit diesem Plan einverstanden, Peytel durch einen mehr gehauchten als ausgesprochenen Satz, Lablanche durch lebhafte Äußerung der Zustimmung. Balzac pocht an die versperrte Tür der Zelle, sie wird geöffnet ohne Zaudern, offenbar hat man außen gehorcht und ist darauf vorbereitet.

Lablanche eilt nun nach der Wohnung des Gefängnisdirektors, der sich aber nicht für zuständig erklärt. Man muß den Gerichtspräsidenten um seine Erlaubnis fragen. Inzwischen ist es spät nachts geworden. Wie spät, weiß keiner, da Balzac nie eine Uhr bei sich trägt, die Uhr des Notars stehengeblieben ist (in der Erregung des letzten Tages hat er vergessen, sie aufzuziehen) und der Anwalt die seine in dem abgelegten Amtstalar vergessen hat. Aber dies ist gleichgültig, Balzac wird dem Anwalt ein paar Zeilen an den Präsidenten mitgeben. Doch auch dies erweist sich als unmöglich, da weder Papier noch Schreibgerät in der Zelle vorhanden ist.

Aber es darf kein Augenblick verloren werden. Lablanche entfernt sich, und die beiden Männer bleiben allein.

Balzac fühlt sich unter der Gewalt des halb bezaubernden, halb bezwingenden Blickes, den Peytel aus seinem dunklen Winkel auf der Pritsche nach ihm aussendet. Balzac möchte bleiben, wo er ist, in der Nähe der Tür, im frischeren Lufthauche, dessen er, der schwer, fast keuchend atmende Mann, sehr bedarf. Auch pocht sein Herz so heftig, daß man die Schläge im totenstillen, hallenden, kahlen Raum deutlich hört. Auf dem Gefängniskorridor regt sich nichts, nur vom Turm des Gebäudes schlägt mit dünnem Glockenklang eine Uhr die Stunden und halben Stunden.

Balzac muß sich überwinden, näher zu dem Notar hinzutreten und an ihn Fragen zu richten, die jener, seine Stimme ganz der Tonstärke und Höhe des Dichters anpassend, sofort beantwortet, so daß, von Pausen unterbrochen, nur eine einzige Stimme im Zellengemache zu sprechen scheint. Die Fragen beziehen sich auf die Örtlichkeit des Unglücksfalles, auf den Charakter der Frau Felice, auf die Veruntreuung des Dieners, auf die Geldverhältnisse des Notars. Die Zahlen, die Peytel nennt und die Balzac für seine Verteidigung braucht, übersieht er sofort. Er muß sie nicht aufschreiben und stellt im Kopfe die Rechnung Peytel und die Gegenrechnung Alcazar völlig klar auf. Dabei hat er keine andern Hilfsmittel als seine Finger, die er, je nach der Höhe der Zahlen, in bestimmter Weise ordnend zusammenlegt. Zum Schluß der Rechnung erweist sich Peytel als vermögender Mann. Das beruhigt sehr. Auch die Frage nach dem religiösen Bekenntnis und der Königstreue beantwortet Peytel zur Zufriedenheit Balzacs. Inzwischen ist Lablanche eingetreten mit der Erlaubnis des Präsidenten für den Dichter. Er hat heißen, starken Kaffee sowie Schreibzeug mitgebracht. Alles ist bereit, bloß ein Sitz für den Anwalt fehlt, da der schwere, massige Dichter den einzigen dreibeinigen Schemel besetzt hält und auf der Pritsche der immer noch sehr schwache Peytel liegen muß.

Lablanche will die Nacht opfern ungeachtet seiner an Übelkeit grenzenden Schwäche, die sich in den schwarzen Ringen um seine Augen sowie in seinem weichen, schlaffen, schleifenden Gang ausspricht – aber wie ihn unterbringen? Balzac, der den Humor nicht verliert, findet als einzigen Ausweg, daß man den Nachtstuhl mit einem Brette überdeckt, das sonst als Wandregal für Wasserglas und Blechkrug gedient hat, und auf diesem Sitz hockt der Anwalt, seinen Seidenhut mit gütiger Erlaubnis der Anwesenden auf dem Kopfe, da es ihn seines schütteren Haarwuchses wegen in der kalten Zelle zu sehr friert; auf seinen dürren Knien liegt das Schreibheft, mit der linken Hand hat er das Tintenfaß wie ein Vögelchen, das den Schnabel aufreißt, umfaßt; mit der rechten führt er flink die Feder, wobei sich die Schriftzüge, klein, ebenmäßig gezogen, wie gestochen aneinanderreihen. Balzac diktiert. An schwierigen Stellen der Darlegungen hebt er sich, wie ein mächtiges belgisches Pferd in seinem Geschirr, auf seinem Schemel hoch; ist die Schwierigkeit überwunden, läßt er sich mit dröhnendem Krachen wieder niederfallen. Lablanche zuckt zusammen. Balzac merkt nichts.

Mit völlig leidenschaftslosem Blick folgt der Angeklagte dem Diktat, als wäre nicht von ihm die Rede. Er ist nicht mehr derselbe, der vorhin, am Boden hingestreckt, Balzac zugeflüstert hat: Weinen Sie nicht!

Auch Balzac ist verändert. Tiefer die Schatten unter den gewaltigen Nüstern, woraus der Atem rasselnd bricht, wenn er im Reden innehält, zusammengerückt und dunkler die Barthaare über den starken, bebenden Lippen, die Bärenlefzen gleichen, und machtvoll strahlt, alles beherrschend, die ungeheure, kuppelartig gewölbte Stirn im Halbdämmer der Zelle, des totenstillen, hallenden, mit blaßgelbem, dünnem Licht erfüllten Raumes. Jetzt ahnt man schon die Morgensonne, die, tief unter dem hochgelegenen Zellenfenster aufgehend, sich nur durch einen halb rosa, halb lichtgrün schwebenden Nebel zwischen den braunen Brettern der Fensterverschalung andeutet.

Bevor es ganz hell geworden ist, ist die Rede beendet. Lablanche verspricht, sie noch einmal zu überlesen, bevor er sie vor den Geschworenen vorträgt. Um neun Uhr morgens ist die Fortsetzung der Verhandlung anberaumt, um Mittag kann das Urteil gesprochen und der Freund in Freiheit gesetzt sein, so hofft es der Dichter, der mit Lablanche zusammen die Zelle verläßt.


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