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II

Peytel hat sich zu Füßen des Dichters niedergelassen; sein mit schön gelockten braunen Haaren bedeckter Kopf lehnt sich an Balzacs Knie.

Er sieht Balzac, aber Balzac sieht ihn nicht. Schwer atmend, seinen Atem fast rasselnd ausstoßend, mit seinem dunkel olivenfarbigen, rotgetigerten Antlitz nach der Wand zu liegt der Dichter auf der Pritsche, seine beiden Hände unter dem schweren Kopf verschränkt, und zwischen seinen mattgelben Fingern fließen die schwarzen und grauen fettigen Strähnen des straffen Haupthaares. Von seinen fleischigen Lippen dringt, mit Pfeifen untermischt, die Rede leise und ohne Bestimmtheit. »Ich kann nicht glauben, was Sie sagen ... Sie hätten mich früher benachrichtigen müssen ... haben Sie kein Gnadengesuch eingereicht?« flüstert Balzac, der die Wärme des unter ihm hingekauerten Peytel auf sich eindringen fühlt.

Der andere antwortet, scheinbar ganz ruhig, den Ton Balzacs mit derselben Lautstärke aufnehmend, so daß nur eine Stimme im Räume gesprochen zu haben scheint, eine Stimme freilich, die manchmal zittert, manchmal nicht, manchmal pfeift und ein andermal glatt von den Lippen geht: »Ich habe durchaus nichts vergessen. Ich war Notar. Ich kenne die Form.«

»Es muß gelingen. Man kann keinen Justizmord an Ihnen begehen.«

»Möglich bleibt alles. Gelingt es, wollen wir uns dessen freuen, aber es ist klug, mit allem zu rechnen, auch mit dem Wahrscheinlichen.«

Das Schloß der Zelle wird geöffnet, nachdem man schon früher den Schritt der Wache im Korridor näherkommen gehört hat. Ein Gendarm tritt in voller Paradeuniform ein, das weißglänzende Bandelier kreuzweise über der Brust, ein aufgepflanztes Bajonett an der rechten Seite. Er bringt den Krug. Sein Kamerad wartet draußen, das Licht der Gefängnislampe spiegelt sich mit einem blitzartigen Aufzucken auf der aufgestellten blauweißen Schneide. Doch sieht es so aus, als ob beide Gendarmen den Notar kennen und den Dienst hier nicht zum erstenmal verrichten. Der Notar riecht an dem Krug und sagt: »Er ist gut.« Dann gräbt er in den Taschen des Gefängniskittels, kann aber das Gesuchte nicht finden. Er greift tiefer, während ein halbes Lächeln seinen willensstarken Mund umspielt und sich sogar in die hell kastanienfarben gekräuselten Haare des Ringbartes fortsetzt. Er langt tiefer in die Taschen, faßt endlich unten im doppelten Saume den gesuchten Gegenstand, der durch eine aufgegangene Naht hinabgeschlüpft ist. Es ist eine schöne goldene Uhr, schmal wie ein Taler. »Hier, zur Erinnerung an mich«, sagt er und lächelt deutlicher, ja, jetzt erst ist es ein richtiges Lächeln, nicht mehr das kalte Grinsen von vorhin, das aussieht, als hätte man einer Leiche die Lippen mit einer Nadel künstlich zu einem Lächeln geformt.

»Zur Erinnerung«, sagt er und blickt den Gendarmen nun von vorn mit seinem herrlichen, ernsten Blick an und will ihm die Uhr geben.

»Aber es ist verboten, Herr Notar, Geschenke hier im Hause« (der Gendarm vermeidet das Wort Gefängnis) »anzunehmen.«

»Sie haben recht«, sagt der Notar, »die Vorschrift ist dagegen, und es könnte Sie Ihren Posten und Ihr Brot kosten. Dann will ich die Uhr Herrn von Balzac übergeben, der sie Ihnen nach meinem Tode ausfolgen wird.«

Der Wächter antwortet nun nichts mehr, sieht sich in der Zelle nicht weiter um, geht ab und versperrt die Tür von außen.

»Die Kette der Uhr«, sagt Peytel, »hat man mir fortgenommen, ich hätte mich an ihr erhängen können. Warum man davor Angst hat, da man doch mit meinem Ableben in nächster Zeit (an morgen glaube ich selbst nicht) rechnet, weiß nur die Justiz. Fassen Sie es nicht als Bestechungsversuch auf, wenn ich dem armen Teufel, dessen Geduld ich so lange in Anspruch genommen habe, ein Präsent mache. Hat doch auch unsere Königin Marie Antoinette ihren Wächtern vor ihrem Tode Geschenke gemacht, am Vorabend ihres Todes.«

Als Balzac aufschrickt und sich erheben will, drückt ihn Peytel nieder.

»Bitte, bleiben Sie. Was man tun konnte, hat man getan. Flucht wäre unmöglich. Als Sie zu mir kamen, mußten Sie drei Gittertore und drei bis an die Zähne bewaffnete Posten passieren. Man muß mit allem rechnen, und gerade die auffällige Milde macht mir den morgigen Tag verdächtig.«

»Sie widersprechen sich!«

»Ich überlege. Daß man Sie zu mir gelassen hat, daß man mir die Uhr bis jetzt nicht abgenommen hat, daß man mich allein läßt, sogar ohne den Judas an der Öffnung in der Zellentür, scheint mir ein Beweis, daß alle Vorbereitungen getroffen sind, daß man an alles gedacht hat. Der Weg der Justiz ist unverrückbar festgesetzt. Man hat das Gerüst im Hofe aufgerichtet und des harten Bodens wegen Schwierigkeiten mit den Holzpfeilern gehabt. Man will also der beleidigten Sittlichkeit Genüge tun. Man will es aber in der mildesten Form. Denn mein Geständnis fehlt ihnen. Deshalb fühlen sie sich bei ihrem Todesurteil nicht wohl. Ich weiß es. Das ist der Grund auch, weshalb man meinem Freund statt des Abbés Zutritt gestattet, es ist freilich auch meine Herzensbitte gewesen, und ich habe keine andere geäußert seit dem Tage meiner Verhaftung. Nun müssen Sie trinken, man hat den Wein aus meinem Hause geholt und zu diesem Zweck die Siegel an der Kellertür lösen und wieder befestigen müssen. Nun bitte ich Sie, zu trinken. Wir haben Gäste stets gern gesehen, Felice und ich. Nun bewirte ich Sie als letzten Gast und ärmlich genug. Der Wein wäre gut. Er stammt aus meinem Weingut bei Macon, es ist Südseite, eine sehr edle Rebe und Beerenauslese. Man muß dieses ...«

Er vollendet den Satz nicht, sondern erhebt sich und reicht dem Dichter den Krug, der etwa vier Liter fassen mag. Offenbar hat der Krug früher dazu gedient, das Waschwasser für die Zellengefangenen zu enthalten. Der Dichter kostet den Wein, und während er die ersten Tropfen des unvergleichlichen Getränkes mit seiner dicken Zunge gegen den Gaumen preßt, nähert sich ihm Peytel; Peytel schlingt seinen linken Arm, der in den flauschigen, aber doch strengen Stoff der Gefängniskleidung gehüllt ist, um Balzacs schwellenden, wie eine Marmorsäule weißen, festen Hals; seine seidenweiche, sehr fein gekörnte, sehr kühle Wange legt er an Balzacs feistes, aufgeschwollenes Gesicht, seine Lippen bringt er, wobei sich die Lippenwinkel zum erstenmal ausweiten und das dunkelrote, korallenfarbige, obstduftende Zahnfleisch sichtbar werden lassen, ganz in die Nähe von Balzacs Lippen, die schlürfend auf dem Rande des Kruges ruhen. Beide Männer trinken zu gleicher Zeit. Ihre Blicke begegnen einander nicht. Ihr Atem hebt sich in gleicher Schnelligkeit, der des Dichters schwerer unter der fein gefältelten, wenn auch zerknitterten Hemdbrust, der des Gefangenen leichter unter dem knisternden, rauhen, grobhaarigen Gefängniskittel. Der Wein hat einen unbeschreiblichen Blumengeschmack, dem doch eine, wenn auch kaum zu ahnende Spur von dem eigenartigen Duft der gärenden Erde, besonders wie sie im Herbst auf Waldwegen nach einem Regen in der Sonne trocknet, beigemischt ist. Man trinkt den Wein, aber er löscht den Durst so wenig, daß man nie absetzen möchte. Balzac tut es dennoch. Kaum hat er's getan, als auch Peytel seinen Mund entfernt. Er nimmt den Krug in beide Hände, wobei Daumen und Zeigefinger einen Ring um das hellgrau blinkende Gefäß bilden. Dann stellt er ihn in eine Ecke, vorsichtig legt er die flache goldene Uhr darunter, denn der Boden der Zelle ist abschüssig, und das schwere Gefäß steht nicht sehr sicher. Es fällt kein Wort. Die Männer sehen schweigend einander an ... Das Gefängnishaus, obwohl in ihm so viele Männer in dieser Nacht wachen, ist totenstill. Es ist noch vor Mitternacht.


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