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VII

Am nächsten Morgen hat sich der Dichter in dem Hof des Gerichtspalastes eingefunden. Der alte Notar Marville macht sich aus einer Gruppe von Anwälten los und eilt sofort auf Balzac zu. Nach kurzer Begrüßung sagt Balzac: »Ich komme wegen des Notars Peytel. Mir hat Lablanche in seinem Auftrag, und zwar sehr dringend, geschrieben. Ich bin entschlossen, mich für ihn einzusetzen, und will Sie um das gleiche bitten.«

»Es ist das erste Mal seit Menschengedenken, daß man einen Notar des Mordes beschuldigt. Man kann die Augen nicht vor der Verderbtheit der Mittelklasse schließen. Selbst unsere konservative Zeitung enthält eine genaue Schilderung des Verbrechens.«

»Doch nicht Peytels Verbrechen? Sie trauen diesem armen Jungen doch keinen Mord zu?«

»Balzac zweifelt noch? Ich traue jedem alles zu, das betrachte ich als meinen Beruf. Dies schützt vor Enttäuschungen.«

»Aber hören Sie doch! Er ist mein Freund. War meine einzige Gesellschaft lange Zeit.«

»Nun, ich nehme an, Sie haben Beweise!«

»Gewiß, den stärksten Beweis, mein Gefühl. Kenne ich die Menschen nicht? Mein Blick geht durch sie wie durch Glas. Vor mir hat man keine Geheimnisse.«

»Das bezweifelt ja auch niemand. Aber womit kann ich Ihnen dienen?«

»Übernehmen Sie die Verteidigung!«

»Wüßte ich, daß er unschuldig ist, ich zögerte keinen Augenblick, obwohl jeder Tag Abwesenheit von Paris mich 500 Franken kostet. Ich täte es, sowenig ich mich sonst Ideale kosten lasse, schon der Ehre unseres Standes zuliebe. Aber, lieber Balzac, muß nicht viel gegen ihn sprechen, wenn es so weit gekommen ist? Wir haben das humanste unter allen Gerichtsverfahren Europas. Wird ein Verbrechen in Frankreich begangen, so kommt der Verdächtige zuerst einmal auf die Wache. Klärt sich hier die Angelegenheit nicht völlig auf, dann bittet man ihn zum Polizeikommissar. Dieser unterwirft den Betreffenden dem ersten Verhör. Ich sage ausdrücklich, ›den Betreffenden‹ und nicht ›den Angeklagten‹, denn noch der Polizeikommissar kann einen offenkundigen Irrtum in der Person und in der Sache aufklären, und kein weiteres Verfahren belastet dann den Unschuldigen. Erst wenn auch der Kommissar zur Überzeugung kommt, daß etwas Ernstes vorliegt, verhaftet man den Mann, führt ihn ins Depot der Präfektur. Nun steht er zur Verfügung des Untersuchungsrichters, der je nach der Schwere des Falles mehr oder minder schleunig herbeieilt. Noch ist die Haft provisorisch.«

»Ach ja«, sagt Balzac, »das ist alles sehr schön, erschöpft aber die Sache noch lange nicht. Sie befinden sich hier im Hofe des Justizpalastes. Dort aber, in der Provinz, in Macon, stehen sich Ursache und Wirkung ganz anders gegenüber. Sie lesen das Protokoll, aber welche Intrige den Untergrund bildet, welche Rivalität zwischen zwei Provinzgrößen, das können Sie von hier unmöglich entscheiden.«

»Lieber Herr Balzac, muß es denn überall ein Komplott geben? Es ist doch Menschenblut vergossen worden, das sagt genug.«

»Das sagt gar nichts. Peytel ist nicht nur Angeklagter, er ist auch Zeuge. Er ist der einzig Überlebende.«

»Vergessen Sie nicht, ohne zwingende Gründe hätte man einen Rechtsmenschen nicht verhaftet.«

»Wieder muß ich Ihnen widersprechen. Gerade weil er ein Rechtsmensch ist, will das Gericht alle strengen Maßregeln gegen ihn anwenden, damit man nicht sage, es handle parteiisch für einen Notar.«

»Aber die Stimme der Bevölkerung ist einstimmig gegen ihn.«

»Das beweist erst recht, daß er unschuldig ist; lassen Sie mich die Provinz kennen!«

»Wir leben doch in einem Rechtsstaate.«

»Gestatten Sie mir, daß ich diese Tatsache ganz im allgemeinen anerkenne, aber im besonderen bezweifle. Ist denn die Ordnung des Rechts, die Sie mir eben so gütig auseinandergesetzt haben, als wäre ich ein blutiger Neuling und nicht Ihr alter gelehriger Schüler, ist denn die Ordnung des Rechtes bei uns so vollkommen, ist das Verfahren so fehlerfrei, daß noch nie ein Mann unschuldig angeklagt, verfolgt, verurteilt, gefoltert, gevierteilt oder gerädert worden ist?«

»Was wollen Sie damit für Peytel sagen?«

»Man darf vielleicht nicht alles offen aussprechen. Anklagen sind unnütz, wenn man nichts beweisen kann. Auch ich ziehe meinen Hut vor einer res judicata . Aber das kann ich nicht verschweigen: Das furchtbarste ist: gegen einen Unglücklichen ist jeder im Recht.«

»Nun, Herr von Balzac, was dann?«

»Wir können Peytel nicht allein lassen.«

»Gut. Wenn Sie wollen, Herr von Balzac, dann werden wir ihn gemeinsam verteidigen. Sie, lieber Balzac, sind ebenso Rechtsgelehrter wie wir. Sie kennen die Sittlichkeit und ihre moralischen Gesetze, Ihnen ist das Recht als bürgerliche Funktion vertraut. Sie haben die Seelen der Menschen in Ihren Akten, in Ihren Romanen. Ich kenne den andern Teil des Rechtes, die Form. Mehr bedarf es nicht.«

»Wußte ich es doch! Seien Sie versichert, teuerster Marville, hätte ich nicht die tiefste Überzeugung von der Unschuld meines Freundes, sähe ich diesen Mann Peytel nicht so klar vor mir, wie ich Sie an diesem klaren Wintermorgen sehe, ich hätte mich von meiner Arbeit nicht einen Schritt aus meinem Landhause weggerührt. Was mich ein verlorener Tag an Geld und Ruhm kostet, ist nicht auszurechnen. Aber dieser Peytel ist nicht der erste beste. Es ist schon einmal dagewesen, daß man ihn ungerechterweise beschuldigt hat. Als er vor sechs Jahren die Kasse von ›Le Voleur‹ zu verwalten hatte, fehlten tausend Franken. Wo sind sie? Peytel hat große Ausgaben gemacht, Wagen und Pferde gehalten, seine Freunde, wie mich, unterstützt: kein Zweifel, Peytel hat die Bücher gefälscht, der ›Dieb‹ war von einem Dieb bestohlen worden. Was wollen Sie, so beginnt ein Verbrechen, und der erste Schritt zum Schafott ist getan. Peytel borgt nun in aller Eile tausend Franken, vergrößert dadurch den Verdacht gegen sich, um so prachtvoller allerdings nachher auch sein Triumph. Wollen Sie wetten, daß wir einen Triumph auch in dieser Sache feiern, wie er in den Annalen der Gerichte nicht erlebt worden ist? Am Tage der Revision der Kasse macht der Kassierer des ›Voleur‹ Ordnung in der Lade des Schreibtisches. Da kommen plötzlich tausend Franken ans Licht, es ist eine alte, oft gebrauchte, zerknitterte Note, die sich an der Seite der Schreibtischlade eingeklemmt hat. Ich habe die Situation nie vergessen können. Und Sie werden dieselbe Situation bei du Tillet finden.«

»Wer ist du Tillet?«

»Eine wichtige Figur in Cäsar Birotteau.«

»Und wer ist Cäsar Birotteau?«

»Ein Buch, von dem bald ganz Paris widerhallen wird. Lassen Sie mich weitererzählen. Was tut du Tillet?«

»Was tut Peytel?«

»Ja, wie heißt er eigentlich? Sehen Sie, lieber Meister, da liegt schon die ganze Geschichte des Individuums in der modernen Gesellschaft. Im Anfang war der Name, sagt mit vollem Recht der Beginn des Evangeliums. Ich werde Ihnen nun den Mann zeigen, wie er wirklich ist.«

»Ja, Peytel? Ich bin gespannt.«

»Ja, Sie haben ganz recht. Im Jahre 1814, jedenfalls nach Napoleons Sturz (ich beschäftige mich jetzt sehr eingehend mit Napoleon, Sie werden bald die Früchte dieses Studiums sehen, aber dies ganz unter uns), meldet er sich bei Birotteau, dem Parfümeriehändler. Man hat ihn schon in einem andern Parfümerieladen abgewiesen. Aber das verdoppelt, verdreifacht nur seine Energie. Denn die jungen Leute aus der Provinz sind alle begeisterte Schüler des Korsen. Er verlangt Anteil am Gewinn, er, ein zwanzigjähriger Mann ohne Vermögen, ohne Warenkenntnis, ohne geschäftliche Verbindungen, ja ohne Namen. Unterbrechen Sie mich nicht, ich weiß ganz genau, was Sie fragen wollen, und werde Ihnen alle Fragen sofort beantworten. Er ist der uneheliche Sohn eines armen Mädchens aus Tillet, Sie kennen den Ort unweit Bordeaux. In einer Nacht des Jahres 93 hat die arme Magd im Garten des Pfarrers ein Kind zur Welt gebracht. Der gute Priester nimmt das Kind zu sich, tauft es auf den Namen Ferdinand, das ist der Name des Kalenderheiligen dieses Tages, er zieht es auf, hält es wie sein eigen Blut. 1804 stirbt der gute Priester, ohne ein ausreichendes Erbe für den elfjährigen Knaben zu hinterlassen. Nach Paris verschlagen, führt Ferdinand ein Flibustierleben.«

»Herr von Balzac, kehren wir zur Wirklichkeit zurück!«

»Wir sind mitten darin! Der junge Mensch nennt sich einfach Ferdinand, ohne Familiennamen. Diese Anonymität, das begreifen Sie am besten, ist von besonderem Vorteil für ihn. Denn wir kommen in die schwersten Jahre des Kaiserreiches, Napoleon preßt der Nation die letzten Blutstropfen aus. Unser Ferdinand wird in keiner Liste geführt, er lebt ruhig in Paris, während sich die edelgeborene Jugend Frankreichs auf den Schlachtfeldern verblutet. Im Jahre 15 erst hält er es für erforderlich, sich einen Zivilstand zu verschaffen. Er beantragt bei den Gerichten von Andelys, daß seinem Namen das ominöse ›du‹ beigefügt wird. Trotz seiner Jugend ist du Tillet mit allen Schlichen der Schikane vertraut, und das beweist sein fulminanter Aufstieg, wie ich Ihnen erzählen will.«

Balzac ist mit äußerster Lebhaftigkeit bei der Sache. Mit seinen nervigen kurzen Armen gestikulierend, spricht er schnell, wobei bisweilen ein pfeifender Ton aus einer Zahnlücke hervorbricht. Er lebt ganz in seiner Romanfigur du Tillet. Peytel hat er völlig vergessen.

Er verabschiedet sich von dem erstaunten Marville, ohne ihn zu Wort kommen zu lassen, und kehrt so schnell nach Les Jardies zurück, daß er noch vor Mittag wieder eintrifft. Er macht sich sofort an die Arbeit, um sechs Uhr abends begibt er sich zur Ruhe, lebt und arbeitet so drei Wochen ohne Unterbrechung.


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