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XVII

Balzac war mit seiner Erzählung noch nicht zu Ende, als sein Diener François zum zweiten Male eintrat, auf den Dichter zulief und ihm eine wichtige Nachricht ins Ohr zu flüstern schien. Der Dichter erhob sich, folgte dem Diener über die Terrasse ins Freie, wo man ihn zu der Mauer seines Anwesens rennen sah.

Kaum ist aber der Dichter über die Schwelle, als die Versammlung der Gäste aufzuatmen beginnt und sich für das während der langen Erzählung auferlegte Schweigen durch um so lebhaftere und lautere Unterhaltung schadlos hält, denn nun folgen sich Rede und Gegenrede, nur von Gelächter unterbrochen, so schnell, daß man kaum weiß, wer das letzte Wort gehabt hat und wem man antworten soll.

»Da haben Sie den großen Mann!«

»Wen? Balzac oder Napoleon?«

»Beide.«

»Napoleon hält sich für einen Gott, und Balzac hält sich für Napoleon.«

»Sein Fleiß, seine Arbeitskraft sind übermenschlich. Als er uns empfing, hatte er zehn Stunden angestrengtester Arbeit hinter sich.«

»Wohin ist er entschwunden? Ein galanter Besuch?«

»Ich sehe ihn oben im Garten stehen.«

»Ja, nun erkenne ich ihn auch. Er stemmt sich gegen die Mauer mit seinen breiten Schultern und seinem riesigen Bauch, als wollte er die Mauer zum Einsturz bringen.«

»Man wird es nie erfahren. Sein Diener hilft ihm. Beide ohne Mantel, ohne Hut und Regenschirm.«

»Die Wege Gottes sind unergründlich. Die Wege Balzacs sind grundlos, denn man versinkt im Lehm.«

»Auch an der andern Seite der Gartenmauer scheinen Leute mit Fackeln zu stehen.«

»Gartenfest in der Villa Balzac.«

»Mit Musikbegleitung, Gesang und Tanz.«

»Er hat uns keine einzige Dame eingeladen.«

»Aber der Wein läßt sich trinken.«

»Es ist das Übliche. Wer hat einen Wagen bestellt?«

»Ich habe sechs Plätze frei. Wer auf dem Bock sitzt, zahlt das Doppelte.«

»Kinder unter sechs Jahren sind frei.«

»Damen und kleine Hunde werden auf den Schoß genommen.«

»Kommt unser Gastgeber nicht zurück? Überläßt er uns schutzlos dem Wind und Wetter und den erbarmungslosen Kalauern seiner Gäste?«

»Werden wir ihn nimmer sehen?«

»Er läßt uns allein. Vornehm wie er ist, damit wir in Ruhe über ihn herfallen können.«

»Er wendet sich um. Man sieht sein Vollmondgesicht im Schein der Fackel. Dunkelrot. Der muß Blut haben!«

»Er sieht uns an.«

»Aber hören kann er uns nicht.«

»Mir tut er leid. Er ist krank. Sein Auge ist gelb wie vom Fieber.«

»Sie irren. Er hat die Gesundheit eines jungen Stieres. Nichts wirft ihn um.«

»Wir können mit Stolz sagen, wir waren heute bei dem genialsten Mann von Paris zu Gast. Nie sah ich eine so fabelhafte Stirn bei einem Menschen.«

»Kein Wunder, daß ihm dann kein Hut paßt. Sehen Sie nur, wie er sich, seiner Dicke ungeachtet, auf die Fußspitzen stellt und die Mauer von oben umfaßt und an seine breite Brust drückt, als wäre es die schönste Geliebte. Was soll das bedeuten? Sollte sie wanken wie sein Napoleon oder kurz vor dem Falle sein wie sein famoser Freund Peytel? Was bedeutet das?«

»Nichts. Er ist verrückt. Ich habe seinen Hinterkopf betastet, wie er den Hinterkopf seines Vater Goriot betastet hat. Ich habe die Knochenauswüchse des Monomanen bei ihm entdeckt und wundere mich über nichts.«

»Haben Sie seine Hände gesehen? Das sind Stücke fürs Museum, wenn man sie in Marmor abbildet oder in Gips gießt. Schöner als schön! Daran erkennt man den Adel. Adel verleugnet sich nicht.«

»Mein Lieber, Balzac ist ein Plebejer. Er ist so adlig wie dieses Fischmesser hier. Sein Großvater ging hinter dem Pfluge. Sein Väterchen besorgte Nachtjacken und unaussprechliche Geschirre für die Kranken und machte Geschäfte mit den Nahrungsmitteln, die er den Insassen seines Hospitals entzog. So wird man reich in Paris und ebenso adlig. Sie glauben mir nicht? Würdigen Sie Balzacs Füße Ihrer Aufmerksamkeit. Ich kannte einen Schuster, der seine Kunden, je nach dem Fuß, den sie ihm hinreichten, mit ›Herr Graf‹ oder einfach ›mein Herr‹ ansprach oder mit ›du‹.«

»Das ist eine Lüge, aber bezaubernd gesagt. Ich persönlich kenne den Herrn, bei dem wir zu Gast sind, nicht näher. Er ist Schriftsteller? Schreibt er unter seinem eigenen Namen?«

»Sie beschämen nicht ihn, sondern sich selbst, mein Herr, wenn Sie seinen Namen nicht kennen. Sittenschilderung, geistiger Tiefblick, Beobachtungsgabe, Einsicht in die Seelen sind bei ihm unvergleichlich.«

»Sie sind parteiisch. Sie sind sein Verleger.«

»Bitte! Das sagt alle Welt. Lesen Sie den Schluß von Louis Lambert.«

»Ich habe genug an dem Napoleon. Wir sind doch nicht in der Schule!«

»Ich zitiere: Das Universum ist die Verschiedenheit in der Einheit. Solche Sätze formt nur ein überlegenes Genie, das seinesgleichen nicht hat. Hören Sie weiter: Die Bewegung ist das Mittel. Die Zahl ist das Ergebnis. Das Ende ist die Rückkehr aller Dinge zur Einheit, das ist zu Gott. Das sagt er auch in seinem Napoleon.«

»Ja, ich verstehe. Der Frosch ist die Klapperschlange. Die Geldbörse ist der Maulwurf des Vermögens. Das Vermögen ist der verlorengegangene Bankrott.«

»Ausgezeichnet! Das Ende des Endes ist, daß die Verleger all ihr Geld an unsern Herrn Dichter verlieren. Da kennt er keine Gnade!«

»Er ist der nüchternste Geschäftsmann. Sie und mein Bankier kalkulieren nicht besser als er.«

»Er will Napoleon nachahmen. Das wäre noch angängig. Aber er will außerdem reich sein wie ein Nabob, geliebt wie ein Don Juan, fruchtbar wie Dumas, gelesen von allen Dienstmädchen und Großfürstinnen Europas wie Eugène Sue. Das leiste ein Mensch!«

»Nicht umsonst ist Tours seine Heimatstadt. Dorther kommen die unersättlichen Fresser.«

»Sie übertreiben. Er ißt bloß Obst, er trinkt nur Wasser und Kaffee. Sein Leben ist ein ständiges Fasten. Er ist mäßig wie ein junges Mädchen.«

»Er sieht Paris wie ein zugereister Provinziale. Da wimmelt es von Millionen, fürstlichen Soupers, faustgroßen Diamanten, Verbrechern à la Vautrin, Engeln à la Pauline (diese doppelt), Wucherern wie Gobseck, Vätern wie Goriot. Das mache einer nach! Hoho!

Und immer Schnupfen in der großen Nase.«

»Wie das?«

»Sie können noch fragen: weil er immer den Hut vor sich selbst abnimmt!«

»Hahaha!«

»Lachen Sie, soviel Sie wollen. Eugénie Grandet, Louis Lambert, Père Goriot, Caesar Birotteau sind unsterblich. Sein Ruhm ist Frankreichs Ruhm.«

»Da muß ich, so leid es mir tut, widersprechen. Bei den Eskimos mag er berühmt sein, bei den Botokuden. Wir haben zuviel Geschmack!«

»Wir sind ihm zu große Räsoneure.«

»Aber seine Bücher sind doch in unzähligen Exemplaren verbreitet, sie haben ihm Millionen eingebracht.«

»Sie sagen das doch nicht im Ernst? Er ist von Schulden zerfressen wie ein Lazzarone von Läusen. Er hat sich an sie gewöhnt, sie an ihn, er spürt sie nicht mehr.«

»Sie glauben ihm doch die berühmten Schulden nicht? Alles Größenwahn.«

»Ein falscher Millionär!«

»Nein, ein falscher Bankrotteur!«

»Und hier das Sèvresporzellan? Die goldenen Leuchter? Das silberne Geschirr, die getriebenen Aufsätze?«

»Kam heute aus dem Leihhaus, wandert morgen dorthin zurück. Er wollte uns blenden. Verzeihliche Eitelkeit.«

»Nicht der erste Mann, den Frankreich im Elend verhungern läßt.«

»Für einen Verhungerten hat er sich ein schönes Bäuchlein angemästet.«

»Das hat er seinem Götzen Bonaparte nachgemacht.«

»Napoleons Genie steckt aber nicht unter seiner Weste, sondern unter seinem Hut.«

»Sechs Zoll Fett wärmen gut. Balzac braucht wie ein Bär keinen Pelz.«

»Bauch oder nicht, ich werde seine Rollen auf der Porte Saint-Martin spielen.«

»Man wird Sie auspfeifen und Ihnen das Haus über dem Kopfe anzünden.«

»Seine Dramen sollen viel besser als seine albernen Romane sein.«

»Das einzig Reizende an ihm ist sein Charakter. Er ist das reinste Kind und wird es bleiben.«

»Endlich das erlösende Wort!«

»Für sich selbst von der äußersten Anspruchslosigkeit...«

»Ja, man sieht es. Fastet selbst beim Fest. Begnügt sich mit Möbeln, die er mit Kohle an die Wände geschrieben hat.«

»Für die andern freigebig wie ein orientalischer Fürst.«

»Ich wüßte nicht, worauf sich Ihre Behauptung beziehen könnte?«

»Er hat leider nur Feinde!«

»Es ist leichter, dreißig Bände Makulatur pro anno hinzuschmieren, als sich eine geachtete bürgerliche Position und entsprechende Gesellschaftsstellung zu sichern.«

»Ich darf erwähnen, daß er in der Schule der schlechteste Schüler unter vierhundert war.«

»Die Geschichte Napoleons hat er jedenfalls gut auswendig gelernt!«

»Uns ließ er nicht zu Worte kommen. Auch wir haben unsern Napoleon erlebt, wenn auch nicht als Heiligen aus dem Kalender.«

»Stoßt an, setzt an, trinkt aus! Der Wein ist gut. Wein ist besser denn Tinte.«

»Lesen Sie Louis Lambert! Der rührendste Zauber eines einsamen, genialen Knaben ist in dem Buch! Erinnern Sie sich Paulines! Hier schreibt ein Herz für Herzen!«

»Sehen Sie, wie doch Menschen irren können. Mir sagte man, wenn Balzac die Nachricht vom Tode seines Vaters erfährt, stellt er sich vor den Spiegel und betrachtet die Wirkung des Kummers auf seine Physiognomie.«

»Das ist kein Widerspruch.«

»Doch! Können Sie mir einen Mann nennen, der eine Träne bei seinen Romanen geweint hat?«

»Männer weinen nicht.«

»Die Frauen um so mehr. Sie liegen ihm dutzendweise zu Füßen, können aber sein göttliches Antlitz nicht sehen, weil sein Bauch dazwischen steht.«

»Er ist der keuscheste aller Dichter.«

»Keusch? Ja. Dichter? Nein. Er kann nicht richtig französisch schreiben. Napoleon war kein Franzose, sondern Korse. Aber er konnte französisch, unsere Sprache verdankt ihm so viel wie Racine, seine diktierten Briefe sind klassisch.«

»An keinem Schriftsteller sah ich je einen so glühenden Drang zur Vollendung. Balzac ist...«

»Lassen wir den Schriftsteller. Mich interessiert der Mensch. Man erzählt sich, er hätte Kräfte wie ein Neger!«

»Da hat man Ihnen Märchen aus Tausendundeiner Nacht erzählt. Der Gute liebt nur mit seiner Feder! Er verliebt sich schriftlich, küßt schriftlich...«

»Und bekommt schriftlich Kinder. Das ist das moderne neunzehnte Jahrhundert!«

»Kehren wir zu seiner Schriftstellern zurück. Ich erkenne gewiß eine bestimmte Begabung an, denn der Erfolg hat immer irgendwie seine Berechtigung, aber diese ewige Übertreibung, diese Abwesenheit des guten Geschmacks. Keine Klarheit. Was nicht klar ist, ist nicht französisch. Er mag zu den Deutschen und Russen gehen!«

»Laßt mich auch einmal zu Worte kommen. Jetzt will ich reden, und ihr könnt saufen. Sehen Sie ihn doch von seinem Lehmhügel zu uns herunterlächeln! Wie er im Regen trieft, wie er seine kurzen Ärmchen ausstreckt. Wie das Wasser über seine stark pomadisierten Haare herabläuft und an seinem schönen Husarenschnurrbart sich fängt. Sie müssen zugeben, wie dieser Kerl da an der Mauer steht: der Herrgott von Frankreich hat einen guten Tag gehabt, als er den Kopf mit der Jupiterstirne über diesen Fettbauch stülpte! Er ist der genialste, lassen wir es schon dabei, und dabei der allerphantastischste aller grauhaarigen Fettwänste, damit haben wir ihn erschöpft, glaube ich.«

»Niemand hat ihn so verkannt wie Sie!«

»Ich urteile nicht. Ich beschreibe.«

»Mag sein, daß ihm Herzenszartheit fehlt. Aber sein Genie überschreitet alles gewohnte Maß. Mehr noch. Sein Innerstes ist gut, reich an Fülle des Wohlwollens, hilfsbereit.«

»Gerade das bestreite ich. Balzac, ein Egoist von der bittersten Observanz. Dabei größenwahnsinnig bis zur Lächerlichkeit und darüber.«

»Man lacht, man weint.«

»Lobt ihn niemand, lobt er sich selbst.«

»Eine so ungeheure Lebensfülle! Ein so unbändiger Wille zum Leben und Schaffen. Diese nicht zu zählende Vielfalt der Figuren.«

»Eine so ungeheure Verzweiflung. Abstoßende, düstere Hoffnungslosigkeit. Atheismus, völlige Abwesenheit wahrer Gläubigkeit. Immer die gleiche Figur, einmal als Kaufmann, dann als Edelmann, dann als Verbrecher verkleidet. Immer ein Parvenü. Stets die niedrigsten Leidenschaften. Neid, Wollust, Habsucht. Die Eltern gegen die Kinder, die Kinder gegen die Eltern, die Gatten gegeneinander aufgebracht, alle Menschen gegen Gott empört. Das ist nicht religiös, nicht schön, nicht französisch.«

»Aber wahr ist es! Das ist das Leben, wie wir es alle Tage sehen.«

»Aber er sieht es nicht. Er sieht es nicht, Phantasie gebe ich zu. Wahrheit nicht. Das ist der Grund, weshalb er nicht faßt, nicht ergreift, nicht rührt. Er liebt nicht, wird nicht geliebt, hat keinen zum Freund und ist keinem Freund.«

»Bitte, sehen Sie doch, die Mauer oben ist zusammengefallen. Wo sie stand, ist nichts mehr.«

»Man hat nichts gehört.«

»Sie ist lautlos gefallen. Balzac eilt an eine Stelle höher hinauf.«

»Ja, mir fiel die Stelle schon auf, als wir vorhin durch den Garten gingen. Der Böschungswinkel ist zu groß.«

»Zu klein, wollen Sie sagen.«

»Es beginnt zu schneien. Der Arme tut mir leid. Der Diener hält seine Jacke über ihn.«

»Sein Diener? Vielleicht sein Vater. Denn was seine Magd betrifft, sieht sie seiner Mutter verteufelt ähnlich!«

»Lassen Sie mich fortsetzen, was ich Ihnen vorhin sagte.«

»Beeilen Sie sich, denn Balzac scheint im Begriffe zu sein zurückzukommen.«

»Ich kann Sie nur dessen versichern, daß Ihre Ansicht falsch ist. Er hat Freunde und ist ihnen Freund. Er hat sich eben des Notars Peytel, der des Mordes an seiner Frau und seinem Diener beschuldigt wird, in der herzlichsten Weise angenommen.«

»Seine wiederholten Briefe aber nie mit einer Zeile beantwortet. Seine Verteidigung hat er Gott weiß wem überlassen.«

»Sowenig er dazu verpflichtet ist, so wird er ihm doch beistehen, ihn retten.«

»Er wird ihn zertreten, wie ich diese Nuß zertrete. Auf Teppiche brauchen wir in diesem Hause keine Rücksicht zu nehmen. Die Reste hebt niemand vom Boden auf. Das ist ihm Peytel. Ich wette jeden Betrag: ihm ist der Mensch als Mensch nichts. Hat er ihn benützt, in den Kehricht damit.«

»Schluß der Debatte. Die Mauer ist ihrer ganzen Länge nach eingestürzt.«


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