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II

Balzac öffnete den Brief, der von der Hand Charles Lablanches, eines ihm unbekannten Rechtsanwaltes aus Belley im Departement de l'Ain, stammte, und erfuhr durch die ersten Zeilen, daß der Brief auf die Bitte seines lieben Jugendfreundes Peytel geschrieben war. Die Schrift war eng, wie gestochen. Sie bezeugte, daß der Rechtsanwalt erst seit kurzem in seinem Gewerbe tätig war. Balzac selbst hatte zwischen seinem sechzehnten bis zwanzigsten Lebensjahre als Clerk in einem Notariatsbureau gearbeitet und wußte, daß die Schrift eines Rechtsmenschen sich schon in den ersten Jahren seiner beruflichen Tätigkeit so abnützt wie seine Schuhe oder sein Herz. Hier aber sprach eine unverdorbene, wohlmeinende, wenn auch etwas eitle Sinnesart, und was Lablanche in diesen feinen, leicht verschnörkelten Linienzügen von sich selbst und seiner Stellung zu Peytel aussagte, mußte für Lablanche einnehmen.

Peytel war eines todeswürdigen Verbrechens peinlich angeklagt. Man hatte ihn vor einigen Tagen (wieviel Tagen, war nicht deutlich ersichtlich) verhaftet, man hielt ihn allgemein für schuldig, auch Lablanche glaubte an Peytels Unschuld nicht. Der Angeklagte wehrte sich, von der ersten Stunde der Haft angefangen, gegen andere oder gegen sich; denn wozu hätte man ihm sonst Handschellen angelegt? Der Notar Peytel hatte vor kurzem geheiratet und sich dann in Belley in Südfrankreich niedergelassen. Er besaß einen eigenen, schönen Wagen. Sein Diener Louis Rey lenkte das Gefährt, als sich der Notar mit seiner jungen Frau Felice Ende Oktober auf eine Vergnügungsreise nach Macon begab.

Gegen zwei Uhr morgens, am ersten November, wurden die Einwohner des Städtchens Belley durch Lärmen, Pochen, Geschrei erweckt. Peytel war es, der zurückgekommen war. Er pochte an allen Türen, teils mit eisernen Türklopfern, teils indem er, durch die engen, krummen Straßen laufend, Kiesel auflas und, ohne dabei seinen Lauf und sein fast unartikuliertes Geschrei zu unterbrechen, die Steine gegen die verschlossenen Türen, an die hölzernen Fensterläden, an die nachtschwarzen Mauern warf. Der Schlaf einer kleinen Stadt ist fest. Auch war Lärm nachts nichts Ungewohntes, da der Postwagen von Lyon mit großem Gepolter, das dem Geprassel von Steinen nicht unähnlich klingt, achtspännig der hohen Steigung wegen bespannt, täglich gegen Morgen den kleinen Ort passierte.

Trotzdem wurde dem Notar Peytel nach sehr kurzer Zeit geöffnet. Der junge Anwalt Lablanche war es, der den Notar in seinen Armen auffing. Aber der Notar war von einer so furchtbaren körperlichen und seelischen Aufregung ergriffen, daß er seinen Bekannten nicht erkennen konnte oder wollte. Peytel schrie: »Alle Ärzte zu Hilfe! Alle zu Hilf! Alle Ärzte zu Hilfe!«

Aber nicht, wem zu Hilfe. Noch auch den Weg, den die Ärzte zu nehmen hätten, oder die Mittel und Werkzeuge, die sie mitbringen sollten, sondern bloß das eintönige, fast tierische, schauderhafte Gebrüll und sinnlose Rufen nach Hilfe. Der Anwalt und einige herbeigeeilte Bürger, in Nachtmütze und gestrickte Kamisole gehüllt, zitternd vor Kälte, in dem Nebel vermummt, der eben einem sehr starken Regen gefolgt war, die Hände bebend um flackernde Kerzen gespannt, alle umstanden den schreienden Notar.

Er war ein starker, hoher, etwa fünfunddreißigjähriger Mann. Er trug einen Radmantel mit vielen Kragen, dessen Stoff sich unter den krampfhaften Bewegungen spannte und bauschte. Er wurde nicht müde, nach Ärzten zu rufen, ohne den Menschen zu nennen, dem diese Hilfe gelten sollte.

Dann erscholl wieder sein fast tierisches Geheul, das, man weiß es nicht, entweder einem tiefen, für Menschen kaum noch erträglichen Kummer oder aber einem plötzlich ausgebrochenen unheilbaren Wahnsinn entspringen mußte. Aber wie das, da man den Notar doch als vernünftigen, erwerbstüchtigen, gemäßigten Mann kennt, der sogar Beziehungen zum Bischof unterhält? Den Eindruck des Natürlichen macht er nicht. Denn wer sollte von einem klugen, gebildeten Rechtsmenschen das Geheul eines angeschossenen Ebers erwarten, wenn ein solcher sich vor Schmerzen im Eichenlaub wälzt und sein Eberhaupt unter dem Laube zu verbergen sucht, wie gerade jetzt der Notar seinen entblößten Kopf mit den spitzen, weißen, vorstehenden Zähnen in den vielen erdbraunen Kragen seines Mantels?

Endlich bringt man Peytel zur Polizeiwache, die sich der Kirche gegenüber befindet. Im Vorraum der Amtsstube bricht der Mann zusammen. Sein Kopf, seine Haare triefen vom Regen, das sieht man jetzt im Lampenschein der Kanzlei. Er mußte dem Wetter lange ausgesetzt gewesen sein. Die Hände sind blau von Kälte und zittern, aber es gibt kein Blut.

Das düster funkelnde, gelblichgrüne, tiefe Auge weit aufgerissen und dabei doch ohne Ausdruck, ohne menschlichen Ausdruck wenigstens. Die Lippen, sehr stark gefärbt, zucken, wollen sich schließen und können es nicht. So stammelt er Worte, die ihm wider Willen zu entfließen scheinen, die er rasch noch einmal auffangen möchte und vor denen es ihm graut, ihm und den andern, die ihn umgeben.

Nach und nach weichen sie aus seiner engsten Nähe. Sehr schwer sind die ersten Sätze in ihrem Zusammenhange verständlich. Dann aber werden sie deutlicher und müssen es sein.


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