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Ich erwartete mit großer Ungeduld die Ankunft meiner Schwester und meines Schwagers. Endlich kamen sie. Jagiello war sehr glücklich. Judith war ernst, ihr Gesicht hatte etwas Strenges, Unfrohes angenommen, das sie bisher nicht gehabt hatte, und auch der Ton ihrer Stimme beim ersten Gespräch mit mir war von ungewohnter Schärfe. Und doch war sie es, die sich vielleicht am meisten um meine Gesundheit Sorgen machte. Ich bat sie um eine Unterredung. Sie verschob sie von Tag zu Tag. Sie wollte erst in ihrer Wohnung alles so eingerichtet haben, wie sie es sich vorgestellt hatte.

Ihr und ihrem Mann schien alles zu glücken. Man hatte meinem Schwager – nicht ohne Vermittlung meines Vaters, der damals fast ebenso abgöttisch an ihm hing wie an Judith – eine mittlere Stelle am statistischen Landesamt angeboten. Er, der schon seit langem seine Studien über die soziale Rolle der Kinderarbeit vernachlässigt hatte, ließ sich zuerst inständig bitten. Endlich überredete ihn mein Vater. Jagiello hatte nun eine geregelte Tätigkeit, und zu seinen Zinsen kam ein regelmäßiges Einkommen. Mein Vater war überglücklich. Auf seinen Jagiello baute er felsenfest, ihm vertraute er von jetzt an die Sorge für meine jüngeren Geschwister an.

Ich war nicht überglücklich, die Zeiten waren vorbei. Meine Gesundheit war nicht die beste, es mußte etwas geschehen. Ich konnte hoffen, daß nach meinem Tode mein Schwager zusammen mit Judith und mit meiner trotz ihrer paar grauen Haare noch ganz ungebrochenen Frau die Fürsorge für die Familie übernehmen würde. Mein Vater konnte dann ruhig die Augen schließen, meine alte, nun sehr kindisch gewordene, aber sehr gütige Mutter auch. Und ich? Ich hoffte – nicht auf einen mich von einem so trüben Leben erlösenden Tod, sondern immer noch auf die Hoffnung, auf das Leben, dem ich im Grunde immer dankbar gewesen bin, und mit Recht. Nur eine einzige ganz schwere Sorge hatte ich, die um Eveline. Das Kind brauchte viel Zärtlichkeit, aber auch viel milden Ernst. Sie durfte nicht ganz so werden wie ihre arme Mutter. Vor allem mußte sie aus meiner Nähe verschwinden. Es war eine unnütze Qual für uns beide, die wir von Herzen und für immer aneinander hingen, daß wir nicht mehr so zusammenleben sollten wie früher. Aber es mußte sein! Ich gestehe, daß ich noch einen Appell wagte. Ich suchte den Professor auf. Er war diesmal ungeduldiger als sonst. Meinen Zustand fand er nicht wesentlich gebessert. Ob er ihn verschlechtert fände, konnte ich nicht erfahren. Auf jeden Fall blieb er dabei: das Kind mußte fort. Meine Frau war unruhig. Sie sagte mir, Judith hätte sie auf mein elendes Aussehen aufmerksam gemacht. ›Ich lebe mit dir Tag für Tag. Ich kenne dich seit zwanzig Jahren. Mir ist, als wärest du nie anders gewesen, mir kommt vor, du hättest auch früher niemals besonders blühend ausgesehen. Wir haben eben beide ein paar graue Haare.‹ Ich sagte nichts. ›Bist du denn schon beim Arzt gewesen? Du kannst dir ja nicht selbst in das Innere sehen!‹ ›Gewiß‹, antwortete ich. ›Und?‹ ›Er meint, meine Lunge sei nicht die festeste, ich solle mich vor Erkältung schützen und sehr schonen.‹ ›Aber vom Rauchen hat er nichts gesagt?‹ ›Du weißt doch, daß ich schon seit Monaten nicht rauche.‹ ›Und warum meidest du die arme Nischy? Sie ist todtraurig darüber und läßt dich durch mich bitten, du solltest ihr ihre Ungezogenheiten verzeihen. Sei nicht so streng! Es ist ja nur ein dreijähriges verwöhntes Kind.‹ ›Ich bin nicht streng‹, sagte ich, ›kennst du mich denn von dieser Seite?‹ ›Das Kind beklagt sich aber mit Recht‹, sagte sie. ›Das Kind muß aus dem Haus. Der Arzt hält es für unbedingt erforderlich.‹ ›Aber warum denn? Wird denn für das Mäderl nicht alles getan? Könnte die leibliche Mutter besser gesorgt haben, als ich es tue? Was hast du mir vorzuwerfen?‹ ›Ich dir? Nichts.‹ ›Ich habe sogar mit deiner Schwester Frieden geschlossen und ihr höflich Abbitte geleistet dafür, daß sie mich ein Mensch und mein Kind einen Bankert geschimpft hat. Was kann ich denn noch tun?‹ ›Ihr müßt euch alle vertragen‹, sagte ich, ›das Kind soll zu Judith, und du sollst im Anfang alle Tage nachsehen kommen.‹ ›Das ist unmöglich‹, sagte meine Frau, ›zuerst zwangst du mich, mein eigenes Kind fortzugeben ...‹ ›Ich zwinge dich nie zu etwas‹, sagte ich müde, ›du wolltest unserem Jungen die angeblichen Demütigungen ersparen.‹ ›Ach, nichts als schönes Gerede‹, sagte sie, ›du magst ihn einfach nicht! Ja, wenn es ein Kind von deiner teueren Eveline wäre, dann ...‹ ›Nein, liebste Vally‹, sagte ich, ›verstehst du denn nicht, wie schwer ich mich von Evelines Kind trenne?‹ ›Wie schwer? Wie schwer?! Hätte ich dich nur nie gesehen!‹ rief meine Frau fassungslos, ›was soll denn aus uns allen werden? Bist du denn ernstlich krank? Hat dich dieses unselige Teufelsweib vielleicht gar mit ihrem verfluchten Leiden angesteckt? Jagiello hat mir etwas Derartiges erzählt, aber ich habe es für eitel Tücke und Bosheit von Seiten Judiths gehalten. Kann denn der Herrgott im Himmel so etwas zugeben? Mir meinen Mann stehlen, mir den Bankert aufbürden und mir den Mann noch dazu mit Schwindsucht anstecken? Ich liebe dich doch! Ich habe dir alles verziehen. Dein Kind ist mir näher jetzt als das meine. Was soll denn nur werden?‹ ›Sie begann in fast unverständlichen Worten zu jammern und zu sich selbst zu sprechen, und das Weinen erschütterte ihre ganze schwerfällige, sonst so solide Gestalt. Ich wischte ihr die Tränen mit meinem Taschentuch aus den geröteten Augen, ich ordnete ihre verwühlten grauen Haare. Ich streichelte ihre Schulter, die unter meinen Fingern bebte. Das Telephon ging, ich wurde von Patienten verlangt. Nachher mußte ich ins Institut. Als ich heimkam, hatte ich kaum Zeit, etwas zu essen, es warteten neue Patienten auf mich. Ich war ein sehr gesuchter Arzt, weil man mir unverdienter- oder nicht ganz verdienterweise einen besonders klaren diagnostischen Blick und eine sehr leichte Hand nachsagte, und mein Einkommen überstieg jetzt das Einkommen meines Vaters in den ersten Jahren seiner Praxis, auch auf Friedenswährung umgerechnet. Meine Frau hätte aber abends in unserem gemeinsamen Schlafzimmer mit mir sprechen können. Sie tat es nicht, sie schonte mich, sie gönnte mir Ruhe.

Sie kochte nun selbst. Ich bekam alle Leckerbissen, die meinen etwas schwachen Appetit anregen konnten. Aber mich reizte nichts, es sei denn der Gedanke an etwas Ruhe. Meine Frau war es, die Judith veranlaßte, sich endlich mit mir in einem Kaffeehaus der Stadt zu verabreden. Denn daheim waren wir nie ungestört. Meine Eltern wollten, wie alte Leute oft, ja nicht übergangen sein, sie wollten bei allem mitreden, verstanden aber die gänzlich veränderten Zeitumstände nicht mehr.

Zu dieser Unterredung im Kaffeehaus erschien Judith mit ihrem ganzen prachtvollen Schmuck und sehr elegant gekleidet. Sie war noch keine neunzehn Jahre, aber der unbeschreibliche Schmelz ihrer ersten Jugend war schon vorbei. Mit einem vorwurfsvollen Blick empfing sie mich, denn ich hatte mich um einige Minuten verspätet. Es war schwer, ihr klarzumachen, was ich von ihr wollte. Die Gedanken gingen bei ihr durcheinander, kreisten aber immer um sich selbst. Zuerst die wütendsten Vorwürfe, über die Beleidigung durch das unselige Hochzeitsgeschenk, dann ein Geständnis unter Erröten, daß sie sich immer für mich geopfert habe, daß ich ihre seelische, reine, selbstlose Liebe immer von mir gestoßen hätte, und sie hätte doch nur den angebeteten Bruder in mir gesehen, nie den schönen Mann (!), sie hätte mich vor bösen Weibern wie Walpurgis und Eveline bewahren wollen. Sie hätte nie geheiratet, wenn ich ihr nur erlaubt hätte, meinen Haushalt zu führen. Sie vergleiche leider jetzt ihren Mann mit mir und dürfe es ihm doch nicht sagen. Endlich gestand sie, mit einem kalten Blick, sie sei von ihm in der Hoffnung, ganz so, als wäre es meine Schuld, daß sie sich – zuerst an den alten reichen Gentleman, dann an einen Müßiggänger und Schwächling wie Jagiello fortgeworfen hätte. Ich nahm ihre kleinen hübschen, sehr warmen und weichen Hände und zog sie etwas zu mir heran. Sie gab unerwartet nach, und beinahe wäre sie mir in die Arme gefallen. Sie hatte den Kopf mit dem eleganten Hütchen gebeugt, und es fielen dicke Tränen aus ihren Augen auf die Tischplatte. ›Du bist die einzige, Judith‹, log ich, ›der ich ein wichtiges Geheimnis mitteile. Ich bin etwas leidend. Ich kann mich um die kleine Eveline nicht so kümmern, wie es das Kind braucht. Sieh nun, du wirst in ein paar Monaten selbst ein Kind haben. Nimm jetzt schon deine kleine Nichte zu dir, damit befreist du mich von einer großen Sorge, und ich bin dir immer dankbar. Ich ...‹ ›Du brauchst nicht weiter zu sprechen, Bruder, du Lieber, du, ich sehe, wie dich das Reden anstrengt. Ich tue alles, was dein Wunsch ist. Du kannst das Kind jeden Tag bei uns sehen, oder besser, ich werde es dir jeden Nachmittag nach der Sprechstunde bringen, wenn du willst.‹ ›Nein, Judith‹, sagte ich. ›Ich möchte nicht, daß das Kind zwischen den beiden Häusern hin und her gezerrt wird. Wenigstens in der ersten Zeit, in den ersten Jahren soll es sich nur bei dir heimisch fühlen. Nur im Anfang lasse Vally kommen. Ja? Gut! Du bist jung, dein Mann ist jung, ihr werdet also immer ... soweit man vorausblicken kann ... Unsere Eltern ...‹ Mich überkam ein Hustenanfall. Das Kaffeehaus war überheizt, die Luft zum Schneiden dick von Zigarettenrauch. Wir zahlten schnell, standen auf und gingen. Auf der Straße hängte sich meine Schwester schwer in meinen Arm. Ich ließ sie gewähren, obwohl mein Herz von der Anstrengung wütend pochte und ich fast den Atem verlor.

Am nächsten Tage übersiedelte die Kleine zu ihrer Tante. Ich kam gerade die Treppe herauf, als sie, in ihrem weißen Pelzmäntelchen mit dem neuen Pelzkäppchen, an der Hand ihrer stolzen schönen Tante Judith die Treppe hinabkam, während sie im anderen Arm ihre liebsten Spielzeuge, einen Bären und eine abgenützte alte Puppe, hielt. Sie sah mich kaum an und ging mit starrem Gesichtchen und verzerrten Lippen böse an mir vorbei.

Trotzdem meine Frau während dieser ganzen drei Jahre aufrichtig und wahrhaftig an dem Kind gehangen hatte, atmete sie auf, als es fort war. Sie dachte, ich würde ihr die Liebe zuwenden, die ich für Eveline gehabt hatte. Ich versprach ihr alles, was sie wollte und noch mehr. Ich sagte ihr zu, ich würde sobald wie möglich unseren Jungen besuchen, über dessen Zukunftsaussichten und Beruf wir Eltern uns jetzt bald klarwerden mußten. Mein Vater, der jetzt täglich zweimal die Kirche aufsuchte, hätte nicht ungern gesehen, wenn der Junge Geistlicher geworden wäre, am besten in einem Kloster. Aber der Junge zeigte keine Vorliebe für den geistlichen Stand, er war ein höchst mittelmäßiger Schüler, und es war am besten, ein Handwerk für ihn zu wählen. Er hatte von mir und von seinem Großvater das technische Geschick, die leichte Hand. Er war, nach seinen Briefen an die Mutter zu urteilen, sparsam, gutmütig, in allem etwas langsam. Er war immer freundlich, schien aber niemanden mit seinem ganzen Herzen zu lieben. Jähzornig war er nicht. Mit Geld ging er gut um. Er hatte seine Art braven Stolz und zog sich ohne Kummer sofort zurück, wo er nicht gern gesehen war. Vor allem war er kerngesund, und ich hoffte, daß er sich im Leben leicht zurechtfinden würde, woran er selbst nie zweifelte.

Für mich hoffte ich nun auf die völlige Genesung, die der Professor nicht für ausgeschlossen hielt, auch wenn ich noch nichts für mich hatte tun wollen und können.


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