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2

Ich blieb bis zum Sonntag bei Mohrauer, und diese Zeit der Ruhe tat mir sehr wohl. Am letzten Abend ermahnte er mich zur Vernunft. Ich rauchte und schwieg. Warf er mir meine Tränen vor? ›Man lebt eben nicht ungestraft mit einer Eveline‹, sagte er.

Solange ich bei ihm am Tische saß, fühlte ich mich so gut, so friedensvoll. Die Hitze- und Kälteschauer der letzten Wochen waren vorbei, ich glaubte, sie würden nicht mehr wiederkehren. Ich irrte mich. Schon auf der Treppe durchrieselte es mich wieder so unheimlich. War ich krank? Sollte das Wort meines Freundes: ›man lebt nicht ungestraft mit einer Eveline‹ bedeuten, daß ich an der Krankheit litt, oder nun an ihr zu leiden begann, an der sie gestorben war, an Lungenschwindsucht? Ich hätte sofort die Bestätigung haben können, ich hätte bloß die zwanzig Treppenstufen zu meinem alten Freund zurückzugehen brauchen, um ihn um eine Untersuchung zu bitten. Aber ich tat es nicht. Ich legte mich zu Bett.

Ich schlief nicht. Das Fieber durchströmte mich jetzt mit großer Kraft. Aber es machte mich nicht trübe. Es machte mich klar. Ich warf mich nicht umher. Ich suchte nicht mit aller Gewalt, wie in den vorhergehenden Nächten, den Schlaf zu ergattern, ich benützte die Zeit der Totenstille in diesem Teil der Anstalt, um mein vergangenes und mein künftiges Leben vor meinen Augen vorbeiziehen zu lassen.

Ich dachte an alles, ich dachte auch an diese Aufzeichnungen. Ich bin jetzt im Beginn des siebenten Kapitels. Ich überlegte, wieviel Kapitel ich noch zu schreiben, das heißt zu leben hätte, und glaubte, es müssen zumindest noch fünf sein, also zwölf im Ganzen. Ich hätte unruhig sein, ich hätte zittern sollen, ich hätte mir Sorgen machen können über meine Zukunft, über das Schicksal meiner Familie, meiner Frau, meiner sehr geliebten Tochter Eveline – ich darf sie doch so nennen, wenn sie auch keinen Tropfen Blut von mir hat? –, über den Beruf und das künftige tägliche Brot meines guten Jungen, der in Bludenz lebte. Ich wurde aber müde, die Gedanken verschwammen, ich faßte keine Entschlüsse, formte keinen Plan, und das letzte, was mir noch klar wurde, war der Umstand, daß ich meinen alten Freund vor der Abreise um etwas Geld bitten müsse, um meiner Schwester ihr Hochzeitsgeschenk kaufen zu können. Als ich aber am nächsten Tage von ihm einen ernsten Abschied nahm, hatte ich alles klar im Gedächtnis behalten, nur dies eine nicht. Oder, ehrlich gesagt, ich wollte nicht. Er hatte genug für mich getan. Und so kehrte ich nur mit wenigen Groschen in der Tasche nach Hause zurück. Ich hatte Angst, mein Vater könne in seiner alten Spottlust Bemerkungen über ›Gaby‹ machen. Zum Glück war er zu sehr mit den Vorbereitungen der Hochzeit meiner Schwester und mit der Einrichtung ihrer künftigen Wohnung beschäftigt. Er war verjüngt, sah rosig aus, sein Gang war jugendlich, die Mundwinkel standen jetzt wieder fast gleich. Er hatte die Folgen des Schlaganfalles überwunden.

Wir arbeiteten in unserer ärztlichen Praxis nun gemeinsam. Es gab viel zu tun, zahlreiche Operationen. Er hatte beinahe mehr Kraft und Ausdauer als ich. Aber sein früherer Arbeitseifer war verschwunden. Er überließ mir fast alles, mir, der ich ihm gern manches abgegeben hätte, um so mehr, als ich sofort nach meiner Ankunft mit theoretisch-praktischen Studien über das Glaukom die fürchterlichste und im Grunde heute noch rätselhafteste Augenkrankheit – beschäftigt war. Aber diese Studien brachten kein Geld, und es wäre von uns beiden, Vater und mir, ein Wahnsinn gewesen, auch nur einen einzigen zahlenden Patienten abzuweisen, er, um sich mit den Teppichen, Möbeln und Fenstervorhängen in Judiths neuer Villa zu beschäftigen, ich, um meinen Experimenten nachzugeben oder um nach so vielen dicken Bänden noch weitere aus der Bibliothek holen zu lassen und zu studieren. Meine Zeit war beschränkt. Die einzige Verschwendung, die ich mir erlaubte, war das tägliche Zusammensein und Spielen mit meiner Tochter.

Sie, mit ihrem silbernen hellen Stimmchen nannte mich Vater. Meine Frau blieb für sie die Tante. Wir ließen sie dabei. Sie war nicht leicht zu erziehen, aber das Wesen ihrer Natur war Freude am Leben und eine Art sehr empfindlicher, leicht reizbarer Liebe, die man nie enttäuschen durfte.

Kinder wollen Geschenke, sie brauchen Überraschungen. Nischy war nicht anders als die anderen. Aber es war so leicht, ihr Freude zu machen, sie war so dankbar für eine Überraschung, die in einem von der Straßenhökerin mitgebrachten, halb erfrorenen Apfel bestehen konnte, obwohl sie in ihrem Zimmer stets eine gefüllte Obstschale hatte.

Ich konnte mir an manchen Tagen nicht mehr als eine Viertelstunde absparen. Aber auf diese Viertelstunde freute ich mich. Ich durfte diese Freude der Kleinen nicht allzusehr zeigen. Sie war etwas eitel, man durfte es sie nie wissen lassen, wie sehr man an ihr hing. Sie war ganz das Abbild ihrer Mutter nach Jagiellos Erzählungen aus deren Kindheit.

Ich liebte das schöne, zarte und doch lebhafte Kind nicht allein der Mutter wegen, ich forschte nicht in dem blühenden Gesichtchen nach den Zügen der Mutter, die mir hohl, fahl und verfallen in Erinnerung geblieben waren. Meine Freude an dem Kind war rein.

Ich trennte mich von Eveline stets so schwer, wie sie sich von mir, die mir einmal ein Stück meines Rockes abriß in dem Bemühen, mich länger bei sich zu behalten. Diesen Unglücksfall durfte ich meiner etwas zu sparsamen Frau nicht erzählen, ich machte mich in Nischys Gegenwart unter Lachen und Scherzen an die Arbeit, den Rock zu flicken.

Ohne ein gewisses Maß an Freude, Hoffnung und Befriedigung hätte ich nicht leben können, aber ich hatte es ja: in meinem Kinde, in meiner Arbeit, die unverhoffte Fortschritte machte, und in der Freundschaft und Kameradschaft meiner lieben Frau. Auch meine Zusammenarbeit mit meinem alten Vater ging nicht schlecht vonstatten. Oft hatten wir zwei Operationen an einem Nachmittag. Ich erinnere mich an einen solchen Nachmittag kurz vor Judiths Hochzeit. Bei der ersten hatte mein Vater mir schärfer auf die Finger gesehen als sonst. Und am Ende, kaum daß der Patient, die Augen durch dicke Verbände geschützt, seinen Angehörigen zurückgegeben war, sagte mein Vater zu mir: ›Du bist bald so weit, wie ich dich haben möchte. In deinem Alter habe ich nicht besser operiert. Weiter!‹ Leider war meine Hand bei dem zweiten Eingriff nicht ebenso sicher. Ich habe wohl schon gesagt, daß ich während dieser ganzen Zeit nicht sehr gesund war. Das Fieber in den Abendstunden hatte nicht aufgehört, die Schmerzen in der Schulter, besonders der rechten, gesellten sich zu solchen in meinem Knie, das mir Sorgen machte, denn es stach oft mörderisch bis in die Hüfte beim langen Stehen, und man kann nur im Stehen vernünftig operieren.

Ich beherrschte mich an diesem Nachmittag. Es gelang. Mein Vater war nachher ebenso befriedigt, wie nach dem ersten Eingriff, ich aber konnte mir seine Lobsprüche nicht anhören. Ich fühlte, wie etwas glühend heiß in meiner Kehle aufstieg, und wie zugleich eine Art müder Rausch über mich kam. Ich überließ dem alten Mann und der Schwester das Anlegen des Schutzverbandes – es handelte sich um eine sehr diffizile Operation bei einem schielenden jungen Mädchen – und eilte in den Vorraum, ein Taschentuch vor dem Mund. Es war Blut. Bald hörte die Blutung auf. Ich kam zurück, verschwieg dieses unheimliche Ereignis, setzte mich in einen Stuhl, faßte mich schnell, sah meinen Vater die Verbände fertigmachen und antwortete ihm auf seine Frage, ich hätte etwas Nasenbluten gehabt. ›Gar so vollblütig siehst du aber nicht aus, mein Sohn‹, sagte er. Er ahnte nichts Böses.

Aber jetzt war nicht die Zeit zur Überlegung. Ich mußte weiterarbeiten, untersuchen, behandeln. Mein Vater merkte nichts. Die einzige Frage, die er nachher an mich richtete, war die, was ich meiner Schwester als Hochzeitsgeschenk bringen würde. ›Ich?‹ antwortete ich in meiner Gedankenlosigkeit, ›nichts.‹ Jetzt begann er zu lachen. ›Du und kein Geschenk! Nichts?! Glaubst du, wir kennen dich nicht! Alter Verschwender! Du hast sicher eine Überraschung vor, die zehnmal mehr kostet als das, was wir arme Teufel ihr bringen.‹ Ich sah ihn an und versuchte mitzulachen. Es war aber besser, daß ich es unterließ. Denn es war nicht ohne Gefahr. Ich ließ ihn also bei dieser ›Überraschung‹, begab mich still und leise zu Bett, während ich ihm vorlog, ich müsse in das Institut, um meine Experimente über das Glaukom fortzusetzen. Nur meine Frau wußte davon. Sie setzte sich an den Bettrand, sah mich sorgenvoll an und unterdrückte mit Mühe die Tränen. Ich schwieg. Sie machte sich sicherlich Vorwürfe, daß sie, mit den Sorgen des Haushalts und mit der Zukunft ihres Sohnes beschäftigt, mein elendes Aussehen nicht ernst genug genommen hatte – und dabei hatte sie zum Glück noch keine Ahnung von dem, was vorgefallen war. Jetzt verstand ich die Worte meines alten Freundes Mohrauer: Man lebt nicht ungestraft mit einer Eveline. Ich log nun auch meiner Frau etwas vor. Ich wollte ihr Mitleid nicht, so wie einmal Eveline das meine nicht gewollt hatte. Sie konnte mir nicht helfen. Sie konnte mir nicht einmal raten. Am nächsten Tage rief ich einen Lungenspezialisten an und sagte mich bei ihm an. Er untersuchte mich, fand so gut wie gar keinen krankhaften Befund. Er leuchtete in meine Mundhöhle, fragte, ob ich viel rauche, und auf meine bejahende Antwort meinte er, es sei nicht ausgeschlossen, daß es sich nur um eine unschuldige kleine Blutung aus den erweiterten Rachengefäßen handle. An eine ernstliche Lungenkrankheit mochte er, ein Optimist genauso wie ich, nicht glauben ... Mir kam etwas anderes in den Sinn: ›Halten Sie es für gefährlich, wenn ich mit einem Kind viel beisammen bin, das erblich schwer belastet ist?‹ ›Ich müßte mir erst über den Charakter Ihres Leidens klarer geworden sein‹, sagte er vorsichtig, ›ich möchte Sie nicht unnötig beunruhigen. Man muß abwarten. Auch eine Röntgenaufnahme der Lunge würde uns nicht viel klüger machen, als wir sind, man sieht zwar eine Unmenge auf der Platte, aber deuten kann es nur der genaue klinische Befund – aber ich mache sie, wenn Sie wollen. Warten wir noch einige Tage! Ich rate Ihnen, sich zu schonen, zu liegen, nicht zu rauchen, sich gut zu ernähren.‹ ›Und das Kind?‹ ›Ja‹, sagte er, ›das versteht sich von selbst. Wenn es belastet ist, wäre es natürlich sehr gefährlich, wenn es mit einer Tuberkulose zusammenkommt. Aber wie gesagt, ich glaube nicht daran. Können Sie mich in einer Woche wieder aufsuchen?‹ Ich versprach es. Aber nach einer Woche fühlte ich mich viel besser. Ich merkte, daß ich krank war. Aber ich wollte es nicht wahr haben. Ich wollte gesund sein, arbeiten und leben. Wie alle.

Der Hochzeitstag meiner Schwester kam heran. Ich erschien fast mit leeren Händen. Wir, meine Frau und ich, hatten Ehrenplätze an der Tafel beim Polterabend. Ich war der älteste Sohn des Hauses. Ich war Jagiellos Freund. Ich konnte ihr nichts auf den reich beschickten Gabentisch legen als ein paar Orchideen, von denen ich wußte, daß sie die Art liebte, und ein Gedicht aus meiner Feder, das zwar gut gemeint, aber schlecht gereimt war. Sie tat, als wäre sie von meiner geringen Gabe ebenso entzückt wie von den großartigen Geschenken meines Vaters und Jagiellos und seiner Familie. Aber sie hat mir diese ›Überraschung‹ nie verziehen. Eben dieses Wort, das mein Vater ihr überbracht hatte, hatte sie etwas Ungewöhnliches, etwas wahnsinnig Verschwenderisches hoffen lassen, und nun sah sie nur eine Kleinigkeit vor sich, die sie für ein Zeichen meiner Mißachtung hielt oder, noch ärger, für eine kleinliche Rache für das, was sie meiner Frau angetan hatte. Ich war arm – aber das wollte sie nicht zugeben.


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