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6

Ich mußte ins anatomische Institut zurückkehren – oder ich mußte das Studium der Medizin aufgeben. Ich war eine Zeitlang so verzweifelt, daß ich sogar daran dachte; und wäre mein Vater jetzt, statt ein paar Wochen später, zu mir gekommen, hätte er mich umgestimmt. Ich schämte mich. Ich schämte mich vor dem Prosektor, dem ich meine unselige Reise nicht hatte erklären können, der aber auch gar nicht daran interessiert war, ich schämte mich vor meiner Mutter, als sie eines Tages zu mir kam, und ebenso vor allen anderen Menschen, mit denen ich zusammentraf, und ich lernte, daß man aus Scham ebenso verzweifeln könne wie aus Kummer.

Unsere Arbeit über die Carotisdrüse erschien schon Ende April. Ich hatte weiter nichts mehr damit zu tun. Mein Name stand nicht als Autor unter dem Titel der Arbeit, sondern es wurde meiner nur klein gedruckt Erwähnung getan, ›laut mündlicher Mitteilung des ...‹, dann folgten mein Name und meine einfachen Angaben.

Vielleicht war dies der Grund, weshalb mein Vater eines Abends mich in meiner Kammer aufsuchte. Er klopfte an, trat ein, nahm den Hut ab, strich sich durch die schon schütter werdenden Haare, lachte mich an und – war von jetzt an wieder das, was er mir früher immer gewesen war. Er fragte nicht nach meiner Frau, nicht nach dem Kind. Er sah bloß, daß ich bei Kerzenlicht arbeitete, und meinte kameradschaftlich: ›So wenig Licht? Schütze deine Augen!‹ Ich bat ihn, beglückt mitten in meinem Unglück, als wäre er jetzt erst recht mein einziger Halt, er möge meine Augen untersuchen. Es war nicht ernst gemeint, er nahm es auch nicht so, seufzte, streckte sich in dem zerschlissenen Lehnstuhl aus, so daß dieser knackte – mit Schauern entsann ich mich jetzt der klirrenden Federn in Vallys Bett –, und meinte, sich eine Zigarette anzündend: ›Wie schön ruhig du es doch hier hast! Deine Augen? Sind kerngesund. Wären alle so, könnte ich betteln gehen. Ach!‹ er gähnte und zeigte seine prachtvollen, trotz seinem Alter noch vollzähligen Zähne – ›wenn ich nur keine Augen mehr zu sehen brauchte!‹ Er hatte mir etwas mitgebracht, ein abgeschabtes Etui mit Sezierinstrumenten, die er als Student gebraucht hatte. ›Wenn du sie nicht verwenden kannst, schenke sie ruhig einem mittellosen Kameraden‹, sagte er zum Abschied. Ich und etwas wegschenken, was seine Hand berührt hatte?! Ich war nicht mehr der Mensch, der eine schöne goldene Uhr verschleuderte, um für Vally und mich mir Geld zu verschaffen. Ich war sehr beruhigt, als ich ihn zur Tür hinausgeleitet hatte, denn er hatte versprochen, wieder nach mir zu sehen, und ich wußte, er hielt Wort. ›Laß es aber deinen Vater zuerst wissen, wenn du eine Drüse entdeckst, alter Bursche!‹ hatte er zum Abschied gesagt.

Meine Mutter kam öfter und störte mich in meiner Arbeit, besonders wenn Judith dabei war, die wahrhaft bezaubernd aussehen konnte, aber ebenso unausstehlich geworden war und immer die Hauptperson sein mußte, oder sie verdarb den andern den Tag. Meine Mutter war immer noch eine hübsche, elegante, blühende Frau. Sie konnte es sich nicht versagen, über meine Vally zu lächeln, sie nannte sie ›die Fee‹. Es war keine Überraschung für sie, als ich ihr Ende April (also erst so spät) mitteilte, daß ich ein Kind bekommen hatte. Aber Judith war furchtbar aufgeregt, und war blaß vor Eifersucht. Sie hatte wohl gesehen, daß ich mich im Grunde meines Herzens freute, weil ich keine Sorge mehr um meine Frau zu haben brauchte. Meine Mutter billigte meinen Entschluß, das Kind nach meinem Vater Maximilian Franz Karl zu nennen. Sie murmelte auch etwas von Taufgeschenken, Taufpaten und so weiter, aber ich merkte, sie hatte es jetzt eilig, wegzukommen. Sie sah sich im Spiegel und zog auch ihr Töchterchen, das in einem weißen Seidenkleidchen mit rosaroter Schärpe prunkte, vor das grünliche Glas: ›Nun bin ich Großmutter, und du, Judith, bist Tante.‹ Auch Judith war nicht davon entzückt, und beleidigt rauschten sie beide ab.

Ich zweifle, ob mein Vater meiner Frau auch nur das geringste Geschenk geschickt hat. Wir hatten es nicht verdient. Ich war so froh, daß wenigstens ich nicht aus seinem Leben ausgelöscht war. Ich war noch sehr jung. Das letzte Jahr war zu schwer gewesen. Meine Mutter hatte mir erzählt, daß auch an meinem Vater diese Ereignisse nicht ohne Spuren vorübergegangen waren. Er war noch ›eigener‹ in Geldsachen geworden, die säumigen Mieter in den Zinskasernen setzte er rücksichtslos vor die Tür und ließ ihre kümmerlichen Habseligkeiten pfänden, seine Steuern bezahlte er erst nach vielen Mahnungen und wußte immer neue Reparaturen als ausgeführt in die Steuerabrechnungen einzuschmuggeln, obwohl sie nie ausgeführt wurden und der Zustand mancher Wohnungen ein erbärmlicher geworden war. Er war früher nie so auf Geld bedacht gewesen wie jetzt, die Patienten beklagten sich untereinander darüber, aber sie kamen doch, denn die Hand meines Vaters galt als ›gottbegnadet‹, und was hat der arme Mensch kostbareres als sein Augenlicht?

Seinen Wagen hatte er aus Sparsamkeitsgründen aufgegeben und fuhr meist in einem zweispännigen Mietwagen, einem Taxameter, wie man es nannte, in die Klinik und in das Sanatorium. Diese Sparsamkeit brachte ihm aber einmal Unannehmlichkeiten. Der Kutscher hatte bei einer ziemlich weiten Tour vergessen, die Taxameteruhr einzuschalten, der Wagen kam an, die Taxe zeigte null Kronen null Heller, und mein Vater wollte nichts zahlen. Der Kutscher war nicht der Besitzer, es kam zu sehr unangenehmen Auseinandersetzungen, ja sogar zu einem Prozeß, obwohl es sich höchstens um zwanzig Kronen handeln konnte. Mein Vater behielt recht. Vielleicht hätte er dem Kutscher den Betrag nun freiwillig ersetzen können. Er wollte aber nicht, und er ließ sich nicht zwingen. Wenn er nicht wollte, hatte sich alles seinem Willen zu fügen, seiner eisernen Energie unterzuordnen, und das war ihm immer gelungen – bis auf mich. Er hatte mich gegen seinen Willen Medizin studieren lassen müssen, ich hatte gegen seinen Willen Vally geheiratet. Bei Vally hatte er vielleicht recht gehabt, mich zu warnen. Aber bei meinem Studium? Ich arbeitete mit Eifer, fast möchte ich sagen, mit Wut und Verzweiflung. Ich dachte, ich würde wieder eine neue Sache finden wie die Carotisdrüse, die ich so schnöde verlassen hatte, um nach Puschberg zu reisen. Aber es traf sich nicht mehr.

Mein Vater förderte jetzt mein Studium. Er bezeugte dies durch Geschenke. Während er, wie ich durch meine Mutter erfuhr, die Zukunft seines Lieblingskindes Judith dadurch sicherstellte, daß er sie auf eine Million Kronen, eine in der Stadt nie dagewesene Prämie, versicherte, gab er mir Geschenke außer in Form des Sezierkästchens auch in seinem alten Stethoskop und Hämmerchen, als ich soweit war, die ersten klinischen Untersuchungen der Auskultation und Perkussion zu versuchen. Ich erhielt seinen alten Augenspiegel, sein altes Mikroskop, eine alte, kleine, unmoderne Pravazspritze und so weiter, alles Heiligtümer, die ich hoch in Ehren hielt.

Meine Mutter bemerkte einmal, daß ich jetzt einen recht schlechten Kamm mit ausgefallenen Zähnen und eine ordinäre Bürste ohne Griff für meine Haare besaß. Ihre Geschenke hatte ich ja meiner Frau mitgegeben, und wie sollte ich mir von meinem winzigen Einkommen kostbare Toilettengegenstände leisten? Sie sah die meinen geringschätzig an, sprach aber kein Wort. Die Zeit der kleinen Pflaster war vorbei. Ich dachte an meine Heirat, und es fiel mir nicht mehr schwer, meine Mutter zu verstehen.

Meinen Vater sah ich sehr unregelmäßig, immer nur auf wenige Minuten, denn der Wagen wartete unten mit eingeschalteter Uhr. (Die Kutscher waren klug geworden.)

War auch ich durch Schaden klug geworden? Von meiner Frau hatte ich mich getrennt, sie sich von mir. Ich hatte nur meinen Vater. Er billigte meine Laufbahn, das sah ich an den Gaben. Billigte er mein Leben? Auch er nannte meine Frau die ›Fee‹. Sicher dachte er nicht an die Wundergaben der Feen, sondern es war eine ironische Abkürzung für Küchenfee oder Stubenfee – was sollte ich tun, sollte ich sie verteidigen? Sollte ich sie verleugnen? Vielleicht erwartete er es und hätte mich dann in seine Arme geschlossen wie als kleinen Jungen und mich in seinem Wagen mit nach Hause genommen, und ich hätte mich wieder einmal satt essen können.

Ich blieb meiner Frau treu. Ich ›ging‹ nicht mit jungen Mädchen, obwohl ein junger Student wie ich Gelegenheit dazu gehabt hätte trotz ausgefranster Beinkleider und ausgefallener Zähne in seinem Kamme, ich blieb ihr, ohne daß wir uns schrieben, auch darin treu, daß ich mich keinem Menschen gegenüber über sie beklagte. Ich hatte ihr versprochen, mit niemandem über sie zu ›rechten‹, und wenn ich sie auch nicht mehr so liebte und lieben konnte wie früher (in den ersten Wochen in der Kammer), so wollte und durfte ich sie und das Kind auch nicht vergessen. ›Was macht die schwarzbraune Fee? Wie geht es dem dicken Kind der Fee?‹ fragte mich mein Vater oft mit sonderbarem, gespanntem Gesichtsausdruck, mit dem Lächeln, von dem man nie wußte, ob es Gutes oder Schlimmes bedeutete. War es Hohn oder nur ein wenig Ironie bei ihm? Er wußte es vielleicht selbst nicht.

Er wollte mich nicht mehr verlassen. Das war die Hauptsache für mich.

In den Ferien, während er und die anderen verreist waren, konnte ich es am allerschwersten ertragen. Ich sehnte mich in dieser Zeit, als die Vorlesungen beendet, die öffentlichen Anlagen voller Staub und Hitze, die Bibliotheken geschlossen waren, so nach ihm, daß ich in Gedanken jetzt sogar meine Frau verriet. Zum Glück war er nicht da, um meinen Verrat entgegenzunehmen. Sobald er im Herbst zurückkam, gebräunt, verjüngt, voller Humor und voller Witze über meine ›Kirschenaugenfee‹, die er mit meinem gesunden, starken, stillen Kind in Puschberg gesehen und mit Kaffee und Kuchen bewirtet hatte –, da war die gefährliche Versuchung wieder vorüber, und ich hörte mir alles mit einem ungewissen Lächeln an, über das vielleicht jetzt er sich Gedanken machte.

Denn er wurde älter, er wurde wärmer, und manchmal zitterte seine Stimme, wenn er in meinem gebrechlichen Lehnstuhl über meine törichte Jugend spottete. Warum hatte ich so schlecht geheiratet, warum hatte ich keine neue Drüse entdeckt?! So kam mein achtes Semester – oder besser gesprochen, der Sommer 1914.

Mein Vater hatte mir versprochen, mich diesmal mit nach Puschberg zu nehmen, wo meine Frau mit unserem Kind wohnte. Ich wußte nicht, ob ich mich freuen sollte. Was sollte dieser etwas hämische Blick besagen, mit dem mich mein Vater betrachtete? Er deutete an, es müßte sich natürlich vorher ein Weg zur Scheidung finden, man könne von Verführung eines Minderjährigen reden, denn damals sei ich minderjährig gewesen, von böswilligem Verlassen, von unüberwindlicher Abneigung. ›Aber Gott sei vor‹, sagte er zum Schluß mit einer Wärme, die ich ihm bei aller Liebe nicht mehr ganz glauben konnte, ›daß ich dich zu etwas zwinge. Wenn du glaubst, daß die Fee dich dort zu sehr in Versuchung führt, dann bleibe hier, aber Erholung hättest du recht nötig, du dürrer Spatz!‹ Ich schüttelte den Kopf, er wollte fragen, was diese Geste bedeute, ob eine Absage an ihn oder eine Absage an die ›Fee‹. Aber ich hütete mich wohl. Ich hatte gelernt von ihm.

Ich brauchte die Erholung sehr, aber wie sollte ich sie in Puschberg finden? Ich konnte meine Frau nicht verraten, und meinen Vater liebte ich immer noch zu sehr. ›Maßlose Liebe‹, sagte er ein andermal, ›maßlose Torheit! Es heißt den Menschen vollständig verkennen, wenn man ihn maßlos liebt. Leider bin auch ich auf meine alten Tage Sklave meines Herzens geworden, jetzt verstehe ich dich! Sieh mich an! Hier‹ – er zeigte auf ein kleines Päckchen in Seidenpapier – ›hier, lange Seidenhandschuhe für meine Fee, für Judith. Ich bin – rate was es mich an Zeit und Honorarverlust etc. gekostet hat – in nicht weniger als fünf Geschäften gewesen, weil dein Schwesterchen sich lange Glacéhandschuhe wünscht, die es aber in ihrer winzigen Größe nicht gibt. Und das alles für einen Kinderball. Wenn die Mühe wenigstens dafürstünde, aber es sind täglich andere Läppereien, und deine Mutter hetzt das arme Kind noch auf! Du arbeitest auch schwer, aber es ist ernst. Hast du wieder etwas Großes vor?‹ Er überschätzte mich. Ich arbeitete zwar meine fünfzehn bis sechzehn Stunden täglich, aber ich war von irgendwelchen Entdeckungen leider weit entfernt. Von den Geisteskrankheiten hatte ich noch nicht das mindeste gesehen, denn die Vorlesungen für dieses Fach waren für das neunte und zehnte Semester vorgesehen, ich wollte sie denn auch bewußt an den Schluß setzen. Und im andern war ich, mit meinen fünfundsiebzig Kronen, von den täglichen Miseren, also auch von Läppereien so in Anspruch genommen, von den Miete- und Brotsorgen, von der Mühe, von einem Institut rechtzeitig in das andere zu kommen, dann zum Essen, dann zur Klinik, dann zu den Übungen, in die Bibliothek etc., daß mir von dem Wesen meines künftigen Berufes nicht viel zum Bewußtsein kommen konnte. Ich begriff noch nicht, was es heißt, Arzt zu sein. Ich sage es offen: Weder das ungeheure Leid der menschlichen Kreatur, das aus einem jeden Glied, jeder Faser entspringen kann, noch auch die ebenso ungeheure Bedeutung des Helfers wurde mir klar, der imstande ist, der blinden, grausamen Natur, genannt ›Anatomie und Physiologie‹, die Hände zu binden. Ich stand an vielen Betten, untersuchte viele, Mann, Frau, Kind, Greis, beobachtete Geburt und Kindbett, sah viele sterben. Ich verstand aber nicht, was leiden, sterben, heilen bedeutet. Ich stand noch unter Aufsicht. Ich war nicht verantwortlich. Ich war dem Kranken nicht der Gott auf Erden. Er sah nicht zu mir auf, er bezahlte mich nicht, er fluchte mir nicht, wenn er litt, er dankte mir nicht, wenn er geheilt zum erstenmal das Bett verließ. Aber er, mein großer Vater, war ihnen der Gott auf Erden, ich hatte es staunend als Kind bei den ›Pilgerim‹ gesehen.

Meine vom frühen Morgen bis zum späten Abend ausgefüllte Zeiteinteilung erlaubte mir keine neue Freundschaft. Aber an Perikles dachte ich oft, und im Januar 1914 hatte er wieder begonnen, mir zu schreiben, das heißt, er adressierte seine Selbstbetrachtungen, Erkenntnisse und Gefühlsausbrüche an mich. Er hatte die Vorlesungen wieder aufgegeben. Über seine materielle Lage war ich mir nicht klar. Das eine Mal schien er sich im Elend zu befinden, klagte über das geschwächte Augenlicht, über Schmerzen in den Knochen, über seine beim leisesten Windstoß erschauernden Nerven, das andere Mal lebte er in einem Rausch, ›einen Millimeter entfernt vom Abgrund – aber doch weit entfernt‹. Worin seine Gefahr lag, wo er den Abgrund sah – ich fragte ihn oft, er kostete mich manche Semmel, die ich nicht aß, weil das Porto eines Briefes an ihn zehn bare Heller betrug, er antwortete mir nie auf meine Fragen, und doch sprachen seine Briefe eine deutliche Sprache. ›Ich kann den herrschenden Gewalten‹, schrieb er mir im Mai 1914, ›unter keinen Umständen dienen, weder dem Staat noch der Kirche. Einer gegen alle! Wenn das Heroismus ist, dann nenne mich einen Heros. Aber ich werde als ewiger Lyriker der Philosophie in die Geschichte des Geistes eingehen, während ich gewollt und gestrebt habe ( habe mit sechsundzwanzig Jahren!) als der tragische Dramatiker der Philosophie, im Kampf mit den unter meinen Schlägen stürzenden Gewalten, auf dem Felde der heldenhaften Erkenntnis zu fallen. Achte mich nicht mehr! Die Welt sollte mich fürchten. Sie bemitleidet mich nur. Erwarte mich, bleibe mir getreu. Vielleicht erscheine ich Dir eines Tages, entweder wie der Heiland, auferstanden seinem getreuesten Jünger zu Emmaus, oder – verachtest Du mich jetzt? – um mich unter Deinen Wetterkragen zu flüchten wie als Knabe, als Du mich unter Deinem Havelock durch Kälte und Sturm geführt hast. Imperator oder nichts. Eines von beiden. Das entscheidet mein säkulares Schicksal, nicht ich allein – Europa siegt mit mir oder stirbt.‹

In diesen Zeiten konnte ich mich mitten in meiner Arbeit unter Kranken und Leidenden oft eines Gefühls von Zärtlichkeit für meine arme Frau nicht erwehren. Das Häßliche begann zu entschwinden. Ich dachte, wenn ich ein krankes Kind sah, an meinen Sohn, ich ahnte alle Gefahren, alle Ansteckungen, denen er ausgesetzt war, die schweren Stunden seiner Mutter, die allein für ihn verantwortlich war. Ich dachte an sie und sah sie wieder als junges Mädchen, mit dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Jahren, in dem Alter, das ich jetzt ungefähr hatte. Ich schlief manchmal in dem Gedanken ein, sie sei bei mir, ich streichle ihren dichten Haarknoten, dränge meine Hand zwischen das Haar und die Haut ihres Nackens, berühre die Wirbel, die sanft hervorstanden, einen nach dem andern, ich bette ihren warmen rauhen Kopf auf meine ruhige Schulter. Ich wußte nicht, ob ich sie wieder liebte, ich wußte nur, daß ich neue Zärtlichkeiten für sie erfand, die ich im früheren Leben nie gekannt hatte.

Aber ich träumte oft von meinem Vater, nicht immer gute, leichte Träume. Von ihr nie, auch dann nicht, wenn ich noch im Einschlafen an sie gedacht, ihren Haarknoten aufgelöst hatte und, die Haarnadeln in der hohlen Hand, in verschwimmenden Gedanken, unter süßem Herzklopfen ihre schöne hohe heiße Brust berührte.

In diese Zeit fiel die Ermordung des österreich-ungarischen Thronfolgers und seiner Frau durch serbische radikale Studenten. Mein Vater kam noch am gleichen Abend zu mir. Er war so aufgelöst, daß ich, zum erstenmal vielleicht, Mitleid mit ihm empfand. ›Mit Puschberg wird es nichts‹, sagte er mit bitterster Ironie, ›du hast Pech. Vielleicht stehen wir vor einem Krieg.‹ ›Aber setze dich erst, ich bringe dir Wasser‹, sagte ich und half ihm, den Rock abzulegen. ›Du hast es hier schön! So ruhig, so friedlich‹, sagte er müde. ›Bei uns hat man nie Ruhe.‹ Er hatte eine Extraausgabe mit, in der alles stand. Ich las in aller Eile die furchtbare Meldung durch, verstand aber die politischen Ereignisse nur schlecht. Wie hätte ich mich auch um die Politik kümmern sollen?

In dem Maße, als mein Vater sich erholte und die Farbe wieder auf seine blassen, etwas hängenden Wangen trat, wurde er wieder der Alte. ›Verstehst du das?‹ fragte er, auf das Extrablatt weisend, das auf der Erde lag. Ich verneinte natürlich. ›Hebe das Blatt auf‹, sagte er, ›das wird einmal Geldwert haben. Serbien bedeutet Rußland, und Rußland bedeutet Krieg.‹ ›Kein Mensch denkt heutzutage an Krieg‹, wandte ich ein. ›Kein Mensch? Da kennst du die Menschen schlecht. Der Krieg kommt, er kommt so sicher, wie ich zu dir gekommen bin, über die vier Treppen, schwitzend und atemlos, aber er kommt.‹ Und er lachte. ›Unser altes Österreich spielt noch einmal den Bräutigam. Es heiratet die junge Braut, die junge schöne Kriegsbraut natürlich. Ich habe den Generalstabsmajor X. behandelt, er hat mir romantische Mären erzählt. Auch mit Italien geht es los. Mit uns, gegen uns, Heldentreue, frisches Laub am alten Ehrenkranz. Hast du noch ein Glas Wasser? Aber laß es gut ablaufen‹ (Ich brachte es.) ›Das junge Glück könnte der Tod des alten Bräutigams sein. Aber die Menschen wollen es ja nicht anders. Sieh alles an, aber misch dich nicht ein. Mich werden sie nicht im Brautgefolge haben, ich diene nicht, Judith desgleichen nicht, Viktor ist zu klein, und du? Du könntest bald nach Norwegen reisen. Norwegen wird neutral bleiben.‹ ›Ich glaube nicht daran, daß es Krieg geben könnte. Die Menschen sind zu weit fortgeschritten. Was liegt an Serbien?‹ ›Nun, wir sprechen noch darüber‹, sagte er. ›Überlege es dir und zwar bald. Du könntest Anfang Juli nach Norwegen reisen und einen Teil unseres Vermögens dort in Christiania in die Filiale einer englischen Bank einlegen. Ich möchte nicht mein ganzes Leben für nichts gearbeitet haben. Ich gehe jetzt. Ich danke dir. Denke an Norwegen, du weißt, ich bin dein Freund.‹

In Kürze sah die Lage wieder fast friedlich aus. Ich machte meine Kolloquien Anfang Juli und glaubte, daß ich die Dinge so gesehen hatte, wie sie waren. Mein Vater kam oft, immer nur kurz, denn seine Zeit war Geld, mehr denn je, meine Mutter zeigte sich fast nie. Von der Reise nach Christiania sprach er immer wieder, und ich schwankte, denn ich wäre dann über Deutschland gereist und hätte meinen alten Freund Perikles aufsuchen können. Ich schrieb an meine Frau einen langen Brief, in dem ich die Kriegsgefahr erwähnte und sie fragte, ob auch sie daran gedacht hatte, denn Puschberg lag nicht weit vom Brenner und der Brenner nicht weit von der italienischen Grenze, aber mein Vater belehrte mich, Italien stünde wohl auf unserer Seite, und weil ich diese Stelle in meinem Brief nicht abändern wollte, zog ich es vor, den Brief unabgesendet zu lassen. Auch schämte ich mich, daß ich es sein sollte, der die Verbindung zwischen uns nach vier Jahren wieder aufnehmen wollte.

Ende Juli 1914 ging das Ultimatum an Serbien ab.

Die Unruhe wuchs auch bei der großen Masse, es fanden Zusammenrottungen vor den ›feindlichen‹ Gesandtschaften und sogar vor Geschäften ab, deren Besitzer ›balkanisch‹ klingende Namen hatten, und wenige Tage vor Schluß des Monats gab es einen riesigen Fackelzug. An einem Vormittag – nach drei oder vier telephonischen Anrufen bei meinem Vater, die ihn nicht hatten erreichen können – klopfte es an meine Tür, ich öffnete und sah seinen Chauffeur vor mir. (Seit kurzem hatte mein Vater ein Auto gekauft.) Der Wagen wartete unten. Ich sollte mich sofort zu meinem Vater begeben. In weniger als zehn Minuten waren wir in der Wohnung, die ich seit so vielen Jahren nicht betreten hatte. Meine gute Mutter kam mir entgegen, sie war wieder hoch in der Hoffnung. Sie hatte sich dieser Schwangerschaft unsinnigerweise vor mir geschämt, und deshalb war sie in der letzten Zeit nicht bei mir gewesen. Jetzt faßte sie mich mit der ganzen warmen Zärtlichkeit aus alten Zeiten an den Händen, zog mich zu sich und küßte (ein kleines Pflaster, das erste seit langer Zeit) mein ganzes Gesicht ab. ›Es gibt doch keinen Krieg?‹ jammerte sie leise vor sich hin. Als ich antworten wollte, ließ sie mich nicht ausreden und sagte: ›Was soll nur aus uns allen werden? Dein Vater ist in höchster Aufregung. Deine Fee ist jetzt bei ihm. Bitte, gib ihm nach, niemand meint es besser mit dir als er, das weißt du doch?‹ ›Nachgeben? wieso? worin?‹ fragte ich erstaunt. ›Ich weiß selbst nicht, um was es sich handelt‹, flüsterte meine Mutter, ›aber ich habe die Person, verzeih, eben die Vally schreien hören. Man darf deinen Vater aber nicht aufregen. Er ist nicht mehr der Jüngste. Und doch will er in den Krieg! Er erwartet dich, geh in das Sprechzimmer!‹ Ich trat ein und sah meine Frau. Sie war in den letzten vier Jahren natürlich etwas gealtert, aber immer noch schön. Sie saß, gut aber sehr einfach gekleidet, vor dem Schreibtisch, mein Vater ihr gegenüber. Sie hatten jetzt nicht gesprochen, hatten offenbar auf mich gewartet. Ich sah meiner Frau die tiefe Aufregung an. Auf der Schreibtischplatte lagen unter der Brille meines Vaters (er trug seit einigen Monaten ein Augenglas) die Extraausgaben des Tages mit ihren riesigen Aufschriften. Ich kam schnell auf meine Frau zu und küßte sie auf den Mund. Ihre Augen leuchteten auf, und ich merkte sofort, wie sie ruhiger wurde. Meinem Vater gab ich die Hand. Er drückte sie fest und sah mich lächelnd an, aber mit seinem alten ungewissen Ausdruck. ›Hast du denn meine Briefe nicht bekommen?‹ fragte Vally. Ich starrte sie erstaunt an. Ich hatte seit Jahr und Tag keine Zeile von ihr bekommen. ›Die Briefe sind ja hier‹, sagte mein Vater laut und zog drei oder vier Briefe unter dem Bund Extraausgaben hervor. ›Ich war in den letzten Tagen nicht bei dir, ich hatte viele Sitzungen, die mit der Lage zusammenhängen, du hättest aber deine Post noch rechtzeitig bekommen. Ich habe dich ja jetzt im Auto holen lassen.‹ Meine Frau wollte etwas sagen, aber ich legte meine Hände auf ihre Knie, um sie zu beschwören, ruhig zu bleiben. ›Oder seien wir offen, meine lieben Kinder‹, setzte mein Vater mit aufreizender Freundlichkeit fort, ›ich habe es nicht für opportun gehalten‹ (meine Frau sah mich fragend an, denn sie verstand das Fremdwort nicht), ›dich mit solchen Briefen aufzuregen.‹ Jetzt mußte er mich beruhigen, und es war seine Hand, die sich mir auf die Schulter legte. ›Ich meine es gut mit dir, mein Sohn, Vally, das müssen Sie einsehen und müssen mich nicht stören.‹ ›Ich meine es vielleicht nicht gut?‹ fragte Vally. ›Ach mein Kind, darüber wäre viel zu sagen.‹ ›Sagen Sie es ruhig!‹ antwortete Vally. ›Lassen wir das Alte. Das Neue ist wichtiger. Glauben Sie nicht auch? Vally, seien Sie doch vernünftig, es handelt sich um uns alle, um meinen Sohn und um Ihren Sohn auch.‹ ›Ich danke Ihnen, Herr Professor, daß Sie uns regelmäßig die hundertfünfzig Kronen geschickt haben ...‹ ›Ss, Ss, nicht der Rede wert. Sie müssen meinen Enkel erziehen, und ich, als Ehrenbürger der Gemeinde, wünsche nicht, daß er im Armenhause von Puschberg aufwächst.‹ ›Warum hast du mir nichts davon gesagt?‹ ›Und wenn ich es dir gesagt hätte? Hast du angenommen, du könntest deine Frau und das Kind mit fünfundsiebzig Kronen erhalten? Natürlich! Wozu das viele Gerede? Hauptsache: was wird nun mit dir? Der Krieg kommt.‹ ›Du hast gesagt, daß ich nach Christiania reisen sollte, um dein Vermögen in Sicherheit zu bringen.‹ ›Und dein liebes Leben dazu. Gewiß, ich habe es gesagt. Behalten wir diese Möglichkeit im Auge, obwohl ich zweifle, daß du heute die Grenzen noch vor der Mobilisierung überschreiten kannst. Und was vor einigen Wochen von deiner Seite Zufall hätte gewesen sein können, heute wäre es Fahnenflucht. Und – du als mein Sohn ...‹ ›Er ist mein Mann‹, rief Vally. ›Ja, laut Trauschein‹, lächelte mein Vater, ›es ist ganz gut, daß Sie mich unterbrochen haben, Frau Tochter, damit kommen wir zur zweiten Möglichkeit. Deine Frau‹, wandte er sich zu mir, ›hat einen anderen Ausweg gefunden. Sie meint, du könntest mit ihrer und ihres Bruders Hilfe heute nacht noch über die italienische Grenze ins Welschland, und sie ist des festen Glaubens, daß die Katzelmacher (Italiener) neutral bleiben, wenn sie sich nicht gar unseren Feinden anschließen. Du wärst also, wie immer die Völker sich herumschlagen, dort in Sicherheit. So, habe ich getreulich berichtet?‹ Vally senkte die Augen, faßte nach meiner Hand, hielt sie fest, sagte aber nichts. ›Und endlich die dritte Möglichkeit (sie preßte meine Hand, so, daß sie schmerzte): ›du dienst.‹

Die Schreibtischuhr tickte. Es vergingen zehn Minuten, wir sprachen nicht. ›Ich will nicht dienen‹, sagte ich endlich. ›Ich will nicht Menschen umbringen, die ich nicht kenne, die mir nichts getan haben, und will mich nicht ...‹ Er unterbrach mich. ›Wenn aber alle ohne Ausnahme gegen den Feind gehen, wenn sogar die Alten den Tornister auf den Buckel schnallen, willst du dich drücken? Ist das dein Ernst? Hast du den Fackelzug gestern nicht gesehen? Die ungezählten Menschenscharen, alle mit ihrer Begeisterung, ihrer heißen Liebe zu unserem schönen Vaterland?‹ Ich zuckte die Achseln. ›Ich bin diesem Staat nichts schuldig. Wir hätten in Frieden leben können. Das Ultimatum war aufreizend, die anderen können es nicht annehmen.‹ ›Die Obrigkeit hat immer recht. Was verstehst du von der hohen Politik? Eine Großmacht wie Österreich muß ihre Ehre rein erhalten.‹ ›Und eine Kleinmacht nicht? Unsere Obrigkeit hat recht und die serbische Obrigkeit nicht auch? Wozu dann noch Krieg?‹ ›Spitzfindig genug‹, sagte mein Vater, ›du wärest auch ein ganz guter Jurist geworden. Nun bist du Mediziner und Militärstipendist. Ich bin in Verbindung mit dem Ministerium für Landesverteidigung. Man hat eine Augenkrankensammelstelle im Sinn, die auch für die am Auge erkrankten und verwundeten Soldaten im Südosten bestimmt ist. Ich werde ein Merkblatt zur Verhütung der Ansteckung mit Trachom für das Militärkomitee ausarbeiten. Ich soll den Titel eines Generalarztes in Evidenz erhalten. Ich könnte dich heranziehen. Vielleicht handelt es sich nur um einen Spaziergang nach Belgrad. Wenn die ersten Blätter fallen, ist alles vorbei, und unsere siegreichen Truppen kehren nach einer kleinen Strafexpedition heim.‹ ›Du hast unlängst anders gesprochen‹, sagte ich. ›Du sagtest: Serbien ist Rußland, und Rußland ist der europäische Krieg. Wo kann das enden?‹ ›Mag sein!‹ sagte er und stand auf. ›Willst du jetzt die Briefe deiner Frau? Willst du Bedenkzeit?‹ ›Heute nacht muß ich in Puschberg sein‹, sagte Vally, ›mein Max ist in der Obhut der Veronika, aber Veronikas Mann ist einberufen zu außerordentlichem Manöver, und ich muß zurück.‹ ›Schön!‹ sagte mein Vater, ›das sehe ich ein.‹ Er setzte sich wieder. ›Ich reise mit meiner Frau‹, sagte ich. ›Ich kann nicht anders. Ich habe mein Kind noch nicht gesehen.‹ ›Ja, es ist die beste Gelegenheit, Familienbesuche zu machen‹, höhnte mein Vater. ›Zieh dich aus der Schußlinie zurück! Täten es alle, wir würden schön aussehen. Du bist immer der alte: du willst Christus sein und dich nicht ans Kreuz schlagen lassen. Unterbrechen Sie mich nicht, Sie gute Fee!‹ ›Alter Unhold!‹ zischte Vally zwischen den Zähnen hervor. ›Mich bringen Sie nicht aus der Ruhe‹, sagte mein Vater ironisch. ›Bin ich wirklich so alt? Ich ein Unhold? Meine Kinder und meine Kranken denken anders von mir. Aber Sie und ich: wir kennen uns. Junge, sieh die Dinge, wie sie sind. Wirst du den Krieg verhindern, wenn du auskneifst? Nein, aber du wirst dir die Rückkehr unmöglich machen ...‹ ›Und Sie werden nicht Generalarzt und bekommen nicht den Kronenorden‹, gab meine Frau zurück. ›Was ist mir der Kronenorden? Ich brauche ihn nicht. Ich verlange ihn nicht. Ich bin meinem Kaiser und meinem Volke treu! Man muß aber mit dem Volk gehen. Das nenne ich Demokratie. Das Volk verlangt, daß man die Serbenhorde für den feigen Meuchelmord straft. Ist das nicht Gottes Stimme, was dann?‹ ›Was liegt mir an den Serben? Was liegt mir an Demokratie? Ich will meinen Mann nicht verlieren. Ich habe ihn noch nicht richtig gehabt. Verstehen Sie das? Ich nämlich liebe ihn.‹ Sie begann zu weinen. ›Sie lieben ihn, so?‹ fragte mein Vater unbarmherzig, ›was haben Sie ihm viel an Glück gegeben? Mit noch nicht zwanzig Jahren haben Sie ihn zum glücklichen Vater gemacht, nicht? Sie haben ihn durch Ihre Manöver gehindert, eine wichtige medizinische Entdeckung weiterzuverfolgen.‹ ›Ist das wahr‹, schrie Vally, ›sag, ist das wahr?‹ (Ich wandte mich ab.) ›Und wir hätten alle drei von dieser Entdeckung leben können? Ach, Herr Professor, ist das wahr?‹ Mein Vater setzte eine ›menschenfreundliche‹ Miene auf, dieselbe, die er gehabt hatte, als er den ›Pilgern‹ riet, sich vor Ansteckung und vor ausbeuterischen Ärzten zu hüten. ›Weiß ich es denn? Vielleicht ja, vielleicht nein. Vorbei? Vorbei! Wir haben uns nur mit den wirklichen Tatsachen auseinanderzusetzen. Bist du frei? Kannst du gehen, wohin du willst? Hast du nicht von der Militärbehörde durch Jahr und Tag dein Stipendium erhalten? Hat man dir nicht den Militärdienst erspart, bis es dir paßt, deine Pflichten vor dem Vaterland zu erfüllen? Sag ich nicht die Wahrheit? Bist du nicht der Christus, der vor dem Kreuz davonläuft? Aber so seid ihr alle, ihr habt euren Gott nur auf den Lippen! Aber nenne ich dieses bigott, bin ich der ›alte Unhold‹. Lebe ich denn unter Feinden?‹ Meine Frau schluchzte, sie schlug jetzt mit den Fäusten auf die Tischplatte, ohne zu sehen, wohin sie traf. Ein kostbares Tintenfaß fiel um, und die beiden Arten Tinte überströmten die Tischplatte und tropften herab, so daß ich Vallys gutes Kleid vor ihnen schützen mußte.

Jetzt erst, als ich sie berührte, blickte sie auf. Sie zog mich an sich und preßte meinen Hals so wild an ihre volle heiße Brust, daß sie mich beinahe erstickte.

Ich trat in eine Ecke des Zimmers, mit dem Rücken gegen die Bücherwand, und lange sah ich die beiden an. Mein Vater sah mich nicht an. Es war ein alternder, halb gebrochener Mensch. ›Lebe ich denn unter Feinden?‹ Er, dem ich vom ersten Tage meines bewußten Lebens angefangen nichts als Liebe entgegengebracht hatte. Ich trat auf ihn zu und sagte: ›Du hast recht. Ich werde mich sofort melden. Ich werde tun, was du für meine Pflicht hältst.‹ Er wollte etwas mildern, er begann von seiner Augenkrankensammelstelle zu reden. Aber meine Frau war ohnmächtig von ihrem Stuhl hinabgesunken. Sie lag auf dem Teppich, in ihrem schlichten dunklen Seidenkleid. Ihre kleinen Hände schimmerten hellbraun auf dem dunklen Grunde. Aber bevor wir sie aufrichten konnten, hatte sie die Augen wieder geöffnet. Ihre schönen, dicken, schwarzbraunen Zöpfe (das Haar war seit dem Kinde wieder nachgewachsen) hatten sich gelockert, die Enden der Frisur tauchten in den kleinen Tintensee, der sich am Rande des Teppichs und auf dem Parkett gebildet hatte.

Es herrschte eine furchtbare Hitze. Von der Straße her drangen stramme Marschmusik und die hallenden patriotischen Rufe einer gewaltigen Menschenmasse, die in Reih und Glied mit schwarz-gelben Fahnen und großen Tafeln mit Inschriften in einer Staubwolke unter unseren Fenstern vorbeizog. Unter ihren taktförmigen donnernden Schritten zitterten die Scheiben, und lange noch hörte man die lauten Rufe, abwechselnd Hochrufe auf Österreich, Niederrufe auf Serbien und Rußland und die ersten Töne einer Hymne. Meine Mutter war inzwischen eingetreten. Am linken Arm den kleinen, nicht hübschen, aber in seiner Art bezaubernden, schelmischen Viktor und am linken Arm Viktors Besitzerin, die schöne, kühle, hoch aufgeschossene Judith. Als meine Mutter die Kinder losließ, stellte sich Judith sofort vor ›ihren‹ Viktor, als wolle sie ihn schützen, und blitzte uns mit ihren hellen graugrünen Augen (den Augen meines Vaters) an. Meine Mutter lachte und schlug ihr kameradschaftlich auf die Schulter, auf eine breite hellblaue Seidenschleife, die sie auf der Schulter trug ... Dann half meine Mutter Vally beim Ordnen der Frisur und schickte die Kinder voraus ins Speisezimmer. Dann lud sie uns beide zum Mittagessen ein. Mit ihrem großen Leibe schwerfällig voranschreitend, führte sie uns zuerst in den Salon, der angesichts der kommenden Ferien nach Naphthalin roch, und später ins dunkle, kühle, nach Obst duftende Speisezimmer. Wir bekamen unsere Plätze nebeneinander an dem prachtvoll gedeckten Tisch. Ich aß fast nichts. Aber Vally aß. Sie war nach der langen Reise sehr hungrig. Meine Mutter sah von mir zu ihr, von ihr zu mir. Sie war höflich uns gegenüber, aber von neuen kleinen Pflastern auf neue große Wunden war nicht die Rede. Die Hauptsache war, ihr Mann hatte sich mit ihrem ältesten Sohn geeinigt. Am Spätnachmittag reiste meine Frau ab. Sie machte mir keine Vorwürfe. Ich hätte nicht anders handeln können. Vielleicht hatte sie nichts anderes von mir erwartet. Ich mußte ihr nur eines versprechen: ihr jeden Tag zu schreiben.


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