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6

Die diesem Abschied folgenden sechs Tage waren die qualvollsten meines Lebens. Im Vergleich zu ihnen erschienen mir jetzt die ersten Tage nach meiner Verwundung bei Chlomy wie ein Paradies. Ich hatte Eveline versprochen, abzuwarten, bis sie mich rufen ließe, eben ›bis alles vorüber sei‹. Ich hatte mein Wort gegeben. Sie hatte an meiner Ehrlichkeit, an meinem guten Willen gezweifelt. Also, jetzt sollte ich ihn beweisen.

Ich irrte wie von Gott verlassen in der Anstalt umher. Zum erstenmal ermüdeten mich die Kranken. Sie waren zum größten Teil unheilbar. Mein Vater hatte recht behalten.

Die Zeit war regnerisch, stürmisch, es wollte nicht Frühling werden. Eine tückische Grippe ging um. Unsere Kranken wie die meisten Geisteskranken neigten zu fieberhaften Erkrankungen der Luftwege, die dann oft sehr schnell ein trauriges Ende nahmen. Aber warum ›traurig‹? War es nicht besser, wenn ein solcher Kranker in seinen oft stürmischen Fieberdelirien ›blieb‹, als wenn er, wie mein unseliger Freund Perikles, sich durch Monate und Jahre rettungslos hindurchschleppte und nicht einmal den Schatten des großen, durch seinen Geist herrschenden Menschen darstellte, der er einmal gewesen war? Unter unseren Kranken hatten wir auch einen anderen Paralytiker, der sich in früherer Zeit ebenfalls ausgezeichnet hatte: es war ein Graf Zy., ein vielbewunderter Sportsmann, der den Distanzritt Budapest-Wien zu seiner Zeit mit dem ersten Preis bestanden hatte. Im Krieg war er dem Stab einer Gebirgsbrigade zugeteilt gewesen, war dreimal verwundet worden, hatte bis zum Schluß an der Isonzofront eine unbeschreibliche Bravour bewiesen und hatte die höchste österreichisch-ungarische Auszeichnung erhalten. Nun lag er in seinem Zimmer neben dem meines Freundes, hatte die Grippe, und wir bemühten uns, durch Injektionen und Umschläge etc. sein Leben zu verlängern um jeden Preis.

Mein Gesicht gefiel dem Chefarzt nicht. ›Was haben Sie? Sind Sie noch nicht zur Vernunft gekommen – bei Ihren grauen Haaren?‹ fragte er mich brutal. ›Warum reden Sie nichts?‹ Ich schwieg noch beharrlicher, ohne zu bedenken, daß ich ihn dadurch noch mehr in Wut versetzte. ›Ich hasse alle, die sich freiwillig zu den Irren melden‹, sagte er voll Hohn. ›Habe ich mich deshalb von der Welt und ihrem Stumpfsinn freigemacht, damit Sie, mein Lieber ...‹ er unterbrach sich, blickte mich gehässig an und schloß mit einer an sich richtigen Anordnung, die mich aber tiefer verletzte, als er mich je verletzt hatte: ›Ich wünsche‹, sagte er in scheinbar ruhigem Ton, ›daß Ihre zwei Zimmer sofort desinfiziert werden. Ihr Logier-Gast hat an ansteckender Krankheit, offener Tuberkulose gelitten.‹ Sie hat gelitten, wiederholte ich für mich. Es war der vierte Tag seit dem Abschied von ihr. Keine normale Geburt dauert länger als achtundvierzig Stunden. ›Haben Sie Wachträume?‹ fragte er. ›Bekomme ich Antwort auf meine Frage?‹ ›Das Zimmer wird desinfiziert‹, sagte ich kurz. Er ging. Sein weißer Mantel wehte im dämmerigen Korridor, denn es wurde jetzt gespart mit Licht. ›Und Ihr Gehirn wird hoffentlich mit desinfiziert!‹ rief er mir nach.

Ich sandte Eveline jeden Tag Blumen. Sie wurden regelmäßig abgeliefert. Ich konnte aus diesem Zeichen schließen, daß die Frau noch lebte, die ich liebte.

Ich gab Auftrag, daß das Zimmer desinfiziert werde. Ich zog vorläufig aus. Beim Abschied blickte ich mich noch einmal um. Ich konnte mich von den banalen, mit billigem Luxus eingerichteten Räumen nicht trennen. Ich sah in die Ecken. Sie waren sauber. Nur in der Fensterecke beim Waschtisch sah ich einige kleine Bündelchen ihrer hellen Haare, wie sie sie wohl am letzten Tage aus ihrem Kamm genommen und zusammengeknäuelt hatte. Ich ließ sie dort liegen.

Ich liebte sie, aber ich wollte nicht zu den Irren gehören, die für Haare, Nägel etc. eine merkwürdige Vorliebe haben. Ich nahm kein Schlafmittel. Vielleicht standen wichtige Entscheidungen bevor. Ich mußte meinen Kopf klar erhalten.

Ich faßte den Entschluß, in, der Universitäts-Nervenklinik meine Untersuchungen über die Sehnervenerkrankung bei Tabes fortzusetzen. Ich erwartete aber jeden Augenblick den Anruf von Eveline. In unserer Anstalt wußte man mich stets zu erreichen, aber dort? Ich überwand meine Feigheit, die mir riet, mich aus der Anstalt nicht fortzurühren. Ich gab dem Personal hier und in der Universitätsklinik etwas Geld, und ich traute ihm. Wenn der Anruf von Eveline an unsere Anstalt kam und ich nicht hier war, sollte er an die Universitätsklinik weitergegeben werden.

Ich hatte mit allem gerechnet, ich hatte alle Möglichkeiten bis in die letzte Einzelheit durchgedacht. Ich hielt mich für gefaßt. Ich hielt mich für einen Mann. Alles Täuschung, alles Selbstbetrug, alles Wahn. Am sechsten Tage kam der Anruf nachmittags um fünf Uhr, als ich die Anstalt eben verlassen wollte. Ich hatte also Glück, ein Auto stand durch Zufall vor dem Pförtnerhäuschen, in zehn Minuten war ich in der Privatklinik. Auf dem Korridor begegnete ich dem Hofrat. Er gab mir die Hand. Ich suchte in seinem Blick zu lesen. Ich konnte es nicht. Aber mir schien, als sei er nicht gerade unzufrieden. ›Wie steht es?‹ fragte ich. ›Ja‹, sagte er, ›der Blutverlust war nicht ganz unbedeutend, aber sie lebt, ist bei Bewußtsein, und‹ – jetzt leuchteten seine Augen voll Stolz – ›das Kind ist offenbar ein wohlgelungenes Exemplar, fast fünf Pfund schwer, nicht wahr?‹ Er wandte sich an seinen Oberarzt, der hinter ihm stand, aber keine so freudige Miene zeigte. ›Ich möchte sie sehen‹, sagte ich, so laut ich konnte. ›Ja, dagegen ist doch nichts einzuwenden?‹ Wieder fragte er den Oberarzt, als sei er Gottes Stellvertreter auf Erden. ›Der Blutverlust macht uns inzwischen etwas unruhig, lieber Kollege‹, meinte er zum Schluß und schien mich zurückhalten zu wollen. ›Nun, wir tun alles, was wir können. An dem Kinde ist jedenfalls nichts auszusetzen.‹ Ich trat auf den Zehenspitzen in Evelines Zimmer. Ich konnte zuerst ihr Gesicht nicht sehen, weil mein letzter Blumenstrauß noch auf dem Nachttische stand und sie mir verdeckte. Ich war so erregt, daß mir die Luft fehlte, als ich vor ihr stand. Sie bemerkte es und flüsterte mit ihrem alten Lächeln: ›Warum bist du so gelaufen?‹ Ich küßte ihre Hand und unterdrückte die Tränen. Ich sah, daß sie verloren war. Ihr Kind lag in einer weiß und blau lackierten, sauberen Wiege und schlief. ›Über sechs Pfund‹, sagte sie stolz. ›Wie geht es dir? Hat mein Mann schon geschrieben? Ich habe ihm telegraphieren lassen. Mir geht es jetzt sehr gut. Ich habe keine Schmerzen und fühle mich sehr glücklich? Weißt du‹ – und etwas Unbeschreibliches huschte über ihre ausgebluteten, weißen Lippen –, ich habe es mir noch viel ärger gedacht. Im nächsten Jahr will ich wieder ein Kind, aber von Dir. Denn jetzt erst weiß ich, daß ich dich liebe. Du mich doch auch noch?‹ Sie begann zu husten, und das Bett bebte unter den Hustenstößen. Das Kind wachte auf und quärrte laut vor sich hin. ›Willst du es mir zeigen? Aber noch nicht. Komm hierher, küsse mich, ganz fest! Habe keine Angst! Komm nur näher. Fest! Fester! Und jetzt gib diesen Kuß sofort dem Kind weiter, denn ich habe es noch nicht geküßt, die dummen Doktoren haben es mir verboten, sie meinen, ich hätte Lungenschwindsucht.‹ Ich küßte das Kind auf den zahnlosen, vom Schreien geöffneten, lauwarmen Mund, dann hob ich es aus den feuchten Kissen und streckte es ihr entgegen. ›Du mußt es ganz festhalten‹, sagte sie, nun schon deutlich von Atemnot bedrängt, ›ich bin noch zu schwach. Ich sehe auch nicht sehr gut. Ich bin eben noch schwach. Es war auch keine Kleinigkeit. Noch näher, noch näher, ich sehe so schlecht, ist es denn so dunkel hier?‹ Ich hielt ihr das Kind, das seine Händchen krümmte und dann die Fingerchen wieder ausstreckte, vor das Gesicht. Sie konnte sich nicht beherrschen, sie küßte es, konnte aber nur das Ohr des Säuglings erreichen. So legte ich den Säugling auf ein Kissen, hielt das Köpfchen von beiden Seiten fest, so daß sie ihren Mund sehr leicht auf den Mund des Kindes pressen konnte. Die Anstrengung war aber trotzdem sehr groß gewesen, sie sank zurück, aber sie sprach weiter, sie hatte keine Ahnung von ihrem Schicksal. ›Jetzt werden wir ganz anders zusammenleben‹, sagte sie, ›du mußt meinen Mann näher kennenlernen, ihr werdet die besten Freunde sein, weil ihr mich so liebt. Weißt du, du großer Räuber und Frauenverführer, ich sollte ja böse auf dich sein. In der letzten Zeit warst du eklig zu mir. Wirst du dich endlich ändern? Ich habe dich für einen Mephisto gehalten. Wäre es nicht jammerschade gewesen um solch ein Goldkind?‹ Ich legte das Kind vorsichtig in die Wiege zurück, und es schlief ein. Ich faßte nach dem Puls Evelines, er war so dünn und fadenförmig, daß man ihn kaum fühlte. Ein alter Geistlicher, der Pater C., ihr Berater, den auch ich von meiner Jugend her kannte, trat ein, gefolgt vom Oberarzt. ›Ach wie schön‹, rief sie und wollte sich aufsetzen, ›wie schön, daß Sie kommen! Gelobt sei Jesus Christus!‹ ›In Ewigkeit amen!‹ Der Oberarzt gab mir ein Zeichen. ›Sie wollen meinem Mäderl die Nottaufe geben, Hochwürden? Aber es wiegt sieben Pfund, es ist kernge...‹ Plötzlich schloß sie die Augen. ›Kann man denn gar nichts mehr tun?‹ fragte ich den Oberarzt auf dem Korridor, ›vielleicht eine Bluttransfusion?‹ ›Wir haben Kochsalzinfusionen gemacht, den ganzen Nachmittag. Wir wollten sie am Leben halten, solange wie möglich, solange bis Sie ...‹ ›Nehmen Sie bitte etwas Blut von mir!‹ sagte ich, ›haben Sie alles bereit?!‹ ›Wie Sie wollen!‹ sagte er. ›Vielleicht reicht es für Stunden oder Tage. Ins Unvermeidliche hat man sich zu fügen.‹ Er hatte mich in das Operationszimmer geführt, wo noch der Schwaden der Operationen lastete. Ich setzte mich hin, hielt meinen Arm hin. Er desinfizierte gründlich, stach mir mit einer starken Kanüle in die Ellbogenblutader und zog langsam das Blut an. ›Schneller! Schneller!‹ zischte ich. ›Geduld!‹ sagte er. ›Nur Geduld!‹ Endlich hatte er das Blut, nun mußte er es gerinnungsunfähig machen, ich ging ihm voraus, ich kehrte zu Eveline zurück. Als ich die Tür öffnete, sah sie mich mit ihren großen eisengrauen Augen, den Augen ihres geliebten Vaters an. Aber ich glaube, sie erkannte mich nicht mehr. Das Nachtkästchen war etwas weggerückt, der Geistliche hatte inzwischen ein kleines Altärchen mit den Sakramenten aufgerichtet und hatte ihr die letzte Ölung gegeben. Sie war nicht mehr ganz bei Bewußtsein. Ihre Hände bewegten sich noch. Sie tat, als wolle sie sich lange Handschuhe anziehen. Ich hatte sie einst als junges Mädchen auf dem Gut zu ihrem ersten großen Ball begleitet, sie hatte neue, weiße, enge Glacéhandschuhe bis zum Ellbogen getragen. Ich kniete schnell vor ihrem Bett nieder. Ich faßte nach ihrer rechten Hand, ich küßte sie mit meinen Lippen, ich wollte sie nicht wieder freigeben. Der Oberarzt war eingetreten. Ich sah nichts. Ich hörte, wie er halblaut einem Assistenten Weisungen gab. Auch der Geistliche war noch hier, er stand auf der linken Seite. Er betete mit einer ruhigen, eintönigen getrösteten Stimme. Zu der Blutübertragung kam es nicht mehr. Als alles vorbei war, drückte er ihr die Augen zu. Dann führte er mich an der Hand auf den Korridor hinaus und sagte: ›Wir dürfen nicht hadern mit dem Allmächtigen. Wollen Sie, Herr Doktor, mit mir ein kleines Gebet für sie sprechen, ein Vaterunser, wenn es gefällig ist?‹ Ich tat, was er wollte. Er sprach vor. Ich sprach nach. ›Soll ich Sie jetzt heimbegleiten?‹ fragte er dann. ›Ich bitte Sie darum‹, sagte ich. Auf der Heimfahrt erzählte er mir, daß er mit ihr noch unmittelbar vor dem Ende gesprochen habe. Er hatte gefragt: ›Welchen Namen soll denn dein Töchterchen in der hl. Taufe haben?‹ ›Eveline‹, hatte sie geantwortet, ›man nennt das erste Kind bei uns immer nach der Mutter.‹ ›Eveline? Sehr gut!‹ hatte er geantwortet. Bei dem Pförtnerhäuschen verabschiedete ich mich von dem guten alten Mann, obwohl er wahrscheinlich gern den ganzen Abend bei mir geblieben wäre. Aber ich wollte allein sein. Es war halb sieben und fast ganz dunkel im Park. Der Mond ging eben erst auf. – Man brachte mir die üblichen Meldungen über die Kranken. Der Graf hatte 39,9 Fieber, und mein Assistenzarzt wußte nicht, ob er mit den Injektionen noch fortfahren solle. Auch unter dem Wärterpersonal waren einige neue Fälle von Grippe zu verzeichnen. Wie aber konnte man all die Kranken pflegen? Vielleicht sollte man einige von den Kranken, die Einzelzimmer hatten, zusammenlegen in einen Raum, damit an Personal gespart würde? Ich hatte einen Einfall, aber ich wollte noch damit warten. ›Ich werde Ihnen abends Bescheid geben, vorläufig bleibt alles so, wie es ist.‹ ›Jawohl, Herr Oberarzt‹, antwortete der Assistent. Ich schloß mich in meinen alten Zimmern ein, die noch stark nach den Desinfektionsmitteln rochen, setzte mich an den Schreibtisch, legte einen schönen weißen Bogen Papier vor mich hin. Ich schrieb ja so gern. Früher, in meiner Kindheit, in den Augen meines Vaters, war das Schreiben eine unerlaubte Freude für mich gewesen. Jetzt war sie erlaubt. Es war nur keine Freude. Ich schrieb: ›Mein letzter Wille‹, aber das kam mir zu rührselig vor, ich strich das mein aus. Auch mit dem Willen war es nicht gut bestellt. Es konnte mir gar nicht gefallen. Mein Wille war ganz ohnmächtig, es kam auf ihn nicht an. Irgend etwas mußte aber auf dem Bogen stehen. So schrieb ich: Eigenhändiges Testament. Ich hatte zuerst auch daran etwas auszusetzen, dann begriff ich, daß ein Teil dieses Mannes vor dem Schreibtisch sich über einen anderen Mann vor dem gleichen Schreibtisch lustig machte. Ich zerriß das Papier in kleine Stückchen.

Nun war, streng logisch, zweierlei zu bedenken. Welche Folgen waren vorauszusehen, erstens, nach dem Tode Evelines, und welche, zweitens, nach meinem Hinscheiden? Also erstens: Der Gatte war benachrichtigt. Er hatte sich nicht gemeldet. Er lebte. Oder er war tot. Lebte er, mußte er sich um sein Kind kümmern, das er sich so sehnlich gewünscht hatte. Lebte er nicht, mußte sich ein anderer um das Kind kümmern. Nicht ich. Ich liebte das Kind nicht und konnte es nicht lieben, da es die Ursache von Evelines Tod war. Ich haßte es auch nicht, denn es kam von ihr. Es folgte daraus, daß ich nicht im Spiel war und keine Verantwortung trug. Eveline hatte ja Verwandte in Polen. Das Kind war Erbe des angeblich so riesigen Vermögens.

Es klopfte. Es war die Direktorin, die dringend mit mir zu sprechen wünschte. Ich nicht mit ihr. Ich wußte, was man in solchen Fällen sagt, und dankte ihr im voraus durch die geschlossene Tür. Sie entfernte sich brummend. Sie war aber eine kluge, lebenserfahrene Frau und nahm es mir nicht übel. Jetzt kam der zweite Teil. Welche Folgen hatte mein Tod? Ich hatte einen Vater. Er war ein großer Mann, ein kluger Mann, ein reicher Mann, ein Mann der Praxis, ein liberaler Mann. Er würde sich trösten über meinen Tod. Um die Verteilung meines Vermögens brauchte ich mich nicht mehr zu sorgen. Was ich gewonnen hatte, hatte ich verbraucht. Mein Barbestand war beiläufig Null. Ich hatte auf das Erbe verzichtet. Ich hatte also nichts an Geld und Gut zu erwarten von meiner Familie und daher auch nichts zu Gunsten der Meinen zu verfügen. Gut. Ich hatte eine Frau. Ich hatte sie genommen, weil man – nein, seien wir aufrichtig, sagen wir alles offen! –, weil sie mich belogen hatte. Ich, ein besonders begnadeter Ehemann, war von meiner Frau betrogen worden, bevor ich sie noch geheiratet hatte. Es hatte ihr nicht viel Glück gebracht. Sie brauchte mich aber Gottseidank nicht als Ernährer, denn sie sorgte für sich, und lieben konnte und wollte ich sie nicht. Gut. Ich hatte ein Kind, das meine Briefe nicht beantwortete und das ich kaum kannte. Das einmal beim Spazierengehen sehr kameradschaftlich den Arm in meinen gehängt hatte – eine freundliche Erinnerung, aber kein Grund, so wichtige Entschlüsse abzuändern. Meine Geschwister, die große blühende Geschwisterschar, alles gesund, alles am Leben, alles ohne Fieber, alles am Leben!! Daß das leben konnte, daß da unter meinen Fenstern der Postbote leben konnte, der einen eingeschriebenen Brief oder ein Telegramm gebracht hatte! Daß der Hund des Pförtners leben und stupid in die Mondnacht hinaus heulen konnte, das niederträchtige Tier, das sich jetzt zu seiner Freßschale hinsetzen wird und einen Knochen zwischen die gesunden Pfoten nehmen wird und ihn mit seinen gesunden Zähnen zernagen wird und dann weiterbellen wird mit allem Atem aus seinen kerngesunden Lungen. Das Schicksal hat es so gewollt. Die Stupidität nennt sich Schicksal. Es weiß nicht, was es tut. Warum hadert es aber so mit mir? Habe ich ihm etwas getan? Habe ich nicht mit bestem Wissen und Gewissen ... zu Wasser und zu Lande – und in der Luft ... es kam mir der alte österreichisch-ungarische Fahneneid in Erinnerung, den ich als Rekrut dem alten Kaiservater Franz Joseph hatte schwören müssen, ohne daß mich eine der großen Uniformen hinter dem Kruzifix und den Kerzen gefragt hätte, ob ich denn schwören wolle? Aber gehalten habe ich ihn, den Eid, so gut ich eben konnte. Ich hätte gern geweint, ich hätte gern geschrien. Ich trat vor die Tür. Der Korridor war leer. Niemand hätte mich gestört. Aber es war mir nicht gegeben. Ich bereitete das Notwendige zu einer Injektion vor. Man hatte versucht, das Schicksal zu brechen. Man hat Leiden auf sich genommen. Sie haben nicht erhebend gewirkt.

Wo ist in Wahrheit ein Mensch, der Trost nicht braucht? Aber da ist noch ein großer Unterschied gegen den, den ein solches Unglück betroffen hat und der nun nichts mehr ist als ein erbärmliches Stück Elend, zu gar nichts mehr gut, als zu jammern, zu bereuen und nicht zu wissen, was, und sich aufzubäumen, und nicht zu wissen, gegen wen!

Jetzt rief mich der Assistent an. Was sollte mit dem Grafen geschehen? Ich komme, sagte ich und kam in den Pavillon, wo sein Zimmer lag, Wand an Wand mit Perikles. Ich trat auch bei meinem Freund ein. Er dämmerte vor sich hin, aß mit den Fingern, und sein Flaus war nicht der sauberste, weder vorne, noch, mit Verlaub, rückwärts. Früher hatte man ihnen die Krankenkleidung jeden Tag gewechselt, jetzt sparte man mit allem, denn das Geld war kein rechtes Geld mehr. Ich zahlte jeden Monat für den armen Teufel das Kostgeld. Er war meine Gaby. Er dankte mir nicht, denn es hätte ein Gott vom Himmel steigen müssen, um ihm das Licht der Vernunft derart wiederzugeben, daß er unterschied, wer ihm wohlwollte und wer nicht. Aber ich, hatte denn ich dieses Licht der Vernunft? Hatte ich denn gewußt, wer mir wohlwollte, wen man lieben durfte mit ganzem Herzen und ganzer Seele? Eine Eveline, die in mir den ›Mephisto‹ sah, meinen Vater, der nicht ›unter Feinden leben‹ wollte? Meine Frau, die mir so schöne, kluge, ehrliche Briefe schrieb?!

›Ich danke Ihnen‹, sagte ich zu dem Assistenten, ›daß Sie mich haben holen lassen. Wacker! Wacker!‹ Der Arme gaffte mich an. Ich sagte weiter nichts. Er hatte mich immerhin auf meine Pflichten aufmerksam gemacht, ohne es zu wissen, auf die Rechenschaft, die ich diesem schnaufenden, schmatzenden, etwas stinkenden – aber lebenden! – Kadaver schuldig war. Denn wenn ich abging, war es aus mit seinem Kostgeld. Und in der Landesirrenanstalt gab es nicht so leckere Küche, wie sie dem Mann hier sichtlich behagte, denn die Direktorin sparte an allem, das Essen aber ausgenommen. – Auch das Leben mit anderen, gelegentlich tobenden und prügelnden Leidensgenossen im beengten Raum war nicht immer erfreulich. Es sollten sogar plötzliche Todesfälle dort vorkommen, von denen kein Protokoll berichtete. Nimm ihn mit! sagte ich zu mir. Auch er wird niemandem fehlen. Aber wie? Da durchzuckte mich eine gute Idee. ›Legen Sie den Grafen hierher. Stellen Sie das eine Bett neben das andere Bett, und man wird morgen weitersehen. So sind die beiden leichter zu überwachen.‹ Der Assistent war einverstanden und noch mehr die Wärter. Man transportierte den hoch fiebernden, dauernd mächtig hustenden und seine Lunge stückeweis auswerfenden Grafen an die Seite meines alten Genossen Perikles, und ich zweifelte keinen Augenblick, daß der paralytische Philosoph noch im Lauf der Nacht von der großartigen Grippe des Aristokraten angesteckt würde. Er hatte also eine gute Aussicht, bald nach mir das Zeitliche zu segnen. Auch Imperatoren müssen sterben. Welcher Andrang im Paradies: Eveline. Ich. Perikles. Der Graf! Wenn es in verzweifelten Seelenzermalmungen einen Trost, eine Freude gibt: dieser Schlag gegen das stupide Schicksal tat meinem Herzen wohl, und in meinem Zimmer vermochte ich endlich zu weinen.


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